Dienstag, 29. August 2023

WIEN: BLICK AUF DIE UKRAINE

immer wieder unterdrückt. immer wieder niedergemacht. die ukraine ist schon lange ein gebeuteltes land. tanja maljartschuk hielt es nicht mehr aus, bereits vor zwölf jahren ging sie weg und lebt heute in wien. 2018 gewann sie den ingeborg-bachmann-preis. aus distanz blickt die ukrainische autorin auf ihr land, aus distanz leidet sie mit ihrer familie, ihren freundinnen, ihrem volk. und sie leidet aus distanz nicht weniger. der band „gleich geht die geschichte weiter, wir atmen nur aus“ (kiepenheuer&witsch) versammelt jetzt 21 ihrer prägnanten essays, die zwischen 2014 und 2022 erschienen. mit worten arbeitet sie sich ab an den traumata ihrer nation und findet immer wieder eine sprache für das unaussprechliche. nach der unabhängigkeit 1991 erschien ihr „die ukraine als eine einzige eklige wunde, voller gebrochener menschen, die ihre vergangenheit nicht kannten und an ihre zukunft nicht glaubten.“ ein neues vaterland? stolz? eine illusion! „die ukrainer wollten entweder keine ukrainer sein, oder sie schämten sich, ukrainer zu sein.“ auf die frage, welche fünf positiven eigenschaften die ukraine habe, würden millionen schweigen. jahrzehnte, jahrhunderte haben ihre spuren hinterlassen. maljartschuk sieht überall persönlichkeitsstörungen: in der modernen psychologie spreche man vom borderlinesyndrom; dieser begriff, normalerweise auf individuen bezogen, passe gut zu ihrem ganzen land - identitätkrisen, labilität, beziehungsstörungen. zwischendurch blitzt zwar hoffnung auf, in einem sprachkurs, beim kochen, bei demos. doch mehr als kurze blitze sind dies nicht. „für entwicklung braucht es ruhe. diese ruhe hat die ukraine nicht.“ man versteht die mentalität dieser verunsicherten und versehrten nation besser, wenn man dieses buch gelesen hat. „für mein tapferes land“ lautet die widmung auf der ersten seite.

Sonntag, 27. August 2023

LUZERN: ORESTIE

es war ein kraftakt für alle beteiligten. und es sieht super aus. eine alte mosterei aus dietwil wurde im bauch des luzerner theaters wieder aufgebaut, der offene riegelbau füllt bühne und saal, das publikum sitzt drumrum. die 150 jahre alten balken bilden den rahmen für die 2400 jahre alte geschichte von den schwer traumatisierten königskindern elektra und orest, die ihre mutter umbringen, um deren mord am vater zu rächen. wie in jedem schuppen zwischen reiden und riemenstalden hängen da rostige pfannen, ein kleiner traktor und staubige fahnen stehen rum, ein paar räucherschinken modern noch. dieses szenografische konzept von valentin köhler soll einen unmittelbaren zugang zum alten drama erzeugen und zudem lust machen auf die flexiblen möglichkeiten im angedachten theaterneubau. damit alle mal was zu sehen bekommen, wird zwischen den balken und über treppen enorm viel rumgestiegen und mit live-video an die nicht-sehenden übertragen. bisschen viel, das alles. bisschen zu viel. die beabsichtigte unmittelbarkeit und nähe wird durch das aufwändig installierte gebäude im gebäude eher behindert als gefördert. das mindert nicht die kraft der sprache; raoul schrott holt mit seiner nachdichtung euripides ins heute, mit dramatischer wucht wird die frage nach schuld und recht verhandelt. und es mindert nicht die leistung des ensembles, das die seelischen abgründe dieser blutrünstigen sippe präzis und differenziert offenlegt. die hauptrolle in dieser inszenierung von schauspielchefin katja langenbach spielt das unterbewusstsein, es flirtet um jede ecke, radikalisiert die einen und legt bei den anderen die nerven blank, albtraumhaft geistern hier auch die toten und die abwesenden durch inzest- und terrorphantasien. der familienfluch lastet gewaltig. ob man ihn je los wird? vom emotionalen chaos zum hollywoodmässigen happy-end (absolution durch die schöne helena) geht´s dann allerdings etwas gar zügig. ein spektakel also zur saisoneröffnung, mit einigen abstrichen, aber durchaus ein spektakel.

