Donnerstag, 29. Februar 2024

BOCHUM: KLIMAFOLGENANPASSUNGSMANAGER

ein neuer beruf mit zehn silben? klimafolgenanpassungsmanager. ja, genau, klimafolgenanpassungsmanager. eben gesehen in der "kulturzeit" auf 3sat: jonas kettling ist klimafolgenanpassungsmanager der stadt bochum. im ernst. was für eine schreckliche berufsbezeichnung! was für ein wichtiger job!!! muss man sich merken. hat zukunft.

HAMBURG: GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT

gegenseitige verletzungen, vorwürfe, gemeinheiten, verdächtigungen, erniedrigungen – victoria trauttmansdorff als estelle, meryem öz als inès, johannes hegemann als garcin: sie machen sich fertig, total fertig. jean-paul sartre hat sie 1944 eingesperrt, „huis clos“, geschlossene gesellschaft, drei tote in der hölle. und da sind sie immer noch. sartre braucht keinen gott, der richtet, und keinen teufel, der bestraft: „die hölle, das sind die anderen.“ wehe, der mensch ist frei und für sein handeln allein verantwortlich. aus sartres messerscharfer analyse machen regisseur evgeny kulagin und choreograf ivan estegneev in der werkstatt des thalia theaters in hamburg jetzt ein physical theatre: jedes gefühl explodiert, jede bemerkung eskaliert, die psychische folter wird immer auch zur physischen. statt in einem geschmacklosen salon wie in sartres vorlage befinden sich die drei und ihr aufseher jetzt in einem leeren museumssaal, kein fenster, kein tageslicht, kein ausgang und an der wand ruinierte gemälde. hier bespringen und würgen sie sich, sie tanzen walzer und tango und werfen sich zu boden, sie gehen sich an die wäsche und schwitzen und stossen sich angewidert ab. drei menschen, drei körper im dauerstress, eine enorme leistung, die hölle ist schwerstarbeit. sämtliche negativen kräfte werden subito frei- und in latente oder explizite gewalt umgesetzt. tanz den teufel. braucht sartres text diese visuelle drastik? nein, braucht er nicht. schadet sie? nein. sartres erforschung menschlicher abgründe fährt immer noch ein, so oder so, auch nach 80 jahren. „machen wir weiter“, sagt der aufseher am schluss ganz trocken, es ist die düsterste aller möglichen perspektiven. ein höllischer abend.

 

Sonntag, 25. Februar 2024

HAMBURG: KANNST DU PFEIFEN, JOHANNA

zwei gesellschaftliche themen trenden derzeit in den einschlägigen magazinen: das zunehmende bedürfnis nach nähe und berührung ist das eine, der wert generationenübergreifender freundschaften das andere. in beiden fällen liegt die staatsoper hamburg jetzt goldrichtig mit „kannst du pfeifen, johanna“, gordon kampes oper für kinder – und nicht nur für sie. es ist die geschichte von zwei jungs, ulf hat einen opa, berra hat keinen, das ist natürlich unfair, also suchen sie ihm einen, im altersheim. der tenor ziad nehme (dem luzerner publikum noch in bester erinnerung aus der „orlando“-produktion im vergangenen herbst) spielt diesen kleinen berra pfiffig und herzerweichend und singt sich, leicht und beschwingt in allen stimmlagen, durch grunzgeräusche, händel- und mozart-melodienfetzen, vogelgezwitscher und material von den comedian harmonists, eben: "johanna". luiz de godoy dirigiert den anspruchsvollen mix mit herz und pep. der bariton grzegorz pelutis als berras dicker kumpel und der bass karl huml als ebenso stimmgewaltiger wie liebenswerter bonus-opa machen das trio komplett. in einer zauberhaft-verspielten märchenlandschaft aus riesen-meringues trifft regisseurin maike schuster mit einfachsten mitteln alle stimmungen, lustig, verträumt, traurig: oper ist emotion, kinderoper erst recht. von einem opa kann man viel lernen – kirschkernspucken, kartenspielen, drachenbauen, pfeifen, ja pfeifen will berra unbedingt lernen. auch der opa entdeckt dank den jungs die welt ganz neu, und auf den gipfel des meringue-berges schafft er es nur noch mit ihrer hilfe. alt und jung, freunde fürs leben. doch das leben ist endlich und dieses bijou von öperchen ist auch eine geschichte übers abschiednehmen. als berra endlich, endlich pfeifen kann, ist der opa nicht mehr da. seinen lieblingsschlager pfeift ihm berra in den himmel. nicht nur die kinder applaudieren begeistert.

Samstag, 24. Februar 2024

HAMBURG: DIE GLÄSERNE STADT

280 millionen euro dürfte die hamburger privatbank warburg dem staat und der stadt durch dubiose praktiken an steuern vorenthalten haben, stichwort cum-ex. und die hamburgerinnen und hamburger lachen sich kaputt. nicht über den steuerschaden, sondern über ihren ex-bürgermeister olaf scholz, der die banker mehrfach traf, sich aber partout an nix erinnern kann. er heisst nun allerdings anton schatz und ist eine der hauptfiguren in „die gläserne stadt“ von felicia zeller, jetzt uraufgeführt am deutschen schauspielhaus. samuel weiss parodiert absolut hinreissend die absolut mitreissende kunst von olaf scholz, mit wenigen worten nichts zu sagen. das publikum johlt und tobt vor begeisterung. ein finanzkrimi und politskandal als komödie? felicia zeller kann´s. hohe schule. auf der basis von nikolai gogols „revisor“, wo die honoratioren einer kleinstadt extrem nervös werden, als ein staatlicher controller angekündigt wird, ist ihr eine aberwitzige groteske über filz und korruption in hamburg gelungen, durchtriebenheit und dummheit gehen hand in hand: „ich habe alles gelöscht und zur sicherheit noch eine kopie gemacht von dem gelöschten“, sagt die mit glatze und bart bis zur unkenntlichkeit entstellte lina beckmann als bankchef bernd baktus von der kaktus bank, eine nummer für sich. regisseur viktor bodo packt die ganze bande von bankern, investoren, anwälten und politikern in den bauch eines leeren containerschiffs, hier schmieden sie ihre pläne, hier koksen sie, hier stolpern sie über treppen und paragraphen. die irre realität als durchgeknallte party. am schluss gastieren die rolling stones mit „paint it black“ auf dem schiff – das dann mit voller geschwindigkeit die elbphilharmonie rammt. die usb-sticks mit den heiklen daten sind da bereits im ausland. alles wird gut.

Freitag, 23. Februar 2024

HAMBURG: NORMA MINUS TENOR

der argentinische tenor marcelo álvarez (61) sollte nur noch in der arena di verona singen. oder in fussballstadien. er ist ein stimmenprotz der alten schule, kommt auf die bühne, schmettert seine spitzentöne, fortissimo an der rampe, es ist ihm völlig egal, wer neben ihm sonst noch singt und wie, und vor allem ist ihm egal, was die regisseurin zum stück gedacht und entwickelt hat. nicht idee und konzept zählen bei álvarez, sondern bloss effekt und applaus. ein tenor wie eine dampfwalze, dessen gestisches repertoire sich auf die handelsüblichen macho-posen beschränkt. verona total also. dass sich ein haus wie die hamburgische staatsoper für ihre differenzierte inszenierung von bellinis „norma“ eine derartige fehlbesetzung leistet, ist erstaunlich und ärgerlich. „norma“ ist die geschichte einer dreiecksbeziehung: zwei freundinnen lieben, ohne es vorerst gegenseitig zu wissen, den gleichen mann, der zudem – damit´s richtig kompliziert wird – dem feindlichen lager angehört. zwei druidinnen, ein römer, eine explosive konstellation, leidenschaft und hass à discrétion. wenn der mann in diesem dreieck stimmlich völlig überbordet und darstellerisch eine aus dem rahmen fallende karikatur abgibt, dann sackt alles weg, null intimität, null spannung, null gänsehaut. olga peretyatko als norma und angela brower als adalgisa liefern – und damit jetzt zum erfreulichen – zwei hochemotionale porträts der beiden freundinnen, die zu rivalinnen werden, in den grossen duetten mit ihren eher herben stimmen perfekt harmonierend. und überzeugend auch die inszenierung von yona kim, die auf zeitlose und suggestive bilder setzt: krieg, folter, trauma – draussen in der welt und in normas seele.

Montag, 19. Februar 2024

LUZERN: CHARKIW - UND DIE KRAFT DER MUSIK

barbarischer krieg / herrliche musik / zerbombte wohnsilos in charkiw / attraktive junge musikerinnen und musiker in der orchesterprobe / niedergeschlagene menschen vor ruinen / fröhliche menschen an der luzerner määs. es sind harte schnitte, die der luzerner filmemacher beat bieri in seiner dok „charkiw“ verwendet, ein bewusst brutaler kontrast. charkiw ist die kulturmetropole der ukraine. klammer: was wussten wir vor 2022 über ukrainische kultur, über ukrainische musik? von charkiw begleitet der film junge musikstudierende in den westen: sasha shepelska ist violinistin und mit dem ukrainischen jugendsinfonieorchester auf tournee, unter anderem auch für ein benefizkonzert im kkl luzern. oleksii yatsiuk ist sänger, er studiert seit seiner flucht an der hochschule luzern musik und dirigiert hier den ukrainischen chor prostir. es sind hochmotivierte junge menschen, die durchhalten wollen, während ihre heimat gerade ihrer zukunft entledigt wird. fast täglich telefonieren sie mit angehörigen, täglich schwanken sie zwischen verzweiflung und hoffnung. einmal, sagt die orchestermanagerin, habe sie eine musikerin umarmt, weil es sich grad so ergeben habe. da habe sich gezeigt, dass ganz viele im orchester dieses bedürfnis auch spüren: „seither umarmen wir uns alle viel häufiger als wir das sonst tun würden.“ nicht allein sein, anerkennung, durchhaltewillen. müssten sie denn nicht wie ihre gleichaltrigen kolleginnen und kollegen an der front gegen die russen kämpfen? „das ist die schwierigste frage“, sagt die orchestermanagerin – und beantwortet sie so: „es geht für die ukraine nicht nur darum, das territorium zu verteidigen, es geht auch darum, unsere kulturelle identität zu verteidigen und zu bewahren.“ diese jungen musizieren mit herzblut für ihr land, die kraft der ukrainischen musik ist ansteckend, auch eine form von widerstand.

Samstag, 17. Februar 2024

BASEL: WAS WÄRE WENN / WHAT IF

ein gewisser max frisch sass 1964 in der jury, als der dänische architekt jörn utzon den wettbewerb für den neubau des zürcher schauspielhauses gewann. utzons projekt war nicht so spektakulär und ikonisch wie sein opernhaus in sydney, aber doch auch unübersehbar und raumgreifend. der mut verliess die zürcher (kennt man), die pläne landeten im papierkorb, das schauspielhaus wurde statt neu nur umgebaut – und utzons eindrückliches modell steht jetzt in der ausstellung „was wäre wenn / what if“, die im schweizerischen architekturmuseum in basel lauter nie realisierte projekte versammelt: jean nouvels vision für das sulzerareal in winterthur, luigi snozzis bibliothek auf dem wasser in thun, mario bottas bunkerartige erweiterung des bundeshauses, jean tschumis 325 meter hohe tour de lausanne (1962), der 381 meter hohe hotelturm „femme de vals“ (2014) oder das über felsabgründen hängende skidorf super-grimentz – alles „verloren, verneint, versackt oder verändert“, wie es in der ausstellung heisst, die gründe also ganz unterschiedlich: grössenwahn, geldmangel, kleinmut, volksentscheide. eine absolut kurzweilige fülle von bildern, plänen und anekdoten lädt dazu ein, über den mut zur utopie einerseits und die angst vor fehlern andererseits nachzudenken. was wäre, wenn? da gibt es diese sehnsucht nach dem leider versäumten, nach den kreativen alternativen, nach der kraft von visionen, nach den luftschlössern. immerhin: "das gebaute wächst ganz wesentlich aus dem humus des ungebauten." man verlässt die ausstellung auch mit einem geschärften blick für das leider nicht versäumte, das leider realisierte: die beiden roche-türme von herzog & de meuron zum beispiel ragen auch heute wieder in den grauen basler himmel wie überbleibsel einer verunglückten und vorzeitig abgebrochenen lego-orgie.

Donnerstag, 15. Februar 2024

BERLIN: ROTH, GODARD, DIE REALITÄT UND WIR

„manchmal ist die realität zu komplex. geschichten geben ihr form.“ die deutsche kulturstaatsministerin claudia roth zitiert in ihrem flammenden plädoyer zur eröffnung der 74. berlinale den grossen jean-luc godard. eine aufforderung, die welt immer wieder mit neuen, mit anderen augen zu sehen. diese festivaleröffnung (live auf 3sat) ist nicht einfach ein kulturelles, sondern ein politisches statement: nicht wegsehen, nie wegsehen, immer hinsehen, immer dranbleiben.