Sonntag, 30. Juli 2023

PORCARESC: DIARIO DI MAGGIA

die wetterprognose: durchzogen bis entmutigend. das wetter dann: traumhaft. der zweckoptimismus wird belohnt, wir wandern von cimalmotto über den passo di cavegna und die alpe porcaresc nach zott im vergeletto. vielseitiger geht´s nicht: dunkle wälder, tiefe schluchten, feuchte moore, sonnengewärmte geröllhalden, weit ausladende alpen. man sieht diese landschaft, und mehr noch als diese bilder wirken die gefühle, die sie hervorruft. genau so muss es der künstlerin eliška bartek ergehen. die gebürtige tschechin lebt in berlin und abwechslungsweise im tessin. von harald szeemanns ehemaliger fabbrica rosa in maggia, wo sie lange wohnte und arbeitete, zog sie jeden tag um zehn uhr los mit ihrem hund, stundenlange spaziergänge irgendwo zwischen val bavona und ponte brolla und, retour in ihrem atelier, malte sie ihre eindrücke, die schönheiten dieser berge und bäche ebenso wie das rauhe und versehrte. so entstand der prächtige bildband „diario di maggia“ (2019), rund 60 aquarelle, geordnet nach den vier jahreszeiten. die subjektiven empfindungen beim durchstreifen der tessiner täler finden ihren niederschlag in diesen kraftvollen bildern: deshalb sind bäume hier auch mal violett oder rot, bäche anthrazitfarben und olivgrün, felsen gelb und orange. dieses tagebuch ist ein feuerwerk der impressionen, sie könnten als perfekte plakate für tessin-werbung genau so gut herhalten wie für psychologische studien. der maler in hermann hesses erzählung „klingsors letzter sommer“ muss in dieser gegend ähnlich intensive farberlebnisse gehabt haben: „sommer hauchte heiss über den berg, licht floss senkrecht herab, farbe dampfte hundertfältig aus der tiefe herauf.“ wandern, wirken lassen: eliška barteks bilder weisen den weg, wie die landschaften vor unseren augen zu landschaften in unserer seele werden.

Samstag, 22. Juli 2023

MÜNCHEN: JEEPS

der eine (alt) nennt sie ebenso beharrlich wie verächtlich „jeeps“, die luxusschlitten des geldadels. der andere (jung) legt grossen wert darauf, eben nicht irgendeinen „jeep“ zu besitzen, sondern einen mercedes, einen hochklassigen mercedes-geländewagen. die beiden arbeiten im jobcenter, ein sehr ungleiches team, der alte leger und abgebrüht, der junge streberhaft korrekt. in „jeeps“ von nora abdel-maksoud, das sie selbst an den münchner kammerspielen urinszeniert hat, dreht sich alles um gesellschaftliche gerechtigkeit, um klassenunterschiede und chancengleichheit: wer braucht wieviel zum (über)leben? wer gibt was ab? die 400 milliarden, die in deutschland jedes jahr vererbt werden, werden hier neu verteilt – per los im jobcenter!!! das theater denkt sich eine erbrechtsreform aus, inclusive nebenwirkungen. eine erfolglose, langzeitarbeitslose schriftstellerin und eine leicht durchgeknallte start-upperin fallen über die beiden sachbearbeiter her, wollen geld, wollen ein los, rivalisieren, fuchteln mit einer pistole, lassen per fernbedienung aus versehen einen „jeep“ hochgehen: prekariat und beamtentum im vollclinch. ausschliesslich auf der leeren vorbühne liefern sich die vier ihre bizarren duelle, eva bay, gro swantje kohlhof, stefan merki und vincent redetzki jagen die bösartigsten pointen durchs triste jobcenter und entlarven - auch im höllentempo noch perfekt harmonierend – die ganze absurdität der deutschen sozialbürokratie. die strukturellen schwächen von staat und gesellschaft in form einer komödie: geht nicht, denkt man vorab. geht doch, weiss man danach. geht doch und tut beim lachen weh. 

Mittwoch, 19. Juli 2023

MÜNCHEN: MUTTER**LAND

„wir tanzen mit unseren gespenstern.“ mal keine verspannung, wenn’s um die vergangenheit geht. nein, die deutsche musikerin bernadette la hengst versucht in ihrem programm „mutter**land“ der geschichte der nation und den geschichten ihrer familie ausgesprochen spielerisch zu begegnen. gemeinsam mit ihrer tochter ella, mit videos, songs, performance und bildern aus dem familienalbum folgt sie den spuren ihrer längst verstorbenen mutter gitti, die von schlesien in die ddr flüchten musste, von dort nach nordrhein-westfalen, dann zeitweise im libanon und in syrien lebte. dieser tanz mit den gespenstern von gestern und vorgestern, jetzt zu gast im werkraum der münchner kammerspiele, ist exemplarisch für zahllose biografien und deshalb absolut kurzweilig und inspirierend auch für nicht direkt beteiligte. was machen fluchterfahrungen mit einem menschen? was bewirken familientabus bei den folgenden generationen? was wollen wir mehr gewichten, die vergangenheit oder die zukunft? oft habe sie sich in ihrem leben entweder am falschen ort oder in der falschen zeit gefühlt, sagt bernadette la hengst. umso eindrücklicher, wie locker sie ihre suche nach identität und heimat jetzt revue passieren lässt. und für die suche nach der richtigen antwort auf die nicht immer einfache frage, wo man sich zuhause fühlt, liefert sie schliesslich einen überzeugenden vorschlag: drei dimensionen seien dafür entscheidend – beziehungen (klar), rituale (stimmt) und (ebenso überraschend wie einleuchtend) einschränkungen, oder eben keine einschränkungen. tanzen wir weiter durch unser vater- oder mutterland. oder ist heimat doch nur ein ewiger traum?

Dienstag, 18. Juli 2023

LUZERN: NUR FRAUEN

auf einer geburtstagssause sitze ich mit einer frau am tisch, die von den männern enttäuscht ist und deshalb nur noch literatur von frauen liest. ausschliesslich und ultimativ. die männer wird sie so kaum besser verstehen. natürlich empöre ich mich subito über diesen einfältigen ansatz und die daraus resultierende eindimensionale weltsicht. um dann allerdings festzustellen, dass ich (zufall?) in letzter zeit auch fast ausschliesslich bücher von frauen gelesen habe – und zwar, und dies jetzt ganz ohne rangfolge oder sonstige bewertung:           
            martina clavadetscher, vor aller augen
            sarah kane, gier
            olga tokarczuk, empusion
            mina hava, für seka
            dörte hansen, zur see
            virginia woolf, orlando
ich als mann fände es ausgesprochen bedauerlich bis jämmerlich, nur noch bücher von männern lesen dürfen zu wollen (an dieser formulierung habe ich lange gearbeitet!! quasi fakultativer imperativ.....). als nächstes jetzt allerdings doch wieder eines von einem:
            fjodor dostojewski, der doppelgänger (die restaurierte urfassung)

Sonntag, 16. Juli 2023

KIEL: LIQUID POEM

„the world is a stage but the play is badly cast.” die neonschrift hängt dominant in der stadtgalerie kiel und sie ist programm. das zitat von oscar wilde hat den hamburger künstler filip markiewicz zu einer überbordenden schau inspiriert. er strebe nicht danach, ein gesamtkunstwerk (siehe wagner, siehe warhol) zu erschaffen, auch wenn die summe seiner arbeiten etwas ergeben könnte, das von aussen betrachtet wie ein gesamtkunstwerk aussieht, sagte er erfrischend unbescheiden in einem interview. markiewicz´ bilder und videos erinnern an die zerfliessenden objekte von salvador dalí, die aluminium-skulpturen von jeff koons, die kackefarbenen alltags- und arbeitsweltpanoramen von neo rauch, alles überlappt, wahrheit und künstliche intelligenz, alles fliesst ineinander: „liquid poem“ lautet der titel der ausstellung. markiewicz zitiert und kopiert, recycelt und sampelt malerei und songs und digitale animation und will die welt nicht neu erfinden, sondern so zeigen wie sie ist – bunt (the stage) und chaotisch (the cast): david bowie guckt depressiv, romy schneider trieft vor öl, madonna ist auch da und hamlets schädel in polierter bronze. hamlet hat ihn auch zu einer performance angeregt, theater und video, über das verhältnis von kunst und politik, wo endet das eine, wo beginnt das andere. alles drin, schon bei shakespeare. und jetzt, intermezzo, ein grosses kompliment an die stadt kiel: sie räumt der kunst viel und prominenten platz ein, zentral und niederschwellig im neuen rathaus mitten in der stadt, die riesige fläche der ehemaligen posthalle. viel platz also, wo einer wie markiewicz sich austoben kann („ein post-popkulturelles spektakel“) und das publikum trotzdem noch luft kriegt. the world is a stage….. die ganze widersprüchlichkeit der welt in einer halle, übermütig und schwermütig.

Montag, 10. Juli 2023

HAMBURG: DIE UNVOLLENDETEN

die jugend erobert die elbphilharmonie. im rahmen des tonali festivals, das die klassische musik auf innovative weise für die zukunft retten will, haben sich profis mit 12 schulklassen aus 12 unterschiedlichen hamburger stadtkreisen über schuberts unvollendete siebte sinfonie hergemacht: was hörst du? was löst das bei dir aus? wozu inspiriert es dich? die ergebnisse wurden jetzt beim schlusskonzert im - welche ehre - grossen saal der elphi dargeboten: improvisationen, träume, spektakel, witzig, ernsthaft, poetisch. alles umrahmt von schuberts original mit dem jungen tonali-orchester, dirigiert vom 23jährigen energiebündel aurel dawidiuk - und musikalisch absolut auf der höhe des ehrwürdigen hauses. von den galerien, über die treppen und durch die reihen spielten sich dann, auf schlicht bezaubernde weise miteinander über die instrumente interagierend, zwei musikerinnen und sieben musiker des stegreif orchesters richtung podium, richtung schubert - und übernahmen mit einem das publikum subito ansteckenden, grossartigen klassik-remake. das stegreif orchester ist preisträger des mit 25'000 euro dotierten tonali awards (motto: "mut zur utopie"). wenn das so weiter geht mit der power all dieser unvollendeten, braucht man sich um die zukunft der klassischen musik kaum sorgen zu machen. so viel optimismus, so viel bewegung, so viel leben war wohl noch selten in der elbphilharmonie.

Sonntag, 2. Juli 2023

GISWIL: DIONYSOS IS BACK

wie es mit dem „obwald“ weitergeht, ist offen….. das schrieb ich hier vor einem jahr, als beim legendären volkskulturfest im wald bei giswil eine ära zu ende ging, nach 16 von martin hess und fabian christen geprägten ausgaben. die gute nachricht: es geht weiter. nackt und wohlig liegt dionysos in den büschen beim eingang zum festgelände, der gott des rausches, der freude, der ekstase. das ist doch schon mal ein versprechen. und jetzt die sehr gute nachricht: wie beschwingt die neue crew mit tobias lengen als präsident, roman britschgi als musikalischem leiter und selma wick als moderatorin die nicht ganz einfache kurve ins neue zeitalter nimmt, ist schlicht toll. nicht verkrampft bewegen sie sich in den fussstapfen ihrer vorgänger, sondern hochmotiviert und selbstbewusst. britschgi lebte lange in wien, hatte dort intensiven kontakt zur musik aus dem balkan und lud für sein „obwald“-debut jetzt formationen aus bulgarien ein. hier, in thrakien, entstand der dionysos-kult. aber auch 500 jahre belagerung durch die osmanen haben spuren hinterlassen in diesen melodien, viel melancholie, viel moll. doch immer wieder spielen sich diese bulgarinnen und bulgaren frei von der last der vergangenheit, dann wird´s laut und wild. die wladigeroff-zwillinge laufen in den komplexen ungeraden taktarten zu höchstform auf und landen von den traditionellen liedern aus den weiten der donauebene schnurstraks im freejazz. fast beiläufig wird so das musikalische spektrum am „obwald“ erweitert. im zentrum, noch mehr als bisher, stehen die begegnungen der kulturen, das verbindende der musik: drei alphörner ertönen zusammen mit drei rhodopischen sackpfeifen, vier urbane jodlerinnen stimmen ganz selbstverständlich in die archaischen weisen dreier frauen aus thrakien ein, das moll aus bulgarien mischt sich mit dem in der schweizer volksmusik vorherrschenden dur. das ist der geist des „obwald“, er lebt weiter. ganz beruhigt darf dionysos seinen rausch ausschlafen.