Mittwoch, 9. August 2023

LOCARNO: WANHA MARKKU

als kind hatte markus toivo immer angst vor seinem vater. nicht dass der ihn körperlich misshandelt hätte, nein, er hatte angst, weil der vater ihn, das kind, nie anschaute. markus toivo ist eines von sieben kindern. als 30jähriger hat er die beziehung zum vater jetzt filmisch verarbeitet. „wanha markku“ (der alte markus) läuft im rahmen der semaine de la critique am festival in locarno. der sohn – autor, regisseur und hauptdarsteller in personalunion – schweisst mit seinem vater ein tor für die einfahrt zum haus in der finnischen pampa und nutzt diese gelegenheit, um ihn in gespräche zu verwickeln, meistens beim handwerk, ab und zu auf zwei stühlen in auffälligem abstand. sie reden und sie schweigen, biographiearbeit, autotherapie: dieser film ist keine high-end-produktion, sondern die abbildung eines intuitiven prozesses, sehr intim, sehr berührend. der vater war in toivos kindheit vor allem abwesend: er kam von der arbeit als zahnarzt erschöpft nach hause und stürzte sich gleich in seine bastelbude, ohne mit der familie zu essen. dann war er acht jahre auf un-mission in den golanhöhen. und nach den wenigen heimatbesuchen war sich die familie einig, dass es ohne diesen vater besser lief. markus toivo war ein einsames kind, kein vater, keine freunde, er wollte nicht wachsen. und mit brutaler deutlichkeit zeigt der film, dass sich auch einsam fühlen kann, wer vier brüder und zwei schwestern hat. viel eis in dieser familie. der vater, im alter durchaus nicht unsympathisch, zitiert oft gedichte, einmal von einem jungen, der sich dem tod näher fühlt als dem leben. in diesem gedicht habe er sich wiedererkannt, sagt der alte markku - und der junge markus fühlt dasselbe. doch beide geben nicht auf: „das ziel ist lieben und geliebt werden. es braucht noch viel, bis wir am ziel sind. gibt es überhaupt ein ziel?“

Dienstag, 8. August 2023

HAMBURG: DAS KIND UND DIE FREUDE

"als kind wollte ich gerne ein kaffeebauer in brasilien werden, ich wollte es deswegen, weil alle um mich so gern kaffee tranken, ich wollte für etwas arbeiten, das freude brachte."
statt kaffeebauer in brasilien ist saša stanišić dann schriftsteller in hamburg-altona geworden. bringt anderen auch freude.

Samstag, 5. August 2023

LOCARNO: MANGA D´TERRA

rosinha schlägt sich durch. die junge frau ist von den kapverden, wo sie ihre beiden kinder zurückliess, nach lissabon gekommen, um geld zu verdienen und das dann in die heimat zu schicken. eine zukunft sucht sie, doch in den verwinkelten gassen von reboleira findet die zukunft nicht statt. sondern gewalt, prostitution, kriminalität, polizeirazzien, hier herrschen ödnis und perpektivenlosigkeit. in „manga d`terra“, dem einzigen film eines schweizers im diesjährigen wettbewerb von locarno, erzählt basil da cunha, der filmemacher aus morges, der seit bald 15 jahren in reboleira lebt, zwei geschichten: jene einer frau, die kämpft, und jene eines quartiers, das viele aufgegeben haben. da cunha hat auch laien spielen und improvisieren lassen, keifende frauen in einem coiffeursalon, zugedröhnte jungs, was der fiktiven geschichte von rosinha einen dokumentarischen hintergrund verleiht. immer wieder blitzt in dieser trostlosigkeit auch solidarität und wärme durch. wohl deshalb gibt rosinha trotz vielen tiefschlägen (sie verliert den job, sie gerät an peinliche machos) nie auf und verfolgt ihren traum, sängerin zu werden, beharrlich weiter. eliana rosa spielt die rosinha authentisch, sympathisch und mit immer neuen frisuren, ein äusserliches zeichen für ihre emotionalen wechselbäder. und sie ist eine grosse sängerin! ihre lieder gehören zu den berührendsten und privatesten momenten in diesem film; dass da cunha sie dabei in zunehmend intensivere, bedeutungsschwangere scheinwerferfarben taucht, ritzt allerdings im übermass die grenze zur sozialromantik. rosinha besingt die bösen geister in der fremden stadt, die liebe einer mutter und am ende, in einer schäbigen taverne, umgeben von all ihren reboleiros, die mango, die frucht ihrer kapverdischen heimat (daher der filmtitel). auch sie sei eine frucht dieser insel, auch sie wachse und gedeihe auch anderswo. die hoffnung ist stärker als die realität.

Mittwoch, 2. August 2023

HELLBÜHL: ECHO VOM EIERSTOCK

jodel am 1. august. was denn sonst? allerdings ganz anders als sonst. über die landesgrenzen hinaus bekannt (zdf, hamburger abendblatt, süddeutsche zeitung) wurde die formation wohl vor allem wegen ihrem namen: echo vom eