Freitag, 29. März 2024

LUZERN: SLYŠ, Ó BOŽE, VOLÁNÍ MÉ

am 6. november 1893 starb der komponist pjotr iljitsch tschaikowski, am 12. februar 1894 starb der dirigent hans von bülow und im märz 1894 verlor antonín dvořák dann auch noch seinen vater. in dieser situation, in der verzweiflung über den verlust gleich dreier nahestehender menschen, schrieb dvořák seine zehn biblischen lieder. er weilte in new york, fern der familie, fern der böhmischen heimat. trauer, heimweh und gottesnähe bilden somit die pfeiler dieser musikalischen meditationen. das luzerner sinfonieorchester unter seinem chefdirigenten michael sanderling setzt diesen zyklus, ausgesprochen passend, ins zentrum seines karwoche-programms. davor smetanas evergreen „die moldau“, prächtigste sinfonische kulissenmalerei, am schluss dvořáks fünfte sinfonie in f-dur, deren tendenz zu eskalation, euphorie und expressionismus das orchester voll auskostet. aber eben: das bewegende zentrum des abends, das intime herzstück, sind die zehn lieder op. 99. der tschechische bass jan martiník, ensemblemitglied an der staatsoper unter den linden in berlin, singt die verse aus biblischen psalmen mit wärmender innigkeit, die slawischen silben fügen sich zu aufwühlenden gebeten: „slyš, ó bože, volání mé“ – höre, gott, mein schreien! der zyklus ist eine entdeckung: angst und klage weichen zuversicht und vertrauen, für dvořák eine kompositorische selbsttherapie, reich an motiven, reich an emotionen, ein spätromantisches juwel. dieses programm, das unter dem titel „grüsse aus prag“ angekündigt wurde und also ein wenig nach melodischer postkarte klang, bot bedeutend mehr: eine reise in ein vielschichtiges musikalisches universum.

Sonntag, 17. März 2024

ZÜRICH: BLUTSTÜCK

mit einer kerze in der hand bahnt sich kim de l´horizon auf der stockfinsteren bühne des zürcher schauspielhauses einen weg von ganz hinten nach vorne an die rampe, sich sorgsam vortastend zwischen am boden liegenden tüchern und grossen steinen, ein ziel vor augen und unsicherheit im nacken, beides. ein suchender mensch im dunkeln. vorne angekommen begrüsst kim das publikum, freut sich, dass so viele da sind, freut sich, dass das viel gelobte und viel gelesene „blutbuch“ in der inszenierung von leonie böhm zum „blutstück“ wird. kim spielt selber mit, authentisch, sympathisch, sofort für sich einnehmend, und zusammen mit zwei schauspielerinnen und zwei schauspielern, die mit köstlichen kostümen und schrägen haarteilen ebenfalls zu genderfluiden wesen umstaffiert wurden. die bühne wird zum spielplatz für erwachsene: sie packen sich einzelne sätze und ganze motive aus dem buch, stürzen sich mal zu fünft unter eine riesendusche, spielen zärtlich mit aufblasbaren riesenpimmeln, improvisieren mit gitarre und interagieren mit dem publikum, um gemeinschaft zu erzeugen und verbündete zu finden auf dem schwierigen weg. denn angst ist immer wieder ein thema, die angst vor sich selbst, vor seinen wurzeln, vor nicht ausgesprochenem und nicht ausgelebtem. wir begleiten diese fünf auf der zeitweise auch schleppenden suche nach ihrer identität, nach dem richtigen körper, der richtigen sprache, der richtigen körpersprache. menschen wie du und ich? ihr thema ist das thema aller: wie wir den wunden der vergangenheit zum trotz wachsen und uns immer wieder verändern können. kim de l´horizons grosses buch ist in sich geschlossen und auch formal ein hammer, der abend im schauspielhaus ist das nicht, er bleibt auch formal eine suche, eine durch und durch unkonventionelle performance, eine kollektive übung zur ermittlung individueller befindlichkeit.

Freitag, 15. März 2024

LUZERN: LA BOHÈME

sie werfen grillierte fische durch die gegend, duellieren sich mit klobürsten, trinken billigwein aus dem tetrapack – mit improvisationstalent und schabernack verscheuchen vier künstlerisch ambitionierte jungs die trostlosigkeit ihres erfolg- und mittellosen lebens. der dichter rodolfo liebt die hoffnungslos an tuberkulose erkrankte mimì, der maler marcello praktiziert mit musetta eine zänkische on-off-beziehung. sie leben, lieben und frieren gemeinsam, irgendwo im windigen rohbau eines parkhauses. in ihrer inszenierung von „la bohème“ am luzerner theater macht lucía astigarraga, eine schülerin von starregisseur calixto bieito, aus den pariser künstlern von 1830 eine clique von heute. das funktioniert bestens, denn die grossen gefühle in giacomo puccinis melodien sind zeitlos, immer wieder überwältigend, das ist musik zum hinknien. diese produktion wird betagtere abonnentinnen und junge operneinsteiger gleichermassen begeistern. musikdirektor jonathan bloxham kostet die permanenten kontraste von liebe und kälte, von heiterkeit und todesnähe mit dem luzerner sinfonieorchester voll aus, wobei zarteste motive, die puccini nur hingetupft hat, hier eher gepinselt werden. was diese inszenierung definitiv zum erfolg macht, ist das ensemble: grosse stimmen, ungefilterte gefühle. so lebendig, so empathisch hat man diese bohème-clique noch nie gesehen. wie die zwei frauen und die vier männer gesanglich und darstellerisch hellwach aufeinander bezogen sind, wie sie sich in ihrem verschlag durch dick und dünn rangeln, wie sie aneinander verzweifeln und in entscheidenden momenten doch immer für einander da sind, das rührt tief ans herz. emotionaler bombast, ja, aber hier für einmal grandios kitschfrei umgesetzt.

Mittwoch, 13. März 2024

LUZERN: ALBERTA IM FUMETTINO

die ganze stadt ist fumetto. 10 ausstellungen, 42 satelliten in beizen und boutiquen, 4 specials. wo also beginnen? am besten bei den kleinen, den kindern, beim fumettino. und am besten mit einer luzernerin. die illustratorin martina walther hat den salon in der villa musegg in „albertas wunschladen“ verwandelt, den brocante aus ihrem gleichnamigen bilderbuch: die hübschen kleinen bilder aus dem buch tauchen an den wänden plötzlich ganz gross auf, die vielen liebevollen details sind nicht mehr zu übersehen, zahlreiche objekte werden lebendig, ein ohrensessel, ein aussergewöhnlicher teppich, glitzernde fische und aufblasbare hanteln. alles lädt zum eintauchen ein, zum spielen und malen an den grossen tischen. alberta ist eine liebenswürdige frau, die in ihrem brocki für alle das richtige findet. die leute stehen schlange (die kinder in der ausstellung auch) und selbst bei ganz aussergewöhnlichen wünschen („eine schlecht gelaunte wolke“) fällt alberta immer was passendes ein. albertas wunschladen ist prallvoll und farbig und witzig und wunderbar schräg. nur dank einem guten freund, dem fischer pepe, kommt alberta auf die idee, sich auch selber mal einen grossen wunsch zu erfüllen: der comic für kinder ist auch ein comic für erwachsene, eine geschichte über freundschaft, über den sinn des lebens, über ziele und träume. das fumettino wird somit zum idealen ausgangspunkt fürs fumetto, da warten noch 9 weitere ausstellungen, 42 satelliten und 4 specials.

Dienstag, 5. März 2024

BASEL: EIN KAFKA-PROJEKT

kafka da, kafka dort, kafka überall. er hat es verdient, denn 100 jahre tot und in seinem werk so zeitlos aktuell sein, das ist nicht jedem gegeben. am theater basel liefert die israelische regisseurin und choreografin saar magal mit vier menschen aus der tanztruppe und zwei aus dem schauspielensemble ein eindringliches kafka-kondensat. auf der bühne im schauspielhaus schubladen, von vorne bis hinten, von oben bis unten, 338 schubladen insgesamt: willkommen in kafkas klaustrophobischem labyrinth. nicht seine texte stehen hier im zentrum, die gibt es auch, sondern die motive und stimmungen, die beklemmung, die ausweglosigkeit. herr k. aus dem „prozess“ und gregor samsa aus der „verwandlung“, der fremde aus dem „schloss“ und der affe aus „bericht an eine akademie“ – alle da, wenig text, viel verzweiflung. die sechs klettern die schubladenwände hoch, kein ausweg, nach hinten, kein ausweg, mal erklingt ein furchtbares sadistisches grinsen, mal suchen sie zwischen ledermänteln und uniformen eine intimität, die es nicht gibt. einmal probieren sie, alle in einer reihe, einbeinig auf knallroten high heels an ein ziel zu gelangen, alles von beeindruckender akrobatik, doch völlig absurd und paranoid. mit stimme, trompete und viel elektronik steuern lena geue und pablo gīw von der seitenbühne suggestiv-wirre klangskulpturen bei, ein teils beängstigender sound, der zum sujet genau so passt wie die nervige redundanz, ohne die der abend auch nicht auskommt. der mensch ist gefangen in einem system, das er je länger je weniger zu durchschauen vermag. kafka sezierte scharf und er liebte die vitalität des theaters, das „kafka-projekt“ in basel würde ihm gefallen: der ganze irrsinn der welt, eingeklemmt zwischen 338 schubladen.