wo bleibt unser auge hängen? warum bleibt es da hängen? und wie lange? wodurch wird es wieder abgelenkt? die bilderflut, der wir in der digitalen welt ausgesetzt sind, hat ein verstörendes ausmass angenommen. bereits im ersten raum des fotomuseums winterthur werden wir, auf einem riesigen screen, mit bildern bombardiert: frauen, schmuck, promis, werbung, noch mehr frauen, alles wild, alles schnell, die wirkung schon fast hypnotisch. „the lure of the image“ heisst die ausstellung im attraktiv umgebauten und soeben wiedereröffneten museum. sie lässt uns über unser rezeptionsverhalten reflektieren, aufmerksamkeitsökonomie heisst das zauberwort: unsere aufmerksamkeit ist eine knappe ressource, also wird darum gebuhlt, wir werden geködert mit optischen reizen, bilder fesseln uns und oft täuschen sie uns ganz gezielt. viele der 14 ausstellenden künstlerinnen und künstler zeigen mit fotos, videos und installationen, wie im weiten feld zwischen selbstinszenierung und fremdbestimmung neue realitäten entstehen, das kann mal ganz unterhaltend und witzig sein (emojis mit neuer bedeutungsebene), es kann pervers sein (verniedlichung von gewaltvollen inhalten) und es wird für propagandazwecke immer wieder übelst missbraucht (gefaktes „beweismaterial“ für verschwörungstheorien). zoé aubry widmet sich in ihrem raum einem grauenvollen femizid in mexiko, wo bilder des verstümmelten opfers durch korrupte behörden in die sozialen medien gerieten. unter dem hashtag #ingridescamillavargas bildete sich dann eine initiative, deren ziel es war, diese illegalen bilder mit abertausenden fotos von sonnenuntergängen, lavendelfeldern, traumstränden aus dem netz zu schwemmen – auf dass künftige online-suchen nach ingrid nur noch mit schönen bildern verknüpft werden. widerstand im netz, auch das gibt´s erfreulicherweise. und es funktioniert.
BRANDER LIVE .
DER KULTUR-BLOG. DER ES AUF DEN PUNKT BRINGT.
Sonntag, 29. Juni 2025
Samstag, 28. Juni 2025
GISWIL: BODÄSTÄNDIX US KUBA
¡qué fiesta! das gastland kuba macht die 19. ausgabe des volkskulturfests obwald im wald bei giswil zur grandiosen party mit hoher glücksquote. obwohl, wir wissen es, „es gibt einfachere länder als kuba“, sagt moderatorin selma wick bei der begrüssung: stromausfälle, notstand bei lebensmitteln und benzin, tödliche folgen medizinischer unterversorgung, das land leidet enorm. doch eines lassen sich diese menschen nicht nehmen: ihre musik, ihre rhythmen, rumba und son, ihre ausgelassenen tänze und die gesänge, mit denen sie die götter immer wieder anrufen, auch wenn diese götter offensichtlich schlecht hören. musik ist für die kubaner lebenselixier und ablenkung. los cimarrones und die santiago all stars beweisen beim obwald drei stunden lang, welch befreiende kraft in dieser musik steckt, welche lebensfreude, welcher lebenswille, das bebt, das knallt, das bringt das blut zum kochen, das reisst mit. wie immer lebt das obwald auch von den kontrasten: rein optisch ist der jodlerklub luegisland aus entlebuch-ebnet der maximale gegensatz zu kuba, keine bewegung, kein augenzwinkern in dieser männerrunde – doch durchs band glasklare stimmen und naturjodel vom allerfeinsten. wie jedes jahr beobachtet man als zuschauer fasziniert, wie sich die gäste aus der ferne und die einheimischen musikerinnen und musiker dann zunehmend anfixen und hochschaukeln. plötzlich trommelt der elegante kubaner im anzug und mit hut nicht nur wild auf seinen bongos und congas, sondern auch auf vier milchkannen aus dem muotathal, und plötzlich realisiert man, wie sehr sich die erotisch-ekstatischen balztänze der jungs von bodäständix aus dem kanton schwyz und die balztänze aus havanna gleichen – und beim finale dann prompt zur weltumspannenden balzerei vermischen, zu der auch das publikum unter dem weiten zeltdach tobt. das ist obwald, so muss es sein. das herz geht auf.
Donnerstag, 26. Juni 2025
SACHSELN: МИР – ХУДОЖНЯ ВИСТАВКА
das haus der orgel- und kammermusik in dnipro in der ukraine ist ein bijou. es befindet sich in der ehemaligen orthodoxen st.nikolaikirche mit ihren verspielten kuppeln, säulen, goldenen zwiebeltürmchen. falsch: dieses haus war ein bijou, die russen haben es 2022 zerbombt. mit präzisen, hübschen kugelschreiber-zeichnungen hat daria lutsyshyna eine ganze reihe solcher ukrainischer kulturstätten festgehalten, die es unterdessen nicht mehr gibt. sie sind jetzt – zusammen mit den werken von 18 weiteren künstlerinnen und künstlern – im museum bruder klaus in sachseln zu sehen. über ihre zeichnungen lässt lutsyshyna per videoprojektion zivilflugzeuge fliegen, eine eindrückliche installation: erinnerungsarbeit und gleichzeitig hoffnung, denn die zivilflugzeuge sind ein symbol für frieden, da sie nur in einem sicheren luftraum fliegen dürfen. „frieden – мир – художня виставка“ heisst die ausstellung, in der sich die ukrainischen künstlerinnen und künstler dem thema ganz unterschiedlich nähern. frieden? das wort löst ambivalente gefühle aus: einige haben es in früheren zeiten als von oben verordnete ruhe erlebt, stummschaltung abweichender meinungen; für andere ist es ein politisches konzept, das der utopie näher ist als der realität; wieder andere sehnen sich einfach nach stille, nach erholung von diesen unmenschlichen strapazen, nach spiritualität und innerer stärke. und immer wieder dringt die sorge durch, dass hier nicht nur sinnlos menschen sterben und quartiere zerstört werden, sondern dass irgendwann in der erschöpfung die nationale und reiche kulturelle identität der ukraine verloren geht. dieses ende wäre die tragischte form von frieden. der besuch dieser ergreifenden ausstellung ist ein zeichen der solidarität.
Samstag, 21. Juni 2025
LUZERN: DAS ENDE DES THEATERS?
falls die luzerner theaterdirektorin ina karr 2027 neue generalintendantin der deutschen oper am rhein wird (düsseldorf/duisburg) – und im moment sieht es ganz danach aus –, ist das eine mittlere katastrophe. nicht für die deutsche oper am rhein und nicht für ina karr, aber für luzern. der absprung könnte das ende des luzerner theaters besiegeln. tönt dramatisch, ist es auch. warum? erstens hat ina karr hier einen bis 2031 verlängerten vertrag, den sie also vier jahre vorher kübeln möchte – womit sie dann ab sofort gedanklich am rhein wäre statt an der reuss. zweitens ist die zukunft des luzerner theaters, sowohl als bau wie als institution, im moment dermassen offen, dass die überstürzte neubesetzung der direktion energien bindet, die jetzt prioritär für architektonische und inhaltliche diskussionen gebraucht werden. drittens dürfte es für die stimmung und motivation der mannschaft in diesen ungewissen zeiten nicht eben förderlich sein, wenn kapitänin karr jetzt als erste von bord geht – zumal attacken eines übermotivierten opernliebhabers gegen operndirektorin ursula benzing für zusätzliche unruhe im haus sorgen. viertens ist es schon unter normalen umständen schwierig bis unmöglich, im komplexen theaterbetrieb innerhalb von nur zwei jahren eine neue direktion zu berufen. fünftens wird sich in der aktuellen situation kein kompetenter theatermensch auf das abenteuer luzern einlassen, wo baulich und menschlich vieles bröckelt; im besten fall wäre die übernahme dieses jobs rufschädigend, im schlechteren ein selbstmordkommando. man muss sich die ganze dramatik vor augen führen – und nicht wegschauen: das theater brennt. zuerst der negative volksentscheid zum neubau, jetzt der drohende abgang der intendantin, deutlich mehr probleme als lösungen: das luzerner theater brennt.
