Dienstag, 31. Dezember 2019

RIJNSBURG: LANDKARTEN GEGEN MELANCHOLIE?

"beim letzten besuch hatte er (philip verheyen) mir landkarten gezeigt und erzählt, nichts heile die melancholie so gut wie das betrachten von landkarten. ich verordnete ihm fettes essen zur stärkung und ruhe." olga tokarczuk, unrast, s. 238

Sonntag, 29. Dezember 2019

MÜNCHEN: DIONYSOS STADT

reihe 2, sitz 2, es kann losgehen. 10 stunden antike an den münchner kammerspielen: christopher rüpings marathon-inszenierung "dionysos stadt", viel poesie, viel politik. und jetzt also 10 stunden auf 20 zeilen? 1. stunde: die raucherinnen im publikum freuen sich, dass ihnen der prolog eine raucherecke auf der bühne anbietet. 2. stunde: zeus spricht arabisch und englisch, "zurückzublicken ist der weg vorauszusehen", belehrt ihn prometheus, schafe blöken dazu. 3. stunde: die schlacht um troja beginnt. wie zeigt man krieg im theater? mit textfetzen von homer und euripides und einem schlagzeugsolo, brutal und wild. 4. stunde: 10 jahre dauert dieser krieg - zorn, feuer, lärm, chaos, der ultimative videoeinsatz. 5. stunde: auf den trümmerhaufen die frauen und ihre endlosen fragen nach dem endlosen krieg, "nicht weinen", sagt eine immer wieder. 6. stunde: grosse pause, kleine gespräche. keine götter, kein gott, nicht die natur und nicht der zufall, sondern wir. wir sind verantwortlich für unser handeln (seit prometheus). 7. stunde: agamemnon kehrt zurück, verfall einer familie, "die orestie" als netflix-serie, perfekte parodie. 8. stunde: "i just eat my children and my brother is the cook." anschliessend lädt apollo zur versöhnung und zur recht-statt-rache-party. 9. stunde: die bühne jetzt ein fussballfeld, die spannung löst sich im satyrspiel, kicken können sie auch. 10. stunde: zum ende der kickerei gibt's "die schwarze karte der melancholie" (jean-philippe toussaints text über zidanes kopfstoss), einen prachtvoll kitschigen sonnenaufgang und eine standing ovation, tosend. glückliche gesichter auf der bühne und im saal. einzig ute in der reihe hinter mir, der der prolog 50 euro versprochen hatte, wenn sie bis zum schluss durchhält, ist nicht mehr da.

Montag, 16. Dezember 2019

LUZERN: SALOME MAL ZWEI

zehn tage lang hat sie gekämpft, heather engebretson. und verloren! ein virus hat die stimme der chinesisch-amerikanischen sopranistin, die das luzerner theater als ereignis der saison ankündigte, lahmgelegt. theaterpech. die première von richard strauss‘ „salome“ findet trotzdem statt. mit zwei salomes. die kurzfristig aus wien eingeflogene sera gösch singt die rolle auf der seitenbühne, mit dramatischem, oft allerdings flackerndem sopran. und engebretson, die sängerin, die nicht singen kann und darf, spielt dazu, bewegt stumm die lippen – und zeichnet trotz dieser einschränkung ein faszinierendes porträt dieser zwischen reife und verwahrlosung schlingernden kindfrau. wie sie vor ihrer machthungrigen mutter und ihrem dauergeilen stiefvater den schleiertanz aufführt, pubertär, erotisch, wild, wie sie dann den kopf des propheten jochanaan (jason cox, das zweite highlight des abends) rauschhaft begehrt und liebkost und schliesslich seine toten lippen küsst, das berührt und beunruhigt: ein monster? wo bleibt die therapeutin? oder gehören die eltern dieser dysfunktionalen familie da hin? herbert fritsch verweigert mit seiner inszenierung eine klare deutung, er liefert bilder, die jede und jeder selber weiterdenken muss. im gegensatz zur musik, die schwül schillert und vibriert, was clemens heil mit dem luzerner sinfonieorchester ganz wunderbar hinkriegt, geraten ihm diese bilder einer dekadenten und perversen gesellschaft oft übertrieben klischeehaft, überzeichnet, überdreht. dies immerhin in einem höchst eleganten rahmen, der die reize des plakativen voll ausschöpft: die bühne eine tiefblaue spiegelfläche, darauf zwei kitschige goldthrone wie von jeff koons, über allem ein riesiger mond, zunächst fahl, später rosa, am ende blutrot. liebe und tod, nahe beisammen. 

