Mittwoch, 28. Juli 2021

MÜNCHEN: 9/26

9/11! jeder erinnert sich, jede hat mitgefühlt. 9/26? am 26. september 1980 nach 22 uhr explodierte beim haupteingang zum oktoberfest eine bombe. 13 tote, 221 verletzte – und am nächsten morgen öffnete die wiesn wieder pünktlich um zehn, als wäre nichts gewesen. wer erinnert sich, wer hat mitgefühlt? dass dieser anschlag beinahe aus dem öffentlichen gedächtnis verschwunden ist, das wollen die münchner kammerspiele nicht stehen lassen. unter der leitung von christine umpfenbach entstand mit ensemblemitgliedern und schauspielschülerinnen ein rechercheprojekt, das auf der basis von interviews mit betroffenen die geschichte aufrollt. sie erinnern sich und wollen, dass auch wir uns erinnern. erinnern an einen damals 13jährigen, der seine zwei jüngeren geschwister verlor und dessen zwei ältere geschwister sich in den jahren danach aus verzweiflung das leben nahmen; erinnern daran, wie sehr franz josef strauss im wahlkampf 1980 die massen aufhetzte; erinnern daran, dass der attentäter schnell zum einzeltäter erklärt und die ermittlungen trotz vielen offenen fragen und offensichtlichen widersprüchen nach kurzer zeit eingestellt wurden („die ermittlungsbehörden mögen einzeltäter“); erinnern daran, wie die überlebenden opfer sich freuten, als der generalbundesanwalt das verfahren 2014 wieder aufnahm, dann aber von beamten gedemütigt und erniedrigt wurden – so sehr, dass einzelne von ihnen panik packte, weil sie das gefühl nicht los wurden, von der justiz nicht als opfer, sondern als mögliche mittäter behandelt zu werden; erinnern daran, dass der gründer der wehrsportgruppe hoffmann, mit dessen neonazi-netzwerk der oktoberfest-attentäter in verbindung stand, auch 2021 immer noch vorträge hält. die bunten ballone auf der bühne weichen zunehmend schwarzen. 9/26 war der grösste rechtsextreme terroranschlag in der geschichte der bundesrepublik deutschland. warum, das ist die einzige frage, die offen bleibt, warum zeigen die kammerspiele „9/26 – das oktoberfestattentat“ im kleinen werkraum - statt dieser wichtigen recherche auf der grossen bühne den rahmen und die breitenwirkung zu geben, die sie verdienen?

Dienstag, 27. Juli 2021

MÜNCHEN: DEKALOG

paare, passanten, gauklerinnen, flaneure, hyperaktive männer, hektische frauen, geniesserinnen und spiesser: die ganze bühne ist in bewegung wie seinerzeit bei peter handkes wortlosem stück „die stunde da wir nichts voneinander wussten“. ein junger mann im grünen trainingsanzug und mit rollbrett unter dem arm singt dazu arien von purcell und monteverdi („lasciatemi morire“, bisschen früh noch). aus diesem rumgewusel heraus entwickelt calixto bieito am münchner residenztheater mit 20 schauspielerinnen und schauspielern und einigen kindern die 10 geschichten, mit denen krzysztof kieslowski in seinen „dekalog“-filmen die 10 gebote aus heutiger sicht gespiegelt hat: eine frau will die abtreibung ihres unehelichen kindes vom tod ihres schwerkranken ehemannes abhängig machen; ein junger anwalt verteidigt einen jungen mörder und kommt mit seinem gewissen nicht klar; ein vater verführt seinen sohn zu einem physikalischen experiment auf einem gefrorenen see und verschuldet damit dessen ertrinken; eine frau macht sich das kind ihrer tochter zu ihrem eigenen; undundund. in der mitte der riesigen bühne dominiert ein videobespielter event-kubus, der die digitale gegenwart symbolisiert, und an der rampe, nahe beim publikum, spielen sich die dramen und geheimnisse des alltags ab. „was ist richtig und was ist falsch?“, es sind immer die gleichen fragen und sie bleiben immer ohne antwort. kein moralischer dekalog wird hier aufgefächert, sondern ein gesellschaftliches panorama, alles sehr subtil, alles sehr intim und: „ergebnisoffen“, wie der moderne coach sagt. calixto bieito, vor nicht allzu langer zeit der laute provokateur unter den regisseuren, hat zum differenzierten kammerspiel gefunden. auch gut.