Freitag, 28. April 2023

ASCONA: NANDA VIGO

der enorm coole sessel „chair due più” ist das bekannteste objekt der mailänder architektin und designerin nanda vigo (1936-2020): zwei fellbespannte rollen auf unterschiedlicher höhe, die durch ein stahlrohrgestell verbunden werden. das museo comunale d´arte moderna in ascona (ja, das gibt´s, gut versteckt im alten ortsteil) zeigt jetzt in einer grossen retrospektive, was die dame sonst noch drauf hatte. dass sie schon als jugendliche total auf science fiction stand, vor allem flash gordon hatte es ihr angetan, beeinflusste ihr ganzes üppiges schaffen. vor allem ihre ungewohnten lichtobjekte aus den sechziger und siebziger jahren müssen dem damaligen publikum tatsächlich wie signale aus der zukunft erschienen sein. was auf den ersten blick wie art pour l’art wirken mag, gewagte installationen aus spiegeln und meist knallfarbigen neonröhren, oft auch hart an der grenze zum kitsch, waren nanda vigos experimente mit licht und reflexionen. „cronotopia“ hiess die devise, die fusion von zeit und raum, sie wollte damit stimmungen generieren, ihr publikum triggern. einzelne objekte oder ganze räume spielen mit der dynamik des lichts, werden zu magischen orten: die impulse, die das auge aufnimmt, sollen zu „viaggi delle memorie e della mente“ führen. derart suggestive beleuchtung hielt dann, jahre später, auch in allen angesagten theatern einzug, die lichtdesigner lösten vielerorts die bühnenbildner als stimmungszauberer ab. nanda vigo hinterliess spuren. ein schwarz-weiss-bild in der ausstellung zeigt sie 1964 in der jenny-bar im mailänder künstlerviertel brera. 17 männer – architekten, maler, designer – und eine frau. eine einzige, ziemlich abgeklärte frau. auch dieses bild beweist: nanda vigo war eine der ersten, sie war früher da als andere.

Sonntag, 23. April 2023

LUZERN: DÜRRENMATT UND DAS NEUE THEATER

und was meint eigentlich friedrich dürrenmatt zum geplanten theaterneubau? „es spricht nicht gegen die stadt, dass die pläne noch nicht verwirklicht sind. besser kein theaterleben als ein hochsubventioniertes mittelmässiges, wie es in der deutschen schweiz getrieben wird.“ hoppla. besser kein theaterleben, sagt einer, der vom theater lebt. der kritische einwand galt natürlich nicht den plänen in luzern, sondern jenen in seiner wahlheimat neuchâtel. dürrenmatt formulierte ihn in seinem autobiografischen text „vallon de l’ermitage“ in den achtziger jahren. der alte meister lebt nicht mehr, schnee von gestern also? immerhin mag die dürrenmattsche intervention zu gedanken über das verhältnis von verpackung und inhalt anregen, über die architektur und die kunst, die darin produziert wird. garantiert ein bau auf der höhe der zeit auch für theater auf der höhe der zeit? oder ist es nicht gerade umgekehrt so, dass bescheidene räume und mittel zu kreativen höchstleistungen führen? beides ist möglich, für beides gibt es grossartige beispiele. kein theaterleben, lieber dürrenmatt, ist keine option. theater spiegeln die gesellschaft und beleben sie, sie sind vitaminspritzen für eine stadt. luzern braucht dringend ein neues theater, über verpackung und inhalt darf weiter gestritten werden, damit eben nicht hochsubventioniertes mittelmass resultiert. das neue théâtre du passage in neuchâtel wurde dann übrigens doch noch realisiert. zur einweihung spielte man „die ehe des herrn mississippi“, ein stück von – genau! – dürrenmatt. der war da schon zehn jahre tot. 

Samstag, 22. April 2023

NEUCHÂTEL: DIE SIXTINISCHE KAPELLE

ein einarmiger fisch, ein papst im kleinformat und mit gefährlich-grünlichem gesicht, ein wankender babylonischer turm, ein urinierendes skelett und überall fratzen, düstere fratzen. wo bitte sind wir da? auf der toilette von friedrich dürrenmatt, zweieinhalb quadratmeter gross, gibt 14 quadratmeter wand- und deckenfläche, die der hausherr minutiös vollgepinselt hat. der begnadete dichter war ja auch ein begnadeter maler und nirgendwo treffen sein literarisches und sein künstlerisches schaffen so unmittelbar zusammen wie an diesem stillen örtchen, das die dürrenmatts schalkhaft ihre „sixtinische kapelle“ nannten. michelangelos meisterwerk hatte dürrenmatt bei seiner romreise 1966 nachhaltig beeindruckt - und ihn wenig später zu seinem spontanen toiletten-fresko animiert. dutzende, vielleicht hunderte figuren und motive aus seinen texten tauchen hier auf engstem raum auf, ohne zusammenhang, farbenfroh und grauenvoll, witzig und bitterbös: „the happy pessimist“ wurde er in new york mal genannt. mario botta hat die toilette prominent in seinen umbau des centre dürrenmatt in neuchâtel integriert. aber toilette bleibt toilette, also eng. deshalb widmet das centre der sixtinischen kapelle jetzt eine sonderausstellung, die den vielen sujets und bezügen in einem anderen raum nun angemessen platz gibt. das kleine geschäft wird zum grossen welttheater und macht enorm lust, dürrenmatt wieder aus dem bücherregal zu holen, den grossen grantler und noch grösseren visionär. apropos visionen: im nächsten raum hängt zentral ein deprimierend-dunkles ölgemälde mit dem titel „letzte generalversammlung der eidgenössischen bankanstalt“. dürrenmatt malte es vor 57 jahren.   

Donnerstag, 20. April 2023

STANS: PALABRAS URGENTES

nächsten monat wird sie 79. man könnte jetzt schreiben, dass sie bedeutend jünger aussieht, dass man ihr dieses alter nie geben würde – doch vielmehr ist es so: susana baca, die peruanische sängerin, scheint ein altersloses wesen zu sein. in einem strahlend weissen kleid mit einem strahlend weissen schal betritt sie wie eine magierin aus einer fernen welt die bühne im theater an der mürg, wo sie den eröffnungsabend der stanser musiktage bestreitet. sie betritt die bühne? auch das trifft es nicht: susana baca schwebt, tänzelt und schlängelt zu den afro-peruanischen rhythmen und wie in zeitlupe legt sie mal den kopf mit der eleganten grauen kurzhaarfrisur in den nacken oder bewegt ihre schlanken arme kreisförmig und ausladend. „palabras urgentes“ lautet der titel ihres programms, ihre lieder handeln von kämpferischen frauen, vom recht auf bildung, von widerstand, von freiheit. auch gedichte von pablo neruda hat sie vertont. zwei, drei worte sagt baca jeweils zu den songs, im flüsterton, fast meditativ und doch so eindringlich, dass ihre persönliche betroffenheit immer mitschwingt. susana baca war immer auch politisch engagiert, unter anderem als peruanische kulturministerin. dies ganze viereinhalb monate lang, bis sie mit dem gesamten kabinett aus protest gegen ein umstrittenes bergbauprojekt demissionierte. der kämpferische ton lebt in der stimme dieser grazilen diva weiter; eine stimme, so frisch und präsent wie die sechs jungs ihrer band, die ihre söhne oder enkel sein könnten und diesen mix aus folk und jazz, aus lateinamerika und afrika ganz formidabel begleiten und beleben. susana und ihre musiker, das ist ein generationenübergreifendes projekt der mitreissenden art.

Dienstag, 18. April 2023

MÜNCHEN: GREEN CORRIDORS

die frisch manikürte hand einer frau, die tot am boden liegt – dieses bild aus butscha, das viral ging, wird in den münchner kammerspielen gross an die wand projiziert. darunter entwickelt sich eine diskussion über nagellack, eine frau möchte die selbe farbe. es ist diese absurdität, dieses unmittelbare nebeneinander von krieg und alltag, das sich durch „green corridors“ zieht. die ukrainische dramatikerin natalia vorozhbyt hat dieses stück im auftrag der kammerspiele für das festival „female peace palace“ geschrieben, das sich dem mut und den visionen von frauen im widerstand widmet. vier sehr unterschiedliche frauen (drei von ihnen werden von ukrainerinnen gespielt) sind auf den zivilen fluchtkorridoren unterwegs in ein anderes leben: eine mit drei kindern, eine mit zwei katzen und russischer mentalität, eine mit einem tonnenschweren ego und eine, die nicht aus angst weggeht, sondern weil es ihre erste möglichkeit ist, sich von der mutter zu lösen. vorozhbyt erzählt diese transit-biografien mit schwarzem humor und regisseur jan-christoph gockel lässt sie so frontal spielen, dass sie massiv einfahren. „wo hat europa seine augen?“ steht als frage immer im raum. europa wird personifiziert in der figur einer beamten, die sich den flüchtlingen gegenüber zuerst peinlich verhält, dann durchdreht, und schliesslich tut ihr – zu spät – alles leid. ja, europa! ein subtil-suggestiver soundtrack und comicartige live-zeichnungen begleiten die reise durch die träume und albträume dieser frauen, und spotartig wird auch noch der gewaltsame tod dreier persönlichkeiten aus der ukrainischen geschichte abgehandelt. der abend ist überfrachtet – und er ist berührend und beängstigend und chaotisch wie das leben in zeiten des krieges.

Freitag, 7. April 2023

ZÜRICH: DAS GEWITTER UND DIE KUNST DES STERBENS

das kleine theater neumarkt in zürich legt gerade das grandioseste theatergewitter hin: in sekundenbruchteilen verdunkelt sich die szenerie, aus den boxen pisst es massivst, aggressive stroboskopblitze durchzucken den raum, der donner grollt und knallt bedrohlich, minutenlang, die perfekte illusion – und kein tropfen wasser. der österreichische regisseur franz-xaver mayr präsentiert mit „das gewitter“ ein stück, nein, eine performance über das enden der zeit. sofia elena borsani, sascha özlem soydan und robert rožić spielen total speedig-spleenig drei junge menschen, die auf der flucht vor einem gewitter unterschlupf in einem gruselhaus finden und hier, während der sand unaufhörlich von der decke rieselt, auf sich selbst zurückgeworfen werden, auf ihre vergänglichkeit und endlichkeit. noch einmal erinnern sie sich, an den campari am meer, an die schrägsten orgasmusgeräusche, an mehr-generationen-überforderungsprojekte und wie weinen ihr leben bereichert hat. spielend bewältigen sie wahnwitzige textkaskaden und, das war die vorgabe der regie, in den lücken zwischen den worten lauert der tod. die lücken haben es also in sich: es ist zeit, abschied zu nehmen. immer wieder muss man an herrn geiser aus max frischs „holozän“ denken, der beim gewittersturm im valle onsernone in endzeit-panik gerät. doch im gegensatz zu dem einsamen, alten mann sind die drei fragezeichen, pardon, die drei freunde nicht auf ihre eigene endlichkeit fixiert, hier punktet die neue generation, sie denkt über sich hinaus: alles geht zu ende, der wald bedankt sich bei den spielenden kindern und verabschiedet sich, die sonne kündigt ihr auslöschen an. zwischen pop und poesie weitet dieses famose bühnengedicht unseren blick auf die kunst des sterbens.  

Donnerstag, 6. April 2023

RIEHEN: PALIMPSEST

hiwet bekit, elaha azizi, yusuf hasso, rehan kurdi, aisha alsaho, beren hussein, haidar abbas, noman safi, malika ahmadi, mayar lababidi, ahlan burhan….. namen, viele namen, 171 sind es insgesamt. es sind die namen von migrantinnen und migranten, die auf der suche nach einem besseren leben in europa bei der überquerung des meeres ertrunken sind. diese namen stehen auf 66 sandfarbenen bodenplatten, die den turnhallengrossen raum in der fondation beyeler in riehen vollständig bedecken. die installation „palimpsest“ der kolumbianischen künstlerin doris salcedo ist ein eindrückliches mahnmal gegen gewalt und gegen das vergessen. man kann auf diesen platten umhergehen wie auf einem riesigen gräberfeld, die namen lesen, innehalten, diesen unbekannten menschen stille gedanken widmen. die namen sind teils mit feinem sand von der unterlage farblich abgesetzt, teils scheinen sie sich wie aus wassertropfen zusammenzufügen, die dann wieder versickern. die künstlerin nimmt damit den kreislauf von einschreibung und auslöschung auf, deshalb „palimpsest“, wie die alten schriftrollen, die durch schaben oder waschen gereinigt und dann neu beschrieben wurden. weitere menschen werden das gleiche schicksal erleiden, das unerhörte wiederholt sich, weitere namen werden dazu kommen, die spuren anderer werden sich verlieren. man geht und steht und ist bedrückt von der endlosen und sinnlosen leere, die diesen riesigen raum füllt: hinter den 171 namen stehen 171 geschichten, die wir nicht kennen, von denen wir nur wissen, dass sie zu früh und grausam zu ende gegangen sind.