Mittwoch, 4. Dezember 2019

MÜNCHEN: HOCHDEUTSCHLAND

knietief und flächendeckend liegt schaum in der kammer 2 der münchner kammerspiele. wie figuren überm nebelmeer waten zeynep bozbay, jannik mioducki, abdoul kader traoré und julia windischbauer durch dieses luftige nichts, tauchen ab und zu ab darin und wieder auf, versuchen den schaum festzuhalten und zu formen. schaum, traum – das bild, das der junge regisseur kevin barz für die umsetzung des romans „hochdeutschland“ von alexander schimmelbusch gefunden hat, ist naheliegend und hübsch. die vier watenden sind alle victor. victor ist ein erfolgreicher investmentbanker, der mit und trotz seinen millionen nicht glücklich wird. ein profiteur, den die vielen verlierer rundherum beunruhigen: „der grossteil der bevölkerung ist zu lebenslänglich im niedriglohnsektor verdammt.“ er denkt nach. er trinkt rotwein für 2000 euro die flasche und denkt viel nach. die vier deklamieren den fluss seiner gedanken. die politiker sind nichts wert, die protestierenden eine verschwindende, erfolglose minderheit, es braucht also ihn, victor. er schreibt (und schreit) mitten in diesen schaumgebirgen ein manifest über das ende der privilegien, für eine gerechte umverteilung, für chancengleichheit. er will die mittelklasse stärken, den wohlstand mehren, deutschland besser machen als andere länder. und schon landet auch victor im plumpen populismus, vermischt ganz und gar schamlos sozialismus und nationalismus. schimmelbuschs roman ist eine kurze reise von der utopie zur dystopie, eine abschreckung für kurzentschlossene weltverbesserer. am ende ist victor tot, erledigt von jenen, die es noch besser zu können meinen. der schaum auf der bühne fällt in sich zusammen und wird weggespült.

Montag, 2. Dezember 2019

HORW: VERQUER

ins leben gerufen wurde der jugend-jodelchor jutz.ch mit mitgliedern von appenzell bis genf fürs europäische jugendchor-festival 2016 in basel. dass es ihn immer noch gibt, ist a) nicht selbstverständlich und b) höchst erfreulich. wie sich diese flotte bande, deren lebensmittelpunkt eben nicht in abgelegenen bergtälern liegt, lustvoll ins trachten- und sennenoutfit stürzt, um sich dann unter der leitung von simone felber und benjamin rapp dem naturjodel zu widmen, leidenschaftlich und auf höchstem niveau, wie sie völlig kitsch- und ironiefrei „vom briefli as müetti“ und vom „rissli dörs härz“ singen, das beeindruckt und berührt. traditionelle weisen, junge stimmen – diesem kontrast kann man sich nicht entziehen. für sein programm „verquer“, das  jetzt auch in horw zu hören war, hat sich jutz.ch mit dem lukas gernet quartett zusammengetan. zu beginn in getrennten sets, mal jodel, mal jazz, nähern sich die beiden klangwelten in der zweiten hälfte mehr und mehr, inspirieren sich gegenseitig, vermischen sich, fordern sich heraus, zur sichtlichen freude der beteiligten und des publikums. das ganze gipfelt in den „alpine sketches“, einer von lukas gernet komponierten suite für chor und band, die tänze, melancholische weisen und andere klänge aus den bergen aufnimmt, neu bündelt, neu interpretiert und – kino im kopf – zu einem faszinierend vielschichtigen panorama der stimmungen und befindlichkeiten in den bergwelten der gegenwart entwickelt. vielleicht ist das volksmusik 2.0, vielleicht auch bereits 4.0, und gerade wegen dieser sehr jugendlichen besetzung von grosser verführungskraft. fast geht einem da es rissli dörs härz.

Samstag, 30. November 2019

EMMENBRÜCKE: 745, AUFFÄLLIG UNAUFFÄLLIG

was ist auffällig? und was ist nicht auffällig? völlig ungeplant tauchen diese fragen rund um die subjektive wahrnehmung auf bei der eröffnungsfeier der hochschule luzern / design und kunst in emmenbrücke. die direktorin der schule, gabriela christen, führt ein sofagespräch mit dem architekten des neubaus, harry gugger. christen freut sich sichtlich an dem „auffälligen gebäude“, gugger reagiert völlig überrumpelt: „auffällig? das ist jetzt fast eine beleidigung.“ gugger, ursprünglich werkzeugmechaniker, dann als architekt lange bei herzog & de meuron, schliesslich professor an der epfl in lausanne, wollte mit dem bau 745 in der viscosistadt eine visuelle sprache finden, die dem ort, diesem einstigen industriegelände von der grösse der luzerner altstadt, entspricht, seine architektonischen formen aufnimmt und sie weiterentwickelt, ohne sie zu verraten, gebäudehohe lisenen zum beispiel. das ist ihm toll gelungen: auffällig unauffällig! unbestritten auffällig sind die schulräume für die rund 800 studierenden im innern, fast fabrikhallen mit grossen fenstern, alles hoch, alles hell, eine absolut inspirierende werkstattatmosphäre durch und durch. sämtliche studiengänge der „kunsti“ sind jetzt an diesem einen ort vereint. man möchte hier studieren, inmitten dieser jungen leute und dieser jungen ideen, hier ist ein mekka für innovationstreiber am entstehen. „ideation space“ steht auf der türe 077, „nähen, bügeln“ bei 278a – das spektrum ist breit, auffällig breit.

Donnerstag, 21. November 2019

ROLLE: CALLAS - THE HOLOGRAM TOUR

1977 starb maria callas. und jetzt steht die primadonna assoluta des vergangenen jahrhunderts wieder leibhaftig vor uns und singt. auf dem podium der rosey concert hall in rolle am genfersee. begleitet vom orchestre de chambre de genève unter der leitung der irischen dirigentin eimear noone. callas live, back on stage – wie das? die technik macht’s möglich. auf den mehr als 50 jahre alten plattenaufnahmen konnte ihre stimme separiert und das orchester so weggefiltert werden, dass jetzt live-orchesterbegleitung dazu drappiert werden kann, höchstklassige begleitung der genfer notabene. und, das ist das wirklich sensationelle, dank modernster hologramm-technik bewegt sich die wiedererweckte sängerin neben der lebendigen dirigentin auf der bühne, dreidimensional, in einem eleganten, weit fallenden weissen seidenkleid, mit einem feuerroten schal, blitzende augen, charmante gesten. kein zweifel, das ist die callas, ihre stimme, ihre aura, die diva im strahlenden scheinwerferlicht, realistischer geht’s nicht. eineinhalb stunden singt sie ihre legendären arien, carmen, lady macbeth, la gioconda, la wally. wüsste man es nicht besser, man hätte eineinhalb stunden keinen zweifel an der authentizität dieses auftritts. als sie am schluss die grosse casta-diva-arie der druidenpriesterin norma anstimmt, mit ihrem abgrundtief dunklen timbre, mit ihrer nie wieder erreichten ausdrucksintensität, da bleibt dann – im vollen bewusstsein um die rundum künstlich-reproduzierte situation – definitiv nur noch gänsehaut. absolut echte gänsehaut. alles andere nur eine spielerei, gewiss, aber eine in ihrer perfektion verblüffende. und wir brauchen spiele, gerade in diesen dunklen zeiten.

Montag, 18. November 2019

MÜNCHEN: KÖNIG LEAR

zwei riesige cyber-monster stehen zur linken und zur rechten des bühnenportals. „heute wird´s heftig“, sagt die ältere dame hinter mir zu ihrer nachbarin – und freut sich. in der tat: aus shakespeares düsterem märchen vom „könig lear“, der sein reich verteilen und von seinen drei töchtern deshalb wissen will, welche ihn denn am meisten liebt, machen die münchner kammerspiele eine brutale endzeit-phantasie, für die thomas melle das original kraftvoll-frisch neu übersetzt und klug weitergedacht hat. ein hammertext, der umso heftiger wirkt, weil regisseur stefan pucher ihn in einer vordergründig bunten szenerie vor rosa wolken spielen lässt und in kostümen, die jeden dolce-gabbana-kitsch locker übertreffen. „the end“ hängt in knalliger leuchtschrift über allem, nicht erst am ende, sondern die ganzen zweieinhalb stunden, das ende lauert überall. das ensemble (ja, sie sind höchst verdient zum „theater des jahres“ geworden) ist einmal mehr schlicht umwerfend in diesem temporeichen kampf der generationen und geschlechter, diesem marathon gegenseitiger herabwürdigungen, der zu einer radikalen umkehrung der machtverhältnisse führen soll, einem wechsel „von der warte der schwachen aus regiert“. das resultat: jeder gegen jeden, spaltung total – und viel blut. „wer ist das, die schwachen?“ fragt lear, bevor er begleitet von bowies major tom über die legendäre heide in den wahnsinn wankt. thomas schmauser at his finest. der alte weisse mann dankt ab, oder besser: zuckt weg. umkehrung der machtverhältnisse, ja. hoffnungsfrohe perspektiven, nein. es ist das alte spiel mit neuem personal. möchten wir da wirklich komplizinnen sein?

Sonntag, 17. November 2019

MÜNCHEN: TOSCA

alles schwarz, die wände, die groben balken auf der bühne, die luxuriösen messgewänder beim te deum, die uniformen der spitzel, der tisch im palazzo, alles schwarz. in diesem nachtschattenreich siedelt stefano poda, der regisseur, bühnenbildner und lichtdesigner in einem ist, im staatstheater am gärtnerplatz den brutalsten krimi der operngeschichte an, die „tosca“ von giacomo puccini. weiss sind einzig die lilien, die tosca im ersten akt in die kirche trägt, und weiss ist der kleine hirtenjunge, der im dritten akt am tiber-ufer eine traurige weise anstimmt: nur sehr wenig ist hier übrig von der unschuld der welt. wie geister bewegen sich die figuren durch die von gegenlicht und zwielicht geworfenen schatten, gesteuert und choreografiert durch die sadistischen gelüste des macht- und sexbesessenen polizeichefs scarpia, der die sängerin tosca vergewaltigen will und ihre grosse liebe, den maler cavaradossi, aus politischen gründen hinrichten lässt. der bariton noel bouley lässt das niederträchtige und demütigende dieses scarpia mit jedem ton und jeder geste wie gift in diese schwarze welt tropfen. oksana sekerina als tosca verzehrt sich vor leidenschaft und eifersucht, singt manchmal liegend, krümmt sich vor schmerz, triumphiert bei ihrem tödlichen messerstich für scarpia, ein grandioses rollenporträt von höchster dramatik und tiefster verzweiflung, beklemmende bilder. artem golubev als cavaradossi schliesslich zeichnet ein differenziertes bild eines zu unrecht gequälten und gefolterten, auch stimmlich brillant, obwohl sein heller tenor im orchester-fortissimo gelegentlich unterzugehen droht. chefdirigent anthony bramall arbeitet die rasanten stimmungswechsel mit maximaler hingabe und schärfe heraus und macht bewusst, wie sehr „tosca“ der definitive abschied vom belcanto und die mutter aller krimi-soundtracks ist. mit diesem schattenstück spielt sich das gärtnerplatztheater aus dem schatten der bayerischen staatsoper.

Donnerstag, 7. November 2019

WIEN: MIT TOKARCZUK IM NARRENTURM

vor drei wochen wollten wir in wien ins pathologisch-anatomische bundesmuseum, vulgo narrenturm. empfehlung von freunden. klappte nicht, pech gehabt, geschlossen, falscher wochentag. nun allerdings werde ich von literaturnobelpreisträgerin olga tokarczuk aufs trefflichste entschädigt. in ihrem roman „unrast“, der eigentlich kein roman ist, sondern ein ausuferndes, überschäumendes reisetagebuch, nimmt sie mich bereits auf den ersten seiten mit – in eben jenen narrenturm. geleitet von ihrem „perseverativen detoxifikationssyndrom“ (toll, nicht?) fühlt sie sich angezogen von allem, was unvollkommen oder defekt ist. „mich interessiert das unansehnliche, irrtümer der schöpfung, sackgassen. (…) ich bin der unbeirrbaren und irritierenden überzeugung, dass genau darin das wahre sein zum vorschein kommt und seine natur offenbart. (…) deshalb unternehme ich meine geduldigen reisen, auf denen ich die fehler und reinfälle der schöpfung aufspüre.“ also narrenturm. und da sieht und beschreibt sie liebevoll dinge und details, die sich mir wohl kaum auf anhieb erschlossen hätten. einer verborgenen ordnung auf der spur? doch dieses buch ist nicht einfach ein pathologisch-philosophischer blick auf die gegenwart und ihre vergangenheit, es ist vor allem eine einladung, immer wieder aufzubrechen und immer wieder abzuschweifen zu anderen geschichten, anderen menschen, anderen zeiten und perspektiven. tokarczuks sprachwucht und -eleganz hat nur einen erheblichen nachteil: nie wieder, denkt man angesichts dieser meisterschaft, nie wieder werde ich kümmerling auch nur eine einzige zeile schreiben mögen.
ach ja, und übrigens: #readmorewomen

Mittwoch, 6. November 2019

ZÜRICH: GEBROCHENES LICHT

silvesterparty in damaskus. ein mädchen und ein junge wetten, wann die nächste bombe einschlagen wird. wenn er richtig tippt, will er sie küssen dürfen. die bombe schlägt ein. und dann noch eine. der alltag in einer kriegsversehrten welt beschäftigt die in zürich lebende syrische autorin lubna abou kheir, die arabisch denkt und deutsch schreibt. es sind episoden wie der silvesterkuss, die sie in ihrem stück „gebrochenes licht“, das jetzt am theater neumarkt in zürich uraufgeführt wurde, aneinanderreiht. geschichten einer jungen frau aus dem nahen osten, die in zürich gelandet ist, ihrer mutter, die über istanbul nicht hinauskommt, geschichten eines taxifahrers aus damakus, der mehr sein will als schlepper, und eines unfreiwilligen rekruten, der in der syrischen wüste verzweifelt eine telefonverbindung sucht. regisseurin ivna žic (als autorin von „die nachkommende“ jetzt für den schweizer buchpreis nominiert) verteilt die vier figuren im langen neumarkt-saal, verloren zwischen grossen steinen und einem leeren boot. wie der text spielt auch diese einfache bühne mit unseren assoziationen. hier sprechen menschen miteinander, die in verschiedenen ländern leben, auf verschiedenen kontinenten, übers vergessen-wollen, über hoffnung, über echte und luxuriöse probleme in einem land, wo niemand auf jemanden wartet. oft ist es mehr deklamation als dialog. so künstlich diese situation ist, alle in einem raum, so eindringlich führt sie das vakuum vor augen, das die kommunikation im globalen dorf hinterlassen kann. matija schellander hat dazu einen vibrierenden sound komponiert, der das im titel angetönte thema ebenfalls aufnimmt: das zersplittern des lichts in verschiedene farben. sind es orientalische tänze? sind es kriegsgeräusche? traumsequenzen? es ist, wie der ganze abend, ein kraftvoller regenbogen zwischen leben und tod.


Samstag, 26. Oktober 2019

ZÜRICH: FRÜCHTE DES ZORNS

bei der caritas des kantons zürich landen pro monat 44 tonnen aus kleidersammlungen. aus weggeworfenen markenklamotten hat lene schwind kostüme für „früchte des zorns“ am schauspielhaus zürich zusammengestellt: ein blick auf die armut, unser blick auf die armut. john steinbecks sozialsaga von 1939 erzählt die geschichte der farmerfamilie joad, die wegen der dürre in oklahoma ohne existenzgrundlage ist und sich aufmacht ins gelobte land, nach kalifornien, wo die orangen blühen. christopher rüping, von „theater heute“ im sommer als regisseur des jahres geadelt und neu hausregisseur in zürich, transponiert diese geschichte zu einer hochkonzentrierten sprachsinfonie, mehrstimmig, mehrteilig, viele redundanzen, viele tonartwechsel, dicht und in sich geschlossen. mutter, tochter und sohn der familie joad, alle in dunklen kleidern, sprechen und wiederholen auf der leeren bühne originalpassagen aus dem steinbeck-epos, in einem konsequent künstlichen duktus, ausgestellte figuren in ihrer not und verzweiflung. den zunehmend hilflosen vater hat rüping schon mal gestrichen. es ist maja beckmann als mutter, die die fäden und die familie zusammenzuhalten versucht, eine starke, harte frau, die auch in dunkelsten momenten nie ihre würde verliert. farbe und abwechslung und gelegentlich auch unnötigen klamauk bringt eine markenklamotten-gang ins spiel, die die geschichte auf die spitze und ins heute treibt; da wird ein bühnenhoher orangenbaum aufgeblasen, eine radioshow persifliert, california-dreaming-pop gedudelt. nach der ankunft in kalifornien, wo dann nicht das bunte paradies wartet, sondern eine neue hölle, lässt die regie aus dem off fremdenfeindliche social-media-kommentare über die familie joad prasseln. verloren stehen die drei da, stumm, glauben ihren ohren nicht zu trauen. so einsam können menschen sein, auch wenn sie ihr schicksal mit vielen anderen teilen. die entwurzelung, der heimatverlust, das nicht-willkommen-sein verdichten sich zu einer sinfonie der trostlosigkeit. 

Montag, 21. Oktober 2019

WIEN: DIE EDDA

die riesige bühne des wiener burgtheaters ist verschneit und vernebelt. eine warme frauenstimme füllt den kalten raum, elma stefania agustsdottir rezitiert auf isländisch den beginn des edda-mythos, die weissagung der seherin über das ende der welt. dorothee hartinger spricht die deutsche übersetzung, die beiden stimmen vermischen sich, man versteht nur fetzen – und immer wieder die frage: „wisst ihr, was das bedeutet?“ ein unspektakulärer start in einen spektakulären abend. denn „die edda“ bedeutet alles. alles, was für die menschheit wichtig ist. und regisseur thorleifur örn arnarsson und autor mikael torfason zeigen auch (fast) alles: in der verschneiten landschaft entsteht ein jahrmarkt voller götter- und heldengeschichten, mit nornen und stofftieren und einem pianisten, alles bruchstückhaft, nichts linear, eine reizvolle herausforderung für uns linear denkenden menschen. dietmar könig als witziger erklärbär hilft uns immer wieder auf die sprünge. anhand der alten sagen verhandelt das fulminante ensemble die grossen fragen: wo ist mein platz in dieser welt? was hat das mit mir zu tun, wenn die einen verzweifelt einen hammer suchen (krieg!) und die anderen ein goldenes haar (wohlstand!) und wieder andere eine mauer bauen, um riesen abzuhalten? über allem hängt die weltesche yggdrasil inmitten von 156 schwebenden neonröhren, ein zauberhaftes bild. dieser abend ist poetisch, politisch, philosophisch. den roten faden im zweiten teil bildet die geschichte von co-autor torfason und seinem vater, der als zeuge jehovas den weltuntergang erwartete: eine geschichte über verletzte und verheilte gefühle, eine geschichte voller empathie, die das grosse ganze und das individuelle verwebt. sie wird immer wieder unterbrochen, durch rasende musik, durch tanzende menschen, durch abstecher ins 13. jahrhundert. chaotisch wie die welt. faszinierend wie die welt.

Sonntag, 20. Oktober 2019

WIEN: DIE FRAU OHNE SCHATTEN

zwei paare (eine kaiserin und ein kaiser, eine färberin und ein färber), viele krisen, viele prüfungen, auch über kreuz – hugo von hofmannsthal und richard strauss haben mit ihrer oper „die frau ohne schatten“ ein höchst komplexes märchen geschaffen. gazellen und geisterwesen kommen da vor und ungeborene kinder singen klagend aus der bratpfanne, jawohl. mit all ihren träumen und blockaden, neurosen und projektionen und krisen der fruchtbarkeit aufgrund von vor- und innerehelichen gewalterfahrungen ist diese oper gerade in der stadt von dr. sigmund freud natürlich ein steilpass für einen regisseur. doch vincent huguet beweist mit seiner inszenierung an der wiener staatsoper wenig sinn für symptome und symbole, er arrangiert zwischen zerklüfteten felsen konventionelle szenen, lässt die stars in wallenden gewändern mit armen rudern und mit händen flehen, willkommen im opernmuseum! „immerhin stört die inszenierung die musik nicht“, meint der sitznachbar meines vertrauens. kann man so sehen. tatsächlich ist die musik das ereignis des abends, ein ereignis auf weltklasse-niveau. in viereinhalb stunden zeigt christian thielemann mit dem orchester der staatsoper in einem phänomenalen spannungsbogen, der nie abfällt, den grandiosen reichtum von richard strauss‘ klangkosmos, das entrückte, das geheimnisvolle, das albtraumhafte, das brutale dieser gefühlswelt. im orchestergraben nimmt das unterbewusstsein all dieser figuren gestalt an, das zum edlen ende führt, wonach sich glück nicht um den preis des unglücks anderer erkaufen lässt. mit camilla nylund und andreas schager als kaiserpaar, nina stemme und tomasz konieczny als färberpaar sind die hauptrollen besetzt, wie man es sich besser nicht wünschen kann: stimmen, die in allen farben funkeln, stimmen von durchschlagender dramatischer kraft.

Donnerstag, 10. Oktober 2019

MÜNCHEN: HORVÁTH UND DIE HEIMAT

ein theaterautor stirbt einen theaterreifen tod: als gast in paris wird er auf den champs-élysées von einem herabstürzenden ast erschlagen. weil er trotz heftigem gewitter kein taxi nehmen wollte. weil ihm dies zu gefährlich schien. der abgang von ödön von horváth 1938 ist spektakulär und bekannt. das deutsche theatermuseum in münchen zeigt jetzt, was diesem abgang vorausging, wie und wo horváth lebte, was ihn inspirierte, dies in einer wunderbar kurzweiligen ausstellung, die selbst eine art inszenierung ist. im ersten raum betritt man den wirtshaussaal nach der saalschlacht zwischen unterschiedlichen politischen gruppierungen (aus „italienische nacht“), weiter oben oktoberfest-stimmung („kasimir und karoline“) und schliesslich auch noch oskars gediegene fleischhauerei („geschichten aus dem wiener wald“), darin überall dutzende von aufschlussreichen dokumenten drappiert. horváth war nicht nur relativ rastlos zwischen wien, berlin und münchen unterwegs, sondern verbrachte, was weniger bekannt ist, auch ruhigere momente in murnau in oberbayern, das ja auch die blauen reiter um wassily kandinsky magisch anzog. hier beobachtete er die kleinbürger und studierte ihre sprache, hier schaute er sich die trivialstücke der bauerntheater an, hier wurde der boden gelegt für sein zeitgenössisches, stilprägendes volkstheater, für seine rattenscharfen analysen der gesellschaft und der zeitläufe. er fühlte sich zuhause in murnau und stellte 1927 einen antrag auf einbürgerung, der an seinem ungeregelten einkommen scheiterte. „heimat? kenn ich nicht“, schrieb er zwei jahre später in einem aufsatz.

Dienstag, 8. Oktober 2019

LUZERN: GEWÖHNT EUCH AN LEICHENSÄCKE

es kann kein zufall sein. drei theateraufführungen, in drei wochen, in drei ländern, und immer liegt ein leichensack auf der bühne. bei "how to get rid of a body" in münchen performt sich der tänzer léonard engel in einen leichensack (weiss) und wieder raus, beim "besuch der alten dame" in luzern liegt der leichensack (weiss) mit dem ermordeten alfred ill schon zur begrüssung vor dem publikum, bei "guillaume tell" in lyon wird der alte melchtal, brutal geblendet und erstochen, im leichensack (schwarz) von der bühne geschleppt. dann lese ich heute die kritik zu "geschichten aus dem wiener wald" am momentan sehr angesagten schauspielhaus bochum, und natürlich: "am anfang muss sie wie alle figuren (...) aus einem leichensack herausgeschält werden." der leichensack ist das requisit der stunde. wie zuvor, nicht für stunden, sondern für gefühlte 15 jahre, der monoblockstapelstuhl altea. ob euripides oder shakespeare oder sarah kane, ob castorf regie führte oder viebrock das bühnenbild entwarf - immer wurde so ein weisses unding, das wir zuvor nur aus nachbars wintergarten kannten, zuerst aggressiv herumgeschleudert und dann irgendwann publikumswirksam zerfetzt. immer! altea kostet fr. 5.35 bei lipo, für die theater war das eine budgetschonende investition. der hässliche plastiksessel ist endlich out, jetzt erobert der leichensack die bühnen, auch günstig, gibt's schon ab fr. 14.30. da müssen wir leidenschaftlichen theatergänger und -innen jetzt durch. leichensäcke werden unsere theaterabende pflastern. wetten? für monate? für jahre? und irgendwann in fernen tagen wird auch dieses requisit im leichensack der theatergeschichte entsorgt, ausser jener für rigolettos tochter gilda, der war bei verdi 1851 tatsächlich fester bestandteil der story, zu himmlischer musik.

Sonntag, 6. Oktober 2019

LYON: GUILLAUME TELL

die eigernordwand, so hoch wie die bühne und teilweise im nebel, davor ein grosses weisses podest - voilà, la suisse. auf dem podest tanzt ein junges paar zur hirtenidylle in rossinis ouverture einen eleganten pas de deux, eine cellistin begleitet die beiden. da taucht plötzlich ein droog aus "clockwork orange" auf, stört die tänzer, bedroht sie dann immer direkter und hackt schliesslich das cello mit dem baseballschläger zu kleinholz. angst, gewalt, entsetzen - darum geht es tobias kratzer in seiner inszenierung von "guillaume tell" an der opéra national in lyon. schwarze farbe rinnt über die eigernordwand, das volk ist irritiert und verunsichert, noch so ein zeichen. die andere geschichte, die er uns erzählen will, ist jene von der revolutionären kraft der musik (rossinis tell war eine der ersten risorgimento-opern): zum rütlischwur kommen streicher (unterwalden), holzbläser (schwyz) und blechbläser (uri) auf die bühne, instrumente statt mistgabeln und waffen, ein eindrückliches, ein utopisches bild. schade, dass dirigent daniele rustioni da nicht mithalten kann. zwischentöne sind seine sache nicht, er dirigiert routiniert-plakativ und (zu) oft galoppiert ihm der verzwickte rossini irgendwo zwischen orchestergraben und bühne davon. das schmälert nicht die leistung des hochkarätigen sängerensembles: vor allem nicola alaimo (tell), john osborn (arnold) und jane archibald (mathilde) zeichnen figuren von tiefer zerrissenheit, von tiefer menschlichkeit und formen aus dem gründungsmythos der schweiz eine zeitlose politische parabel. jemmy (walterli) verkriecht sich beim finalen freiheitsrausch unter den tisch, traumatisiert, er hat zu viel erlebt, er traut der sache nicht. begeisterter applaus für diese stringente lesart.

Dienstag, 1. Oktober 2019

ASCONA: DIE BRÜSTE DER WAHRHEIT

intensiv duften die feigenbäume und der jasmin, in der ferne ertönt fein der monotone gesang der kirchenglocken, zuerst von ascona her, dann von losone. idylle am sonntagmorgen. und dann, zwischen zengarten und teepavillon, rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrmm rrrrrrrrrrrrmm, ein laubbläser. hier, in diesem stillen, verwunschenen park. ein laubbläser. das ist die stunde der wahrheit auf dem monte verità. doch die ganzen magnetischen anomalien, die strahlungen der ultrabasischen gesteine, die in dieser zone vorherrschen und die anziehungskraft dieses ortes wesentlich ausmachen („diorite, gabbros, peridotite, amphibolite“ – im guide eindruckheischend aufgelistet), sie alle kommen dem laubbläser nicht bei. ein spezieller ort. und jetzt die gelegenheit, endlich harald szeemanns legendäre ausstellung „le mammelle della verità“ (die brüste der wahrheit) zu besichtigen, die 1978 hier startete, dann in halb europa zu sehen war und seit zwei jahren, restauriert, wieder zugänglich ist. in der casa anatta lässt eine geradezu berauschende fülle von exponaten die geschichte des monte verità ab 1900 lebendig werden: wie sich zunächst die vegetarierinnen und nudisten hier tummelten, dann immer mehr künstlerinnen, anarchisten, intellektuelle (aus platzgründen hier kein namedropping). man taucht ein und glaubt zu spüren, wie die magische atmosphäre sie alle in aufbruchstimmung versetzte und zu alternativen lebensentwürfen inspirierte. ein ort als droge, ein faszinierender hügel der utopien. 600 personen mit 600 verschiedenen paradiesvorstellungen machte szeemann aus. wo trifft sich die europäische intelligenz eigentlich heute?

Samstag, 28. September 2019

LUZERN: DER BESUCH DER ALTEN DAME

der leichensack mit dem toten alfred ill liegt gleich am anfang schon vor uns. claire zachanassian, der dürrenmattsche racheengel, hat ihr ziel erreicht. sie lässt das ergebnis noch filmisch dokumentieren, und dann weg mit ihm. "der besuch der alten dame" beginnt am luzerner theater mit seinem ende: güllen bekommt seine milliarde, die alte ihren toten peiniger. das griechische regie-duo angeliki papoulia und christos passalis hat in der vergangenen saison mit einer wunderbar geheimnisvollen und bildstarken "alkestis" sein flair für schwere stoffe, für menschliche abgründe bewiesen. na dann lassen wir die zwei doch aus der güllen-komödie eine griechische tragödie basteln, mag man sich im theater gesagt haben. das war keine gute idee. die griechen erzählen die geschichte retour, inspiriert vom film noir, rückblende auf rückblende, was dem spannungsbogen nur abträglich ist, vieles gerät lähmend langatmig. güllen ist hier eine art treib- und triebhaus, hinter plastikfolien wird intrigiert, hinter plastikfolien wird gemetzelt, hinter plastikfolien wird das intrigieren und das metzeln gefilmt - und ja, zwischendurch verirren sich auch mal ein paar nach vorne auf die bühne, wo sie dann viel in megaphone brüllen, lärm, chaos. die verführbarkeit der masse bleibt so reine behauptung, nachvollziehbar ist sie nicht. flach auch die hauptfiguren: tatort-kommissarin delia mayer geht als zachanassian jede durchtriebenheit und kälte ab, christian baus als bürgermeister kommt über klischees kaum hinaus. da wird zum glück noch der echte luzerner stadtpräsident eingeblendet, der über den zunehmenden gemeinschaftshemmenden individualismus sinnieren darf. auch kein hammer, aber wenigstens authentisch.

Montag, 23. September 2019

MÜNCHEN: HOW TO GET RID OF A BODY

cool sieht er aus. a touch of spiderman. léonard engel hat sich ein ganzkörpertrikot mit zebramuster übergezogen. jetzt wälzt sich der choreograf und performer, der früher acht jahre im bayerischen staatsballett tanzte, auf dem boden, streckt arme und beine von sich, zieht sich zusammen, verknotet sich und bewegt sich robbend auf eine ecke der bühne hin, wo ein teppich mit zebramuster liegt. zebra auf zebra: solange er sich nicht bewegt, wird der tänzer jetzt quasi unsichtbar, sobald er sich bewegt, setzen die irritationen beim zuschauer ein. wölbt sich jetzt der teppich? oder der tänzer drauf? ist er überhaupt noch da? strategien der täuschung und verfremdung sind léonard engels leidenschaft. „how to get rid of a body. a magic manual“ heisst der abend im theater hochx in der münchner au. engel versucht sich – das warum bleibt er uns schuldig – auch noch in einem leichensack zum verschwinden zu bringen und in einem wurzelgestrüpp. alles sehr experimentierfreudig und langsam und beschaulich, alles auch ein wenig selbstverliebt. fürs publikum ist diese sehschule mal amüsante, mal anstrengende herausforderung. anstrengend vor allem dann, wenn nicht nur die sehnerven gefordert sind, sondern der komponist korhan erel von der hinterbühne aus mit arg krassen live electronics auch noch die hörnerven attackiert. dann wird einem die erklärte botschaft des abends doppelt bewusst: man kann seinem eigenen körper nicht entkommen. er bleibt uns, hartnäckig, allen attacken und transformationen zum trotz.

Sonntag, 22. September 2019

MÜNCHEN: MY FAIR LADY

was leichtes, beschwingtes zum oktoberfest-auftakt. das war die idee. vorglühen mit musical-melodien. also ab ins staatstheater am gärtnerplatz, zu „my fair lady“. das musical von alan jay lerner und frederick loewe hat es in sich: „es grünt so grün, wenn spaniens blüten blüh’n“, „ich hätt‘ getanzt heut‘ nacht“, „mit ‚nem kleinen stückchen glück“ – das sind nicht einfach hits, das sind ziemlich geniale ohrwürmer. oleg ptashnikov dirigiert sie mit viel witz und charme und tempo. dass der sänger stefan bischoff alle englischen unterschicht-dialektpassagen zudem ins hardcore-bayrische übertragen hat, ist ein vergnügen für sich, a mordsgaudi. ziel also schon fast erreicht. die inszenierung von gärtnerplatz-intendant josef e. köpplinger allerdings hat etwas derart hausbackenes, dass man trotzdem nicht wirklich froh werden mag. mit viel schmissiger choreografie wird der mangel an neuen ideen nur dürftig verdeckt. der strassenmarkt vor der covent garden opera; das haus, wo professor higgins dem blumenmädchen eliza sprache und stil beizubringen versucht; die pferderennbahn in ascot – auch diese bühnenbilder von rainer sinell sehen genau so bieder-spiessig aus wie in inszenierungen von 1962 oder 1974 oder 1993. und was für die dekoration gilt, gilt leider auch für den humor: kübelweise verstaubte und plumpe pointen aus dem letzten jahrtausend, die zudem die grenzen zum frauenfeindlichen teilweise massiv überschreiten. herr köpplinger, über die bücher, wir haben 2019!

Mittwoch, 18. September 2019

NÜRNBERG: JOANA MALLWITZ PROBT DON CARLOS

durchs band euphorisch wird joana mallwitz von leuten beschrieben, die mit ihr zusammenarbeiten oder schon eines ihrer dirigate erlebt haben. superlative noch und noch. und bereits auch vergleiche mit karajan oder petrenko. dabei ist die generalmusikdirektorin am staatstheater nürnberg gerade mal 33 jahre alt. man darf also gespannt sein – und nutzt deshalb gerne die gelegenheit, im rahmen einer öffentlichen probe im opernhaus zu besichtigen, wie frau mallwitz arbeitet. was als erstes auffällt: sie fällt zunächst gar nicht auf, keine allüren, nix, die schlanke frau mit den kurzen blonden haaren und den langen armen könnte auch die violinistin aus der dritten reihe sein. was als zweites auffällt, wenn sie dann loslegt: ihr körpereinsatz, voller körpereinsatz, totaler körpereinsatz. sie dirigiert nicht nur mit den händen, den armen, den augen, sie ist dermassen in bewegung, tanzend, springend, dass das podest beinahe zu klein wird. auch dieser körpereinsatz ist weder allüre noch show, nein, joana mallwitz nimmt das orchester und die solisten auf diese weise mit, hinein in einen strudel, das ist kein musiktheoretischer ansatz, das ist ihre form von kommunikation, das ist physische aktion, das ist energie pur, die funken schlägt. wir sind bei verdi, „don carlos“, vierter akt, ein dunkler moment: zwei bässe sind auf der bühne, der einsame spanische könig philipp (nicolai karnolsky) und der eiskalte grossinquisitor (taras konoshchenko), der ihm rät, seinen sohn carlos aus dem weg zu räumen. was bei anderen dirigenten oft zu wohligem schaudern führt, gestaltet die mallwitz mit ihrer körpersprache zu einem ebenso düsteren wie explosiven polit-krimi. atemberaubend.

(einen tag nach diesem post wurde joana mallwitz in der kritikerumfrage des fachmagazins "opernwelt" zur DIRIGENTIN DES JAHRES gewählt)

Montag, 16. September 2019

MÜNCHEN: AIDA IM ÄGYPTISCHEN MUSEUM

am ende, nach ihrem liebestod im felsengrab, stehen aida und radamès je in einer vitrine, einbandagiert und konserviert für die ewigkeit. opera incognita zeigt giuseppe verdis „aida“ im staatlichen museum ägyptischer kunst in münchen. in der kühlen sichtbetonhalle, die sonst für wechselausstellungen verwendet wird, sind diese gläsernen schaukästen die einzigen bühnenelemente. auch verdi selbst wird mal in einer vitrine vorbeigerollt, oder eine altägyptische sitzgelegenheit, oder ein dolch aus dem italienischen risorgimento (der entstehungszeit der oper), oder die legendäre schaufel aus hans neuenfels´ skandal-inszenierung von „aida“ 1981 in frankfurt, die als grundstein moderner musiktheaterregie gilt. mit viel augenzwinkern also verfolgt regisseur andreas wiedermann hier william faulkners berühmten ansatz: „es ereignet sich nichts neues. es sind immer dieselben alten geschichten, die von immer neuen menschen erlebt werden.“ was eignet sich da besser als die geschichte der äthiopischen sklavin und des ägyptischen feldherrn, deren liebe alle grenzen, schichten und konventionen hinter sich lässt? mit zweidimensionalen gebärden bewegen sich protagonisten und chöre – originell und überzeugend – der endlosen betonwand entlang, wie auf alten vasen oder steinernen vliesen. ganz schön mehrdimensional dafür die musik: der musikalische leiter ernst bartmann hat für das bloss 13köpfige orchester eine fassung geschrieben, die weder die triumphale wucht noch die feinheiten des originals vermissen lässt. was auch für die solisten gilt: kristin ebner (aida), anton klotzner (radamès), robson bueno tavares (ramfis) und torsten petsch (amonasro) verfügen alle über phantastisches stimmmaterial. grosse oper im museum – die alten geschichten, immer wieder neu.