Donnerstag, 27. Februar 2020

LAUSANNE: L'EXPLOSION DU REGARD

bilder. tolle bilder. tausend tolle bilder. der titel der ausstellung im musée de l’élysée in lausanne verspricht nicht zu viel: „l’explosion du regard“. das werk des grossen schweizer fotoreporters rené burri (1933-2014), dessen archiv das museum verwaltet und jetzt zugänglich macht, ist eine unerschöpfliche fundgrube. burri, der schon früh in die magnum-gruppe aufgenommen wurde, bildete die ganze welt ab: er fotografierte die schliessung des suez-kanals, die studentenproteste auf dem platz des himmlischen friedens in peking, den mauerfall in berlin, raketenfriedhöfe in mexiko, er fotografierte churchill, picasso, nurejew, corbusier und – besonders legendär – che mit zigarre, er reiste durch argentinien, syrien, japan, die usa und publizierte in „newsweek“, „stern“, „sunday times magazine“, „sie und er“. rené burri war mit seiner kamera und – auch das zeigt die ausstellung – mit seinen zeichenstiften immer zur richtigen zeit am richtigen ort, ein aufmerksamer, sorgfältiger zeuge des jahrhunderts. die ausstellung ist eine einladung, mit burris augen in dieses vergangene jahrhundert einzutauchen. der streifzug durch die vielen élysée-räume wird zu einem streifzug durch die weltgeschichte. häufig ist der vordergrund auf diesen bildern unscharf, damit das hauptmotiv im hintergrund besser zur geltung kommt. das war eines von burris stilmitteln. den fokus verschob er oft noch bei der nachbearbeitung im labor, rückte details ins zentrum oder komponierte aus zwei bildern ein einziges. für einen künstler ok, für einen chronisten tabu, burri war ein künstler. die bilder sind ohne bildlegenden ausgestellt. das irritiert zunächst. vor allem aber verstärkt es ihre wirkung. l‘explosion du regard: man schaut noch genauer hin, man sieht noch mehr.

Dienstag, 25. Februar 2020

MÜNCHEN: RADIO, EINE SCHLECHTE SACHE

„es ist eine sehr schlechte sache. man hatte plötzlich die möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.“ was wie eine durchaus realistische vorahnung auf die social-media-kanäle im dritten jahrtausend klingt, sagte bertolt brecht 1932 – übers radio. die einseitigkeit des mediums, die stumme rolle des publikums machten aus dem radio-skeptiker dann immerhin den radio-theoretiker und -experimentierer. seine versuche, neue formen von öffentlichkeit zu schaffen, werden sehr schön nachgezeichnet in der ausstellung „radio-aktivität – kollektive mit sendungsbewusstsein“ im münchner lenbachhaus. auch walter benjamin versuchte sich als praktiker: unter anderem mit kindersendungen, in denen er zum beispiel das wesen der berliner schnauze erklärte. der philosoph und kulturkritiker als freund der kinder, was für eine trouvaille. es gab die arbeiter-radio-bewegung, die mit eigenen sendern und bastelsätzen möglichst vielen den zugang zum neuen medium öffnen wollte. doch als dieses zunehmend zu propagandazwecken missbraucht wurde, fand der aufstand der hörer, den brecht postulierte, nicht statt. die idee von schrankenloser kommunikation in beide richtungen blieb eine utopie. heute twittern präsidenten schwachsinn und der aufstand des publikums bleibt wieder aus. der mensch als manipuliermasse. wie gehabt.  

Montag, 24. Februar 2020

MÜNCHEN: WARTEN AUF GODOT

estragon spielt ein paar töne auf seiner winzigen mundharmonika, ein hauch von melodie, wladimir klappert danach fünf mal fein mit der kastagnette, ein versuch von echo, eine szene von grosser intimität – jonathan müller mit gelbem cap und silas breiding mit blauer wollmütze zaubern am münchner volkstheater viel zartheit in die freundschaft der bekanntesten beckett-figuren. mit dieser zartheit, mit poesie und leichtigkeit füllen die beiden die weitgehend leere, schwarze bühne. regisseur nicolas charaux liegt viel an der konzentration auf die sprache, der wirkung einzelner worte, am pingpong der satzfetzen; das optisch und actionmässig überbordende überlässt er den beiden nebenfiguren, dem reichen pozzo und seinem sklaven lucky, die zwei irritierende auftritte hinlegen in dieser öde. kaum ein stück schaut man sich je nach persönlicher lebensphase und -situation immer wieder so anders an wie „warten auf godot“. worauf warten die beiden denn? beckett hat es offen gelassen. auf gute arbeit, auf erlösung, auf einen schleuser, auf den tod? auch wir können es offen lassen. die fein gearbeitete inszenierung am volkstheater holt das groteske der beckettschen konstellation wieder auf den boden, in unsere nähe: nicht worauf die beiden (und wir) warten, ist hier entscheidend, sondern wie sie (und wir) warten und allenfalls hoffen. immer wieder vergisst der eine, dass und auf wen sie warten; immer wieder sagt es ihm der andere, mal geduldig, mal genervt, mal aufbrausend, mal liebevoll, immer und immer wieder. diesmal also haben wir nicht die geschichte einer absurden sehnsucht gesehen, sondern ein stück über die kraft einer tiefen beziehung. „wir sind unerschöpflich“, freut sich wladimir in einem anflug von heiterkeit einmal. was für ein glück.    

Dienstag, 18. Februar 2020

ZÜRICH: LES MISÉRABLES

120 millionen menschen waren schneller als ich, 120 millionen in 52 ländern haben „les misérables“ seit der première 1980 schon gesehen. höchste zeit also. zumal „les mis“ das musical der stunde sind: die hymne des aufbegehrenden volkes, die schon bei demos in istanbul, kiew und hongkong gesungen wurde, schallt jetzt auch durch die corona-verseuchten und zu lange im ungewissen gehaltenen chinesischen städte: „do you hear the people sing? singing the songs of angry men?“ passt auf, ihr mächtigen, was ihr uns zumutet. die englische originalversion, die jetzt im theater 11 in zürich gespielt wird, kommt dem brillanten volksporträt von victor hugo sehr nahe: in detailgenauen tableaux vivants und mit viel pomp aus dem orchestergraben erzählt sie die geschichte des häftlings jean valjean, der zum bürgermeister wird, gegen ungerechtigkeit und falschheit kämpft und ein grosses herz für die benachteiligten hat; der tenor dean chisnall ist stimmlich und als darsteller die perfekte verkörperung dieses anti-helden (standing ovation). auch die barrikaden der studenten geraten hier zur überwältigenden illustration des kampfs für die freiheit der proletarier. die historisierende opulenz wird in dieser bühnenproduktion nicht schamvoll zurückgedrängt, sondern zum zentralen stilmittel erhoben: das revival des kostümfilms. im drei-minuten-takt wechseln die schauplätze: ob seine-brücke oder dunkle gasse, ob kanalisation oder festsaal – wie von zauberhand plötzlich alles da, neues licht, neuer ort, neue stimmung, keine umbaupausen, kein hämmern auf der bühne, keine technischen pannen; das hat, wenn es dermassen professionell abläuft, etwas absolut faszinierendes. man möchte, als theateraficionado, die gleiche vorstellung einmal hinter der bühne mitverfolgen. 

Donnerstag, 6. Februar 2020

LUZERN: SPITTELER RELOADED

wer kennt carl spitteler? klar, schriftsteller und einziger schweizer literaturnobelpreisträger (1919), der 32 jahre in luzern lebte, hier beigesetzt wurde und schon kurz danach dem quai-abschnitt vor seiner villa seinen namen gab. und wer hat was gelesen von spitteler? da wird’s schon schwieriger. zum kanon der schweizer schulen gehört er erstaunlicherweise nicht. zu den bildungslücken schon eher. unter dem titel „spitteler reloaded“ haben sich die beiden dokumentarfilmer jörg huwyler und beat bieri im vergangenen jahr auf seine spuren gemacht. entstanden ist eine ebenso liebevolle wie vielseitige annäherung an den bekannten unbekannten: der psychologe und rapper urs baur alias black tiger verdichtet spittelers zeilen ins heute und steckt die spoken-word-szene damit an, der schauspieler sigi arnold sieht im monumentalwerk „olympischer frühling“ die perfekte vorlage für eine netflix-serie und liest die über 20‘000 alexandrinerverse am spittelerquai vor, kunststudentinnen lassen sich von der brutalen fremdenhass-geschichte „xaver z’gilgen“ zu prägnanten collagen inspirieren, eine jungautorin rekonstruiert seinen gotthard-reisebericht und literaturprofessoren betonen die bedeutung seiner rede zur schweizer neutralität 1914, die ihn die zuneigung des deutschen publikums kostete. viele wege führen zu carl spitteler. der film schafft es auf anhieb, dem mann konturen zu geben: ein vornehmer denker, sympathisch, zurückhaltend, in entscheidenden momenten durchaus engagiert. und vor allem macht der film – endlich – lust auf dieses werk. zum start entscheide ich mich für den autobiografischen roman „imago“, das dokument einer künstlerseele, das auch bei freud und co. in wien grosse beachtung fand. 

Mittwoch, 5. Februar 2020

LUZERN: SILAS' SPAZIERGANG

der künstler silas kreienbühl ist ein leidenschaftlicher flaneur. auf plätzen ist er unterwegs, auf nebenstrassen, in hinterhöfen in berlin, wo der luzerner wohnt und arbeitet, und viel in der natur. meistens hat er die kamera dabei. rund 300 bilder, die so entstanden sind, hängen jetzt in der umgebauten und aufgestockten onkologie-abteilung des luzerner kantonsspitals, in den korridoren, in besprechungszimmern, in therapieräumen, überall. die patientinnen und patienten hier befinden sich in einer schwierigen lebensphase. für die verantwortlichen stand deshalb fest, dass das künstlerische konzept auf helle farben aufbauen muss, farben mit positiver wirkung. farbige wände? das wäre zu definitiv, zu schwer, zu heikel gewesen. nein, blendend weisse wände im ganzen haus und darauf jetzt kreienbühls bilderflut, mal eine kombination mit drei bildern, mal zwei, mal eines solo. es sind fine art prints auf museumspapier und sie zeigen details aus der natur, immer unscharf, damit nicht die formen dominieren, sondern die farben: lila, hellgrün, gelb, rot, orange, verschwommen und dank sonnenlicht doppelt intensiv. mitarbeitende, patienten und besucherinnen wurden an der auswahl beteiligt. der „spaziergang“ von silas kreienbühl ist der neuste streich im rahmen des 2013 von wetz und pius jenni initiierten projekts „kunst im spital“. und er ist ein fest für die augen. oder bietet je nach persönlicher verfassung ruhe, erholung, meditation. anlässlich der vorbesichtigung herrscht allgemeine begeisterung. ob wir diese bilder wohl auch so sehen würden, wenn wir als patienten hier sein müssten, fragt mich eine frau beim rundgang. ich weiss es nicht. ich hoffe es. ich denke, dass mir diese farben gut tun würden.

Montag, 3. Februar 2020

LUZERN: OREST

die szenerie sehr heutig, der stoff uralt: vor einem angerosteten, verbeulten schiffscontainer spielt die theatergruppe nawal des luzerner voralpentheaters aischylos‘ „orest“ in der bearbeitung von john von düffel. mit einer truppe hervorragender laiendarstellerinnen und -darsteller erzählt regisseur reto ambauen diesen krassen kreislauf aus mord und rache und wieder mord, in dem sich die von der schlacht um troja gezeichneten hoffnungslos verheddern. vater opfert tochter, mutter mordet vater, sohn erschlägt mutter und geliebten der mutter. mit beeindruckender präsenz zeigt das junge ensemble auf, wie täter zu opfern werden und opfer zu tätern. orest, elektra, klytaimnestra, kassandra, menelaos - sie sprechen oft frontal ins publikum, konzentriert und kraftvoll, wir können uns diesen persönlichen dramen, dieser inneren zerrissenheit und endlosen verzweiflung nicht entziehen. nicht nur der container schlägt die brücke in die gegenwart: die grossen fragestellungen sind in den zweieinhalbtausend jahren seit aischylos die gleichen geblieben, die fragen nach fanatismus, verantwortung, gerechtigkeit. „wenn götter irren, ist es an uns zu wissen, was recht ist oder trug“, sagt einer fordernd. bei aischylos endet die tragödie mit dem freispruch von orest und einem gesellschaftlichen wandel, dem übergang zu einer ordentlichen gerichtsbarkeit. john von düffel und das theater nawal misstrauen diesem happy-end und stellen die zentrale frage mit grosser ernsthaftigkeit: schaffen es die menschen, die spirale aus gewalt und vergeltung aus eigenem antrieb zu überwinden? das schlussbild der inszenierung gibt eine mögliche antwort: elektra und orest fackeln den königspalast nieder, ein dunkelrotes flammenmeer umfängt den schiffscontainer, aus.