Montag, 28. März 2022

BELLINZONA: BANDELLA VISTA MARE

mitten in bellinzona, auf halbem weg zwischen dem städtischen rathaus und dem kantonalen regierungsgebäude, steht ein kleines schmuckstück, das von aussen kaum als solches wahrgenommen wird. unauffällige, fast fensterlose fassaden, doch im innern: oho. das teatro sociale, das stadttheater von bellinzona, ist eine art puppenhaus-version der mailänder scala, mit drei rängen, auf die sich dutzende von kleinen logen verteilen, alles goldverziert, dazu ein kronleuchter und ein roter samtvorhang. in diesem allerliebsten theäterchen haben wir uns allerdings kein öperchen zu gemüt geführt, sondern die bandella vista mare. und wie der name der formation verspricht, nehmen die zehn männer das publikum mit auf eine reise vom tessin ans meer, musikalisch ebenso abwechslungsreich wie professionell. bandella, das ist die alte tessiner blasmusik-tradition, walzer, polkas, märsche, je merlot desto fröhlicher und flotter. angereichert wird der rasante rausch bei der bandella vista mare mit einem sopransaxophon und einer bassklarinette, die jazzigen groove auf höchstem niveau beisteuern, und einem melancholischen akkordeon. unter der leitung von peter zemp richtet diese bande eine veritable klangorgie an, unweigerlich geht das kino im kopf ab: vom tessiner dorffest, das klerikal beginnt und ganz unklerikal ausartet, über die cascina california, eine spelunke in der mailänder peripherie, wo auswanderer, arbeiter, intellektuelle und reiche gleichermassen willkommen sind und stuhl an stuhl sitzen, bis zum kakophonischen sturm über dem golf von la spezia. diese musik erzählt geschichten, farbigste geschichten. fellini, an dessen soundtracks man permanent denken muss, hätte seine helle freude.

Dienstag, 22. März 2022

MÜNCHEN: ERNST IST DAS LEBEN (BUNBURY)

gentleman sein, mit allem stil und allen verpflichtungen, ist furchtbar anstrengend: kein platz für dekadenz, keine zeit fürs laster. oscar wilde, der wusste, wovon er sprach, führt in seiner „besten komödie“ (wilde über wilde) die ultimative lösung vor: doppelleben. und philipp arnold führt im münchner volkstheater jetzt quasi die ultimative inszenierung dieser ultimativen komödie vor, die hier – in der pfiffigen übersetzung von elfriede jelinek – „ernst ist das leben (bunbury)“ heisst und alles auf die spitze treibt. alles. john erfindet einen bruder ernst in der stadt, um dem landleben entfliehen zu können. algy erfindet einen bruder ernst auf dem land, um mal aus der stadt weg zu können. die echten gentlemen und die falschen brüder kreuzen sich im grandios-farbversoffenen kulissenkitsch (viktor reim), halten inkognito um hände an, verwirren mit ihrem ernst-sein vormund und tante und priester und stiften ernstliche erotische verwirrungen, was die regie noch weiter ausreizt, indem sie den einen gentleman mit einer frau besetzt, die ihrerseits wieder aussieht wie oscar wilde auf dem zenit seines dandytums. alles klar? macht nichts. pascal fligg als tante augusta (im hochgeschlossenen mit würgekragen und mit zwei ausgestopften flamingos auf dem breitrandigen hut) und ein irre konditioniertes ensemble knallen diese komplikationen-kiste mit spiellust und mit sprachwitz dermassen temporeich auf die bretter, dass man selbst beim zuschauen beinahe ins schwitzen kommt. die variante doppelleben kommt schlecht weg, die society kommt schlecht weg – oscar wilde hat sie mit spitzer feder erstochen.

 

Montag, 14. März 2022

GENÈVE: DIE HUPPERT IM KIRSCHGARTEN

isabelle huppert live! die dame, man darf es anerkennend bemerken, wird bald 70 und ist nicht nur in ihren filmen immer noch ein ereignis, sondern auch im theater. knallgrüne hose, knallgelbe bluse, elegant geschnittener roter mantel, pechschwarze fingernägel, tänzelnder schritt – so betritt die huppert die breite, fast leere bühne der neuen comédie in genf als ljubow ranjewskaja, die verarmte gutsbesitzerin in tschechows „la cerisaie“. tiago rodrigues, der erste nicht-franzose, der chef des theaterfestivals von avignon wird, inszeniert diesen abschied von der alten welt zwischen baumelnden kronleuchtern und dutzenden von abgesessenen stühlen. wenn die huppert auf den kirschgarten blickt, der einst die perle des landguts und der stolz der sippe war, blickt sie ins leere, in den dunklen zuschauerraum. manchmal schmunzelt sie dabei leise in sich hinein, manchmal hat sie tränen in den augen, einmal fegt sie in ihren high heels einen wilden flamenco auf die bretter: erinnerungen werden wach, vor allem in den wortlosen szenen, wenn sie wie in einem traum zum stillen zentrum in einem herumwuselnden ensemble wird. es sind grosse, berührende momente, wenn diese frau, die den verkauf des geliebten landguts mit ihren angehäuften schulden selber provoziert hat, der vergangenheit nachtrauert und gleichzeitig die zukunft im auge hat, die völlig anders sein wird. das grosse verdienst von tiago rodrigues ist es, dass er alle anderen – familie, freunde, gäste, bedienstete – nicht zu blossen stichwortgebern für die diva degradiert, sondern höchst individuelle figuren zeichnet, die alle anders umgehen mit den unvermeidlichen veränderungen. ist es täuschung, dass wir kriegsgeräusche zu hören glauben, als der kirschgarten abgeholzt wird? dann wäre der grundton dieser inszenierung doppelt tröstlich: trotz verlorenen illusionen kräfte für einen aufbruch mobilisieren.