Samstag, 26. Oktober 2019
ZÜRICH: FRÜCHTE DES ZORNS
bei
der caritas des kantons zürich landen pro monat 44 tonnen aus
kleidersammlungen. aus weggeworfenen markenklamotten hat lene schwind kostüme
für „früchte des zorns“ am schauspielhaus zürich zusammengestellt: ein blick
auf die armut, unser blick auf die armut. john steinbecks sozialsaga von 1939
erzählt die geschichte der farmerfamilie joad, die wegen der dürre in oklahoma
ohne existenzgrundlage ist und sich aufmacht ins gelobte land, nach
kalifornien, wo die orangen blühen. christopher rüping, von „theater heute“ im
sommer als regisseur des jahres geadelt und neu hausregisseur in zürich,
transponiert diese geschichte zu einer hochkonzentrierten sprachsinfonie,
mehrstimmig, mehrteilig, viele redundanzen, viele tonartwechsel, dicht und in
sich geschlossen. mutter, tochter und sohn der familie joad, alle in dunklen
kleidern, sprechen und wiederholen auf der leeren bühne originalpassagen aus
dem steinbeck-epos, in einem konsequent künstlichen duktus, ausgestellte
figuren in ihrer not und verzweiflung. den zunehmend hilflosen vater hat rüping
schon mal gestrichen. es ist maja beckmann als mutter, die die fäden und die
familie zusammenzuhalten versucht, eine starke, harte frau, die auch in dunkelsten
momenten nie ihre würde verliert. farbe und abwechslung und gelegentlich auch unnötigen
klamauk bringt eine markenklamotten-gang ins spiel, die die geschichte auf die
spitze und ins heute treibt; da wird ein bühnenhoher orangenbaum aufgeblasen,
eine radioshow persifliert, california-dreaming-pop gedudelt. nach der ankunft
in kalifornien, wo dann nicht das bunte paradies wartet, sondern eine neue
hölle, lässt die regie aus dem off fremdenfeindliche social-media-kommentare über
die familie joad prasseln. verloren stehen die drei da, stumm, glauben ihren ohren
nicht zu trauen. so einsam können menschen sein, auch wenn sie ihr schicksal
mit vielen anderen teilen. die entwurzelung, der heimatverlust, das nicht-willkommen-sein
verdichten sich zu einer sinfonie der trostlosigkeit.
Montag, 21. Oktober 2019
WIEN: DIE EDDA
die riesige bühne des wiener burgtheaters ist
verschneit und vernebelt. eine warme frauenstimme füllt den kalten raum, elma
stefania agustsdottir rezitiert auf isländisch den beginn des edda-mythos, die
weissagung der seherin über das ende der welt. dorothee hartinger spricht die
deutsche übersetzung, die beiden stimmen vermischen sich, man versteht nur fetzen
– und immer wieder die frage: „wisst ihr, was das bedeutet?“ ein
unspektakulärer start in einen spektakulären abend. denn „die edda“ bedeutet
alles. alles, was für die menschheit wichtig ist. und regisseur thorleifur örn
arnarsson und autor mikael torfason zeigen auch (fast) alles: in der
verschneiten landschaft entsteht ein jahrmarkt voller götter- und
heldengeschichten, mit nornen und stofftieren und einem pianisten, alles
bruchstückhaft, nichts linear, eine reizvolle herausforderung für uns linear
denkenden menschen. dietmar könig als witziger erklärbär hilft uns immer wieder
auf die sprünge. anhand der alten sagen verhandelt das fulminante ensemble die
grossen fragen: wo ist mein platz in dieser welt? was hat das mit mir zu tun,
wenn die einen verzweifelt einen hammer suchen (krieg!) und die anderen ein
goldenes haar (wohlstand!) und wieder andere eine mauer bauen, um riesen
abzuhalten? über allem hängt die weltesche yggdrasil inmitten von 156 schwebenden neonröhren, ein zauberhaftes bild. dieser abend ist poetisch,
politisch, philosophisch. den roten faden im zweiten teil bildet die geschichte
von co-autor torfason und seinem vater, der als zeuge jehovas den weltuntergang
erwartete: eine geschichte über verletzte und verheilte gefühle, eine
geschichte voller empathie, die das grosse ganze und das individuelle verwebt.
sie wird immer wieder unterbrochen, durch rasende musik, durch tanzende
menschen, durch abstecher ins 13. jahrhundert. chaotisch wie die welt.
faszinierend wie die welt.
Sonntag, 20. Oktober 2019
WIEN: DIE FRAU OHNE SCHATTEN
zwei paare (eine kaiserin und ein kaiser, eine
färberin und ein färber), viele krisen, viele prüfungen, auch über kreuz – hugo
von hofmannsthal und richard strauss haben mit ihrer oper „die frau ohne
schatten“ ein höchst komplexes märchen geschaffen. gazellen und geisterwesen
kommen da vor und ungeborene kinder singen klagend aus der bratpfanne, jawohl.
mit all ihren träumen und blockaden, neurosen und projektionen und krisen der
fruchtbarkeit aufgrund von vor- und innerehelichen gewalterfahrungen ist diese
oper gerade in der stadt von dr. sigmund freud natürlich ein steilpass für
einen regisseur. doch vincent huguet beweist mit seiner inszenierung an der wiener staatsoper wenig sinn für symptome und symbole, er arrangiert zwischen zerklüfteten
felsen konventionelle szenen, lässt die stars in wallenden gewändern mit armen
rudern und mit händen flehen, willkommen im opernmuseum! „immerhin stört die
inszenierung die musik nicht“, meint der sitznachbar meines vertrauens. kann
man so sehen. tatsächlich ist die musik das ereignis des abends, ein
ereignis auf weltklasse-niveau. in viereinhalb stunden zeigt christian
thielemann mit dem orchester der staatsoper in einem phänomenalen
spannungsbogen, der nie abfällt, den grandiosen
reichtum von richard strauss‘ klangkosmos, das entrückte, das geheimnisvolle, das
albtraumhafte, das brutale dieser gefühlswelt. im orchestergraben nimmt das
unterbewusstsein all dieser figuren gestalt an, das zum edlen ende führt,
wonach sich glück nicht um den preis des unglücks anderer erkaufen lässt. mit camilla
nylund und andreas schager als kaiserpaar, nina stemme und tomasz konieczny als
färberpaar sind die hauptrollen besetzt, wie man es sich besser nicht wünschen
kann: stimmen, die in allen farben funkeln, stimmen von durchschlagender
dramatischer kraft.
Donnerstag, 10. Oktober 2019
MÜNCHEN: HORVÁTH UND DIE HEIMAT
ein theaterautor stirbt einen theaterreifen tod: als gast in
paris wird er auf den champs-élysées von einem herabstürzenden ast erschlagen.
weil er trotz heftigem gewitter kein taxi nehmen wollte. weil ihm dies zu
gefährlich schien. der abgang von ödön von horváth 1938 ist spektakulär und
bekannt. das deutsche theatermuseum in münchen zeigt jetzt, was diesem abgang
vorausging, wie und wo horváth lebte, was ihn inspirierte, dies in einer wunderbar kurzweiligen
ausstellung, die selbst eine art inszenierung ist. im ersten raum betritt man
den wirtshaussaal nach der saalschlacht zwischen unterschiedlichen politischen
gruppierungen (aus „italienische nacht“), weiter oben oktoberfest-stimmung („kasimir
und karoline“) und schliesslich auch noch oskars gediegene fleischhauerei („geschichten
aus dem wiener wald“), darin überall dutzende von aufschlussreichen
dokumenten drappiert. horváth war nicht nur relativ rastlos zwischen wien, berlin und
münchen unterwegs, sondern verbrachte, was weniger bekannt ist, auch ruhigere
momente in murnau in oberbayern, das ja auch die blauen reiter um wassily
kandinsky magisch anzog. hier beobachtete er die kleinbürger und studierte ihre
sprache, hier schaute er sich die trivialstücke der bauerntheater an, hier
wurde der boden gelegt für sein zeitgenössisches, stilprägendes volkstheater,
für seine rattenscharfen analysen der gesellschaft und der zeitläufe. er fühlte
sich zuhause in murnau und stellte 1927 einen antrag auf einbürgerung, der an
seinem ungeregelten einkommen scheiterte. „heimat? kenn ich nicht“, schrieb er
zwei jahre später in einem aufsatz.
Dienstag, 8. Oktober 2019
LUZERN: GEWÖHNT EUCH AN LEICHENSÄCKE
es kann kein zufall sein. drei theateraufführungen, in drei wochen, in drei ländern, und immer liegt ein leichensack auf der bühne. bei "how to get rid of a body" in münchen performt sich der tänzer léonard engel in einen leichensack (weiss) und wieder raus, beim "besuch der alten dame" in luzern liegt der leichensack (weiss) mit dem ermordeten alfred ill schon zur begrüssung vor dem publikum, bei "guillaume tell" in lyon wird der alte melchtal, brutal geblendet und erstochen, im leichensack (schwarz) von der bühne geschleppt. dann lese ich heute die kritik zu "geschichten aus dem wiener wald" am momentan sehr angesagten schauspielhaus bochum, und natürlich: "am anfang muss sie wie alle figuren (...) aus einem leichensack herausgeschält werden." der leichensack ist das requisit der stunde. wie zuvor, nicht für stunden, sondern für gefühlte 15 jahre, der monoblockstapelstuhl altea. ob euripides oder shakespeare oder sarah kane, ob castorf regie führte oder viebrock das bühnenbild entwarf - immer wurde so ein weisses unding, das wir zuvor nur aus nachbars wintergarten kannten, zuerst aggressiv herumgeschleudert und dann irgendwann publikumswirksam zerfetzt. immer! altea kostet fr. 5.35 bei lipo, für die theater war das eine budgetschonende investition. der hässliche plastiksessel ist endlich out, jetzt erobert der leichensack die bühnen, auch günstig, gibt's schon ab fr. 14.30. da müssen wir leidenschaftlichen theatergänger und -innen jetzt durch. leichensäcke werden unsere theaterabende pflastern. wetten? für monate? für jahre? und irgendwann in fernen tagen wird auch dieses requisit im leichensack der theatergeschichte entsorgt, ausser jener für rigolettos tochter gilda, der war bei verdi 1851 tatsächlich fester bestandteil der story, zu himmlischer musik.
Sonntag, 6. Oktober 2019
LYON: GUILLAUME TELL
die eigernordwand, so hoch wie die bühne und teilweise im nebel, davor ein grosses weisses podest - voilà, la suisse. auf dem podest tanzt ein junges paar zur hirtenidylle in rossinis ouverture einen eleganten pas de deux, eine cellistin begleitet die beiden. da taucht plötzlich ein droog aus "clockwork orange" auf, stört die tänzer, bedroht sie dann immer direkter und hackt schliesslich das cello mit dem baseballschläger zu kleinholz. angst, gewalt, entsetzen - darum geht es tobias kratzer in seiner inszenierung von "guillaume tell" an der opéra national in lyon. schwarze farbe rinnt über die eigernordwand, das volk ist irritiert und verunsichert, noch so ein zeichen. die andere geschichte, die er uns erzählen will, ist jene von der revolutionären kraft der musik (rossinis tell war eine der ersten risorgimento-opern): zum rütlischwur kommen streicher (unterwalden), holzbläser (schwyz) und blechbläser (uri) auf die bühne, instrumente statt mistgabeln und waffen, ein eindrückliches, ein utopisches bild. schade, dass dirigent daniele rustioni da nicht mithalten kann. zwischentöne sind seine sache nicht, er dirigiert routiniert-plakativ und (zu) oft galoppiert ihm der verzwickte rossini irgendwo zwischen orchestergraben und bühne davon. das schmälert nicht die leistung des hochkarätigen sängerensembles: vor allem nicola alaimo (tell), john osborn (arnold) und jane archibald (mathilde) zeichnen figuren von tiefer zerrissenheit, von tiefer menschlichkeit und formen aus dem gründungsmythos der schweiz eine zeitlose politische parabel. jemmy (walterli) verkriecht sich beim finalen freiheitsrausch unter den tisch, traumatisiert, er hat zu viel erlebt, er traut der sache nicht. begeisterter applaus für diese stringente lesart.
Dienstag, 1. Oktober 2019
ASCONA: DIE BRÜSTE DER WAHRHEIT
intensiv duften die feigenbäume und der jasmin, in der
ferne ertönt fein der monotone gesang der kirchenglocken, zuerst von ascona her,
dann von losone. idylle am sonntagmorgen. und dann, zwischen zengarten und teepavillon,
rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrmm rrrrrrrrrrrrmm, ein laubbläser. hier, in diesem stillen,
verwunschenen park. ein laubbläser. das ist die stunde der wahrheit auf dem
monte verità. doch die ganzen magnetischen anomalien, die strahlungen der
ultrabasischen gesteine, die in dieser zone vorherrschen und die
anziehungskraft dieses ortes wesentlich ausmachen („diorite, gabbros,
peridotite, amphibolite“ – im guide eindruckheischend aufgelistet), sie alle
kommen dem laubbläser nicht bei. ein spezieller ort. und jetzt die gelegenheit,
endlich harald szeemanns legendäre ausstellung „le mammelle della verità“ (die
brüste der wahrheit) zu besichtigen, die 1978 hier startete, dann in halb
europa zu sehen war und seit zwei jahren, restauriert, wieder zugänglich ist. in
der casa anatta lässt eine geradezu berauschende fülle von exponaten die
geschichte des monte verità ab 1900 lebendig werden: wie sich zunächst die vegetarierinnen
und nudisten hier tummelten, dann immer mehr künstlerinnen, anarchisten,
intellektuelle (aus platzgründen hier kein namedropping). man taucht ein und glaubt
zu spüren, wie die magische atmosphäre sie alle in aufbruchstimmung versetzte
und zu alternativen lebensentwürfen inspirierte. ein ort als droge, ein
faszinierender hügel der utopien. 600 personen mit 600 verschiedenen
paradiesvorstellungen machte szeemann aus. wo trifft sich die europäische
intelligenz eigentlich heute?
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