Freitag, 20. Juni 2025
LUZERN: AUFRUHR UND SCHÜSSE IM KKL
diese musik wühlt auf. man hört schüsse, immer wieder schüsse. die sinfonie nr. 11 von dmitri schostakowitsch beschäftigt sich mit dem 22. januar 1905 (oder 9. januar nach dem damals in russland gültigen julianischen kalender), der als petersburger blutsonntag in die geschichte einging. mehr als 30´000 arbeiter demonstrierten in der stadt. die palastwache des zaren feuerte in die menschenmenge, es gab viele tote, das brutale massaker war der beginn der russischen revolution. schostakowitsch zeichnete in seiner sinfonie 1957 ein schonungsloses bild dieser ereignisse, in g-moll, dunkel und schwer, jetzt umwerfend dargeboten vom luzerner sinfonieorchester unter seinem chefdirigenten michael sanderling: es breitet sich eine unruhe aus, der man sich nicht entziehen kann. im ersten satz wird die zunehmende anspannung auf dem palastplatz fast physisch spürbar, im zweiten satz dann die schüsse der soldaten, das orchester scheint zu explodieren, das schlagwerk kommt nicht zur ruhe, endlos kommen einem diese schüsse vor, das grauen, die panik, das chaos, eine steigerung ins unerträgliche – danach tiefe trauer und am schluss ein sturmgeläut, ein freiheitslied, hoffnung auf politische veränderung. diese sinfonie ist geschichte, politik, mahnmal und kino in einem. ganz ähnlich konzipiert auch benjamin brittens violinkonzert in d-moll, das julia fischer im ersten teil des abends interpretierte, ein virtuoses spiel zwischen bedrohlichen, verzweifelten und zuversichtlichen sequenzen. britten, der komponist und pazifist, stand damals unter dem schock des spanischen bürgerkriegs und wohl in vorahnung des zweiten weltkriegs. mit diesem konzert, düster und heftig, lieferte das luzerner sinfonieorchester einmal mehr den beweis, dass es mittlerweile zu recht zu den absoluten top-orchestern gehört, auf internationalem niveau.
Mittwoch, 18. Juni 2025
ESPOO: 1. AUGUST
interessant, wie sich ein finnischer schriftsteller den 1. august in der schweiz vorstellt: „korpelas bus samt passagieren traf am morgen des ersten august in zürich ein. in der stadt wurde gerade das kartoffelerntefest gefeiert. aus den kartoffelproduzierenden kantonen war die landbevölkerung gekommen, um ihre ernte zu feiern. diese war dem vernehmen nach hervorragend ausgefallen. der sommer war sonnig und windstill gewesen, die kartoffelfäule war den äckern ferngeblieben, und deshalb waren alle so glücklich. so mancher hält die schweizer für recht einfache vertreter der alpenrasse, aber man kann sagen, was man will, von kartoffeln verstehen sie etwas.“ der bus aus finnland fuhr dann weiter nach luzern, wo die passagiere schweigend über die alten holzbrücken schritten – und: sie „blickten nachdenklich in den türkisfarbenen schäumenden wasserfall.“ atemberaubend, der luzerner wasserfall….. die beiden sequenzen sind dem roman „der wunderbare massenselbstmord“ von arto paasilinna entnommen. er lebte in espoo-westend bei helsinki und schrieb 36 romane. da staunt man als recht einfacher vertreter der alpenrasse nicht schlecht – und freut sich bereits aufs nächste kartoffelerntefest.
Montag, 16. Juni 2025
OBERRIEDEN: STRYX
eine junge heilerin und der dorfpfarrer werden mitten in einem kleinen bauerndorf an einen pfahl gefesselt, rücken an rücken, das stroh zu ihren füssen wird angezündet, die beiden verbrennen – unter den augen der dorfbevölkerung und eines widerlichen kardinals und seiner lakaien. wir sind im jahr 1583 im italienischsprachigen teil graubündens. diese szene ist der dramatische höhe- und der inhaltliche tiefpunkt des filmprojekts „stryx“, das jetzt bei „kultur im winkel“ in oberrieden seine deutschschweizer première erlebte. 40´000 bis 60´000 menschen wurden in westeuropa zwischen dem 15. und dem 18. jahrhundert als hexen und hexer verfolgt und umgebracht, allein in der schweiz geht man von 6000 aus. dieses dunkle kapitel wollten die beiden tessiner filmemacherinnen camila koller und thania micheli, die selber die hauptrollen spielen, mit „stryx“ aufgreifen. als basis für ihre fiktive geschichte, die als webserie konzipiert ist (6 teile à 8 bis 15 minuten, jetzt auch bei play rsi und auf youtube), dienten ihnen vor allem die protokolle der hexenprozesse im puschlav. mit starken bildern und ausschliesslich tessiner darstellerinnen und darstellern gelingt es ihnen, das grauen der inquisition fassbar zu machen, die das friedliche nebeneinander unterschiedlich denkender menschen in den dörfern für immer zerstörte: spitzel wurden eingeschleust, unschuldige menschen ausgehorcht und – die parallele zur gegenwart – vor allem frauen, die mehr wussten und mehr wollten als andere, wurden zur zielscheibe. „stryx“ wurde im alten dorfteil von moghegno im maggiatal und in der kirche von giornico in der leventina gedreht und gewann beim renommierten webfest von los angeles den hauptpreis und beim webfest von new york den preis für den besten soundtrack – beachtliche auszeichnungen für eine, wie die beiden initiantinnen sagen, "zero-budget"-produktion.
Donnerstag, 12. Juni 2025
MÜNCHEN: SAUHUND
nein, dieser junge hat’s nicht leicht: er steht auf männer, er steht auf frauenkleider, er kommt vom land, er sucht in der stadt die freiheit und die lust, er hat panische angst vor aids, er heisst flori. „sauhund“ war vor zwei jahren der debütroman des 29jährigen lion christ und wird jetzt in einer bühnenfassung an den münchner kammerspielen gezeigt – ein blick zurück in die jahre, als es jimi hendrix und freddie mercury in den münchner clubs krachen liessen, als anderseits die schwulen angesichts der hiv-pandemie von der offiziellen bayerischen politik übelst stigmatisiert wurden, eine höchst ambivalente zeit. mit schwarz-weiss-bildern aus den 70ern und 80ern, videos von demos und alpin inspirierten sounds fangen florian fischer und ludwig abraham die stimmung im bayernland präzis ein, ihre inszenierung wird zum doku-drama. gespielt wird ausschliesslich auf der vorbühne, grossaufnahme sozusagen, man bleibt nah dran, vor allem an elias krischke, als flori eine top-besetzung: strohblonde stoppelfrisur, leuchtende augen, ein zarter kerl, der seinen körper liebt, er schminkt sich, wirft sich in grelle klamotten, wirft sich in die queere szene, die ihn immer wieder überfordert. wir begleiten einen sensiblen jungen mann, dem zunehmend die koordinaten abhanden kommen: „ich vermisse niemanden mehr und niemand vermisst mich.“ war das wirklich das ziel? – edmund telgenkämper spielt wunderbar wandelbar all die männer, die flori trifft, gregor, kenny, miguel, jakob, alte, junge, mal schneller sex, mal grosse liebe. und annette paulmann gibt absolut hinreissend frauen aus drei generationen: floris ausgepumpte mutter, floris aufgekratzte jugendfreundin und die alte frau eichinger, mit der er sich als zivi im pflegeheim anfreundete. mit nur drei personen auf der bühne wird „sauhund“ zum grossen gesellschaftspanorama. doch ist diese inszenierung mehr als ein schmerzhaftes, auch voyeuristisches blättern im album? ja, eine aufforderung zu mehr toleranz, mehr empathie, aktiver solidarität, echter freundschaft.