Montag, 28. Januar 2019
MÜNCHEN: YUNG FAUST
wieder
mal faust, wieder mal anders. „yung faust“ nennt sich die inszenierung von
leonie böhm an den münchner kammerspielen. yung, noch yunger also als young.
yung stellen viele cloudrapperinnen ihren künstlernamen voran, um den frischen
zugriff auf die welt noch zu unterstreichen. damit ist der sound vorgegeben,
den der hinter zottelfrisur und bärenfell versteckte johannes rieder dann mit
seiner live-musik aufnimmt. „hier bin ich mensch, hier darf ich´s sein“ singt,
respektive brüllt benjamin radjaipour über den dröhnenden synthie-flächen ins
publikum, berauscht und befreit. doch wo der eine sein menschsein auslebt, wird
der andere tangiert: annette paulmann fühlt sich bedrängt, belästigt, stösst
den kollegen, dessen mutter sie sein könnte, zurück, wehrt ihn ab, die beiden landen raufend am boden vor dem
springbrunnen auf der spielfläche, der ganz zweifellos ein jungbrunnen ist.
hier am wasser wird auf der suche nach der eigenen identität und dem „was die
welt im innersten zusammenhält“ doch ein bisschen gar viel rumgelümmelt und
rumgespritzt, erotik inklusive. das best-of der faust-zitate, dieses
unbefangene befragen und sezieren von klassischen versen, gelingt den drei
lümmelnden und spritzenden (neben paulmann und radjaipour noch julia riedler),
die alle mal faust, mal mephisto, mal gretchen sind, allerdings ganz trefflich.
selten hat man den versuch, in der inneren leere spurenelemente von gefühlen zu
finden, so unbefangen und verspielt gesehen. ein spass mit tiefgang. „ich will
in dieser stunde mehr gewinnen als in des jahres einerlei“, sagt faust.
konsequenterweise dauert das ganze nur eine knappe stunde, mehr fäustchen also
als faust. ideal – und das ist keineswegs abwertend gemeint – ideal für
gymnasialklassen ohne sitzleder.
Sonntag, 27. Januar 2019
DAVOS: ROBERT WALSER, DER WEF-VORDENKER
gewiss sind salvini und di maio,
le pen und strache, bolsonaro und trump bei ihrer lektüre nicht bis zu robert
walser vorgedrungen. mindestens einer von ihnen liest gar nicht. in seinem
essay „bern“ (aus den bei suhrkamp veröffentlichten bleistiftentwürfen) schrieb walser 1925 einen glasklaren
satz, der - würde er denn zuständigenorts beherzigt - sämtliche wef-, g8- und
g20-treffen zu konstruktiven und effizienten veranstaltungen machte: „länder
oder menschen, die frieden untereinander haben wollen, dürfen sich doch nie und
nimmermehr gegenseitig geringschätzen, sondern haben das bedürfnis und den
wunsch und gewissermassen auch den zwang, sich zu achten.“ ein 94 jahre alter
satz von einem schriftsteller, nicht von einem politiker, einfach und weitsichtig.
Freitag, 25. Januar 2019
MÜNCHEN: DOKTOR ALICI
doktor
alıcı ist türkischstämmig, muslimisch, lesbisch und münchner
polizeipräsidentin. 2023, die zeit der alten, weissen, heterosexuellen männer
ist also endlich vorbei. irrtum, doktor alıcı ist umgeben von ihnen.
staatsschützer, parteivorsitzende, anwälte – sie alle zeigen immer wieder mit
fingern auf sie. die junge autorin olga bach liess sich von arthur schnitzlers
„professor bernhardi“, dort ein jüdischer arzt, zu einem stück über heuchelei, opportunismus
und politische intrigen inspirieren. der polizeipräsidentin wird zum
verhängnis, dass sie fünf mitglieder der partei „proaktiv fürs abendland“ kurz
vor wahlen in gewahrsam nehmen lässt, weil es anzeichen für von ihnen
geplante anschläge gibt. jetzt wurde „doktor alıcı“ an den münchner
kammerspielen uraufgeführt. hürdem riethmüller, selber türkische seconda,
spielt sie elegant und selbstbewusst, eine frau mit rückgrat, mit haltung. wenn
der leiter der abteilung öffentliche sicherheit im bayerischen innenministerium
(samouil stoyanov, ganz schön schmierig) immer wieder seinen zeigefinger auf
sie richtet, belehrend, bedrohlich und autoritär, dann streckt sie ihm ihren
zeigefinger ganz michelangelo-mässig entgegen, weist den seinen zurück, indem
sie ihn sanft nach unten knickt, 1:0. das sind die subtilsten momente in ersan
mondtags inszenierung. weil die dialoge an der oberfläche bleiben und kaum mehr
bieten als die handelsüblichen schlagworte von links und rechts, flüchtet sich
die regie in groteske überzeichnungen, es gibt karikaturen und krähen zuhauf.
die den worten fehlende spannung versucht mondtag auf seiner neon-bunten bühne
mit blitz, donner und viel theaterregen zu kompensieren. so wird dem
unterschwelligen die schärfe genommen und das relevante thema letztlich
verschenkt.
Donnerstag, 24. Januar 2019
MÜNCHEN: GRAMSCI 2019 UND DAS SOFA
buchvernissage,
grossaufmarsch, mindestens 500 leute. ein soziologe, ein verleger, ein
philosoph, eine schriftstellerin und ein journalist denken laut darüber nach,
wie sich die welt in den vergangenen acht jahren verändert hat und wo sie heute
steht. „die erde ist gewaltig schön, doch sicher ist sie nicht!“ heisst das
buch. es erscheint zum ende der von 2011 bis 2019 dauernden intendanz von
martin kušej am münchner residenztheater. der dicke band ist keine nabelschau auf hübsche
theatererfolge, sondern fundamental politisch wie die diskussionsrunde, deren
bestandesaufnahme arg düster gerät: es gibt keine meinungsbildung mehr, sondern
meinungsaufschäumung; die reflektierende mitte fehlt; der neoliberalismus ist
gescheitert; der abschwung hat begonnen, nur will es in deutschland noch keiner
merken; der klimawandel wird zu migrationsströmen führen, die die heutigen
bloss als fussnote erscheinen lassen werden; statt echter demokratie gibt es zunehmend
von autoritären figuren simulierte demokratie. sehr viel pessimismus also und sehr
wenig hoffnung. der soziologe oliver marchart bringt es mit dem alten gramsci
(1891-1937) auf den punkt: „die alte welt liegt im sterben, die neue ist noch
nicht geboren. es ist die zeit der monster.“ und jetzt? was ist geboten? wir
müssen raus aus der komfortzone, und zwar alle, da scheint sich die runde einig:
weitere zehn jahre auf dem sofa gehen gar nicht. auf zu den monstern. die
fridays-for-future-schülerdemos stimmen da durchaus zuversichtlich.
Dienstag, 22. Januar 2019
LUMNEZIA: MIDADAS/WANDEL
drei
kleine mädchen machen sich vor einem stall an einem alphorn zu schaffen und fragen
sich ganz bestimmt, wie diesem ding wohl töne zu entlocken sind. die
bildunterschrift zur liebevollen schwarzweissaufnahme lautet, gewiss nicht
original, „openair 1920“. das bild daneben zeigt das festivalgelände und die
gigantische hauptbühne des open air lumnezia im sommer 2018. „midadas/wandel“
heisst die ausstellung in der casa d’angel in lumbrein, dem lugnezer kulturhaus.
so krass wie beim openair-vergleich fallen die unterschiede bei den anderen
vorher/nachher-, resp. früher/heute-gegenüberstellungen nicht aus. ja, die
bauern sind heute mit anderen gerätschaften und maschinen an der arbeit; ja,
das brot fürs tal wird nicht mehr in einem freiluftbackofen gebacken; ja,
saiblinge werden heute nicht mehr nur gefangen, sondern auch gezüchtet. doch
eines macht diese ausstellung klar: die entwicklung hat hier keine endlos
schmerzenden wunden hinterlassen. das wird besonders deutlich, weil in einem
raum, gewissermassen als kontrast, dokumentarisch genaue aquarelle vom bau des
zervreila-staudamms im benachbarten tal von vals gezeigt werden. das sind
andere wunden. die val lumnezia hat den anschluss an die welt von heute geschafft, ohne ihre seele zu verkaufen. es gibt hier zwar tourismus, doch behörden wie
gäste sind sich einig, dass das auch ohne luxusboutiquen,
gault-millau-restaurants und member-clubs am pistenrand geht. nachhaltigkeit
war hier schon vor 30, 40 jahren ein thema. und wenn man in einer ecke des kulturhauses die bilder der fundaziun capauliana betrachtet, darunter einige
carigiets, stellt man fest, dass die künstler gewisse sujets heute noch
unverändert vorfinden würden. man muss es lieben, dieses tal, für seine
sorgfalt im umgang mit dem wandel.
Montag, 14. Januar 2019
LUZERN: DON GIOVANNI, AUFGEWÄRMT
in
luzern gehört es, befeuert durch die „luzerner zeitung“, zum guten ton, den
theaterintendanten benedikt von peter ganz, ganz toll zu finden, super-innovativ
und super-originell. das führt dazu, dass das premièrenpublikum sogar dann in
euphorie verfällt, wenn herr von peter ihm gar keine echte première serviert,
sondern eine alte idee aus seiner küche. nach der aufgewärmten „traviata“ und
der aufgewärmten „entführung“ aus bremen gibt’s jetzt also auch noch seinen ebenfalls
aufgewärmten „don giovanni“ aus hannover. so viel zum thema super-innovativ. für
seine intendanz in basel wird sich von peter etwas einfallen lassen müssen,
denn wie ich das basler publikum kenne, dürfte es auf aufgewärmtes nicht so warmherzig
reagieren wie die luzerner. und jetzt zum thema super-originell: don giovanni
(jason cox) ist den ganzen abend nicht zu sehen, er muss versteckt im dunkeln
singen, weil sich von peter in ein durchaus kluges zitat von sören kierkegaard verliebte,
wonach don giovanni mehr prinzip als person, eher ein spiegel seiner umgebung
und also gar nicht darstellbar sei. dafür sehen wir auf einem grossen
gaze-vorhang im bühnenportal alle anderen figuren aus seiner optik; gefilmt mit
einer infrarotkamera wuseln sie vor seinen augen herum. macht unter dem strich fast
drei stunden verwackelte schwarzweissbilder. mir wurde nach einer stunde schlecht.
die bühnenhohe videoprojektion ist zudem dermassen dominant, dass die musik in
eine nebenrolle gedrängt wird. nach der pause habe ich mich deshalb konsequent
an kierkegaard gehalten und das geschehen mit geschlossenen augen verfolgt – und
erst so richtig wahrgenommen, wie grandios dirigent clemens heil und das
luzerner sinfonieorchester die erotik und die abgründe in mozarts musik freilegen,
subtil und erschütternd.
Donnerstag, 3. Januar 2019
PORTO: TRANSANTIQUITY
porto
besitzt mitten im kunterbunt-belebten stadtzentrum ein prächtiges altes
nationaltheater. dort findet über silvester/neujahr keine einzige vorstellung
statt. porto besitzt mit der casa da musica ein ziemlich cooles konzerthaus von
stararchitekt rem koolhaas. dort findet über silvester/neujahr kein einziges
konzert statt. nicht gerade die ultimative kulturstadt. im kampf gegen die
entzugserscheinungen besuchen wir die galeria municipal und stossen dort auf
eine ausgesprochen grosszügig und sorgfältig gestaltete ausstellung mit dem
titel „transantiquity“. mit werken von 21 künstlerinnen und künstlern von china
bis kuba versucht das kuratoren-team filipa oliveira und guilherme blanc, den spuren nachzuspüren, die das altertum in der
heutigen welt und der heutigen kunst hinterlässt. das ist mal witzig, mal
tiefsinnig, mal spektakulär – und manchmal ganz schlicht und leise: die
35jährige chinesin guan xiao präsentiert ein video mit zwei bildspuren, auf der
linken seite wandern kostbare alte vasen und gefässe von oben nach unten, auf
der rechten die gedanken, die diese jahrtausende alte kunsthandwerkliche
feinarbeit bei der künstlerin auslöst: „process evokes the imagination. –
imagination brings stimulation. – stimulation generates expectation. – expectation
sustains the wait. – waiting sustains reading.“ mit diesem gedanklichen domino
trifft sie die zentrale fragestellung von „transantiquity“: ist die antike nur
eine fundgrube für politische und philosophische exkurse und spielereien oder ist
sie ein nach wie vor intaktes fundament all unseres denkens und lebens? darüber meditieren wir im park neben dem museum. er heisst jardim dos sentimentos.
Dienstag, 1. Januar 2019
PORTO: TRAGISCH, TRAGISCH
der gute alte karl valentin hat uns den jahreswechsel erleichtert, auf der neujahrskarte einer guten alten freundin: "man soll die dinge nicht so tragisch nehmen, wie sie sind." feliz ano novo.
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