Donnerstag, 30. Januar 2020
LUZERN: FAUX TERRAIN
eine junge frau verirrt sich auf das faux terrain vor
dem bourbaki-panoramabild. dann verirrt sie sich während der luzerner fasnacht.
dann verirrt sie sich in der zivilschutzanlage sonnenberg. dann verirrt sie
sich ins kunstmuseum, wo ein haufen schlecht gebriefter statisten eine
evakuation simuliert, respektive zu simulieren versucht. dann sehen wir ein verschneites
felsmassiv. alles klar? was sich wie eine mässig gelungene bewerbungsarbeit für
eine filmhochschule anfühlt, füllt den grössten (!) von sieben räumen, den das
luzerner kunstmuseum dem berliner künstler clemens von wedemeyer zur verfügung
stellt. „faux terrain“ nennt sich das video, das raumhoch und raumbreit an die
wand projiziert wird. ich muss nicht alle kunst auf anhieb verstehen, es reicht,
wenn sie mich anspricht, anregt, assoziationen auslöst und gedanken mäandrieren
lässt. doch hier: keine inspiration, keine kohärenz. was will die frau? was
will der künstler? mich mit dilettantismus ärgern? „die orte verweisen auf
räumlich, zeitlich und inhaltlich weit voneinander entfernte momente“, lese ich
im ausstellungsbeschrieb. aha. hübsche kuratorenumschreibung für diese totale
zusammenhanglosigkeit. „eine reflexion über ort und zeit“. nochmals aha. bei
mir löst das subito eine reflexion über die relevanz einzelner kunstwerke aus
und wie sich die grösse des raums, in dem sie gezeigt werden, umgekehrt
proportional zu dieser relevanz verhalten kann. wir schauen uns dann in den
räumen nebenan die „jahresausstellung zentralschweizer kunstschaffen“ an, als
trost quasi. doch diese leistungsschau ist dieses jahr auch kein wirklicher
trost. das kunstmuseum im moment also eher das falsche terrain.
Montag, 27. Januar 2020
STRASBOURG: PARSIFAL
wie soll man sich parsifal heute nähern, diesem naiven
jüngling, der zum gralskönig mit erlöser-lizenz avanciert? der japanische
regisseur amon miyamoto erzählt richard wagners epos an der opéra national du
rhin in strasbourg als coming-of-age-geschichte: ein junge, auch optisch
parsifals alter ego, sieht sich in einem modernen museum die ausstellung „l’humanité“
an (was im französischen sowohl menschheit als auch menschlichkeit bedeutet). die
bilder faszinieren ihn, er fiebert, der parsifal-mythos wird lebendig:
klingsors zauberwelt ein thriller, die blumenmädchen fantasy-kitsch, die
gralsritter schwer versehrte kriegsheimkehrer aus verschiedenen jahrhunderten
und weltgegenden. miyamoto entwickelt in diesem museum einen bilderrausch, der
das unterschwellige, vieldeutige, das wagner so liebte und beherrschte, aufnimmt
und auf die spitze treibt. der junge und mit ihm das publikum stehen vor immer
neuen fragen, denn die utopie vom besseren menschen in einer gewaltlosen welt wird
durch aktuelle bilder von waldbränden, bombeneinschlägen usw. immer
wieder konterkariert. das wirkt gelegentlich überladen, doch es harmoniert bestens
mit wagners verschatteten motiven und expressiven klagen, die dirigent marko
letonja mit dem orchestre philharmonique de strasbourg intensiv ausmalt. die
strassburger oper, aktuell das „opernhaus des jahres“, gönnt sich auch für
diese produktion eine formidable besetzung: thomas blondelle ein in allen facetten
strahlender parsifal, christianne stotijn eine wunderbar wandelbare kundry,
ante jerkunica ein gurnemanz voller empathischer wärme. am ende seines
museumsbesuchs umarmt der junge sie alle freudig und dankbar. sie haben ihm die
augen geöffnet, er ist schlauer geworden und er gibt – ganz parsifal 2020 –
nicht auf.
Dienstag, 21. Januar 2020
MÜNCHEN: IM WINTER
ist es zufall oder absicht? ironie
oder verzweiflung? die pinakothek der moderne in münchen zeigt gerade die
ausstellung „im winter“. ausgerechnet jetzt, wo wir im flachland bereits ernsthaft
die möglichkeit ins auge fassen müssen, dass dieser winter der erste sein
könnte, wo kein einziges mal schnee vor unseren häusern und auf den strassen
liegt. „im winter“, das sind schwarz-weiss-aufnahmen, die der leidenschaftliche
fotograf und skiläufer albert renger-patzsch von den 1920ern bis in die 1960er
machte. ihn faszinierte, wie schnee und eis und die speziellen
lichtverhältnisse die natur auf extreme reduzieren. seine sujets suchte er
nicht in idyllischen landschaften, sondern in der nähe, am möhnesee am rand des
sauerlands oder bei einer zeche in essen. die bilder zeigen das schöne im
unspektakulären, ein zauber fürs auge. und wer erinnert sich noch, wie die
dicken flocken und die schneedecken den stadtlärm dämpften? „im winter“ ist quasi das bonus-programm zu den
fridays-for-future-demos. und ein sentimental journey. endlich können wir unseren grosskindern zeigen, wie
das mal war. was für eine grossartige idee: der winter! jetzt im museum!
Samstag, 18. Januar 2020
MÜNCHEN: LULU, ENTSCHÄRFT
virginie
despentes´ „king kong theorie“, anna gien, sheila heti, judith butler: das
programmheft zu „lulu“ ist eine feministische kampfschrift. die knapp zwei
stunden im marstall des münchner residenztheaters dann vergleichsweise harmlos.
drei aussergewöhnliche schauspielerinnen unterschiedlichen alters – charlotte schwab
(67), juliane köhler (54), liliane amuat (31) – verdreifachen die verführende
und mordende lulu von frank wedekind und damit auch die perspektive des
publikums. regisseur bastian kraft steckt die drei in elegante schwarze fracks,
was einerseits ein pendeln zwischen den geschlechterrollen begünstigt und
anderseits das revueartige des abends unterstreicht („ich muss sie leider
enttäuschen, ich zieh` mich heute nicht aus“). ganz wunderbar spielen die drei
lulus mit den erwartungen und projektionen der männer – und sie spielen diese
männer gleich mit, teils auf der bühne, teils in videos auf grossleinwand, ein
grandioses vergnügen, wie sie von masken- und kostümbildnerinnen in dr. schön,
alwa, goll, schwarz und schigolch verwandelt wurden und wie perfekt die
dialoge zwischen den vorproduzierten sequenzen und der live-performance
funktionieren. formal also ein kurzweiliger, geglückter abend. und sonst? würde
ich diese lulu heiraten wollen, mit ihrer million und trotz ihrer
vorgeschichte? frage nicht ich mich, sondern fragt sie mich und alle anderen
männer. immer wieder blickt eine der drei konspirativ ins publikum und stellt
sich vor, was wir denken, wenn wir denken, was sie denkt, wenn sie über uns
nachdenkt: ein vexierspiel mit emotionen, klischees und der frage nach
der wandelbarkeit der identität. doch das programmheft hat uns in die irre
geleitet, dem ganzen fehlt die emanzipatorische schärfe. diese drei frauen hätten
bestimmt mehr drauf.
Mittwoch, 15. Januar 2020
MÜNCHEN: THE VACUUM CLEANER
„er
hat versprochen, dass es komisch wird.“ so zitieren die münchner kammerspiele
in ihrer saisonvorschau den japanischen autor und regisseur toshiki okada.
komisch? okada verhandelt in seinem neuen stück „the vacuum cleaner“ das
hikikomori-phänomen: menschen, die mit 50 noch bei ihren hochbetagten eltern
leben und kaum oder gar nicht mehr aus dem haus gehen; rund eine million sollen
das in japan bereits sein. homare ist eine von ihnen: annette paulmann, mit
schwarzem pony, hängt in den drei verschachtelten, fensterlosen zimmern herum,
sie ist der gesellschaft abhanden gekommen, kein bezug, keine perspektive,
keine energie. lustlos lässt sie die beine von der galerie baumeln, lustlos
beobachtet sie die leeren papierkassettenwände, mit dem ebenfalls noch zuhause
wohnenden bruder spricht sie nicht. nur der titelgebende staubsauger lockt sie
ab und zu aus der reserve. kein wunder, julia windischbauer ist als sauger eine
wucht, mit skurrilen geräuschen und asynchronen bewegungen wird er zum
epizentrum der gewichenen emotionen. zu seinem lärm schreit sich homare die
seele aus dem leib, verwünscht die ganze pathologische gesellschaft, verwünscht
vor allem ihren herumsalbadernden vater (walter hess, prächtig senil), fragt
sich manchmal, ob sie ihn umbringen könnte, und kommt ganz ungerührt zum
schluss: eher er sie. dann malt sie sich im detail aus, wie es sein wird, wenn
das blut aus ihren adern spritzt und das bisschen leben, wenn man das noch so
nennen kann, aus ihr weicht. komisch? eher liegt eine tragikomische melancholie
über diesem abend – und die schwere ahnung, dass „the vacuum cleaner“ nicht
einfach ein ethnologisch-scharfer blick in die weite ferne ist. die hikikomori werden
als massenphänomen auch andere am leistungsdruck leidende erdteile erobern.
Dienstag, 14. Januar 2020
ROM/MÜNCHEN: IBSEN ALS TRENDSETTER
"es gibt nur zwei städte, in denen man leben kann: rom und münchen." der ultimative city-tipp von henrik ibsen (1828-1906). wo er recht hat, hat er recht. es ist allerdings davon auszugehen, dass er nie in luzern war. und ernest hemingway (1899-1961) formulierte mit beinahe schon trumpscher radikalität: "fahren sie gar nicht erst woanders hin, ich sage ihnen, es geht nichts über münchen. alles andere in deutschland ist zeitverschwendung."
Mittwoch, 1. Januar 2020
LUZERN: CARMEN.MAQUIA
carmen kauert am äussersten bühnenrand, am abgrund in
den orchestergraben, als sie ihre tarotkarten legt und immer wieder den tod
zieht. sie singt nicht. das luzerner theater zeigt den spanischen evergreen in
einer tanzversion, die gustavo ramirez sansano unter dem titel „carmen.maquia“
vor acht jahren für chicago kreiert hat. carmen am abgrund also. und nicht nur
sie. ramirez sansano führt menschen in psychischen extremsituationen vor. seine
choreografie kehrt das innenleben der figuren nach aussen, versteckte emotionen
brechen sich bahn in vertrackten, eruptiven bewegungen. flamencogeklapper und
die körpersprache von stieren und toreros klingen zwar auch immer wieder an,
doch die psychologie zwischen carmen, don josé, escamillo und ihrem umfeld
interessiert ihn weit mehr als die oberflächliche folklore. leidenschaft,
eifersucht, rache, todesgedanken, die offensichtlichen und die verdrängten
konflikte vermischen sich zu einem ungezügelten, wilden und temporeichen drama,
das umso faszinierender wirkt, weil auch die szenerie und die kostüme nicht wie
sonst üblich von flammendem rot dominiert werden, sondern ausschliesslich
schwarz und weiss gehalten und von picasso inspiriert sind: klischee- und
kitschfaktor null also, hochlöblich. neben den carmen-suiten von bizet
erklingen auch jene von tarkmann und die carmen fantasy von sarasate. william
kelley entlockt dem luzerner sinfonieorchester hübsch aufgeraute melodiebögen. gelegentlich
allerdings sind sie dermassen aufgeraut bis geradezu garstig, dass die frage
erlaubt sein muss, ob sich einige im orchester – vor allem bei den tiefen
streichern und im blech – den ausgiebigen silvestertrunk bereits vor statt erst
nach der vorstellung genehmigten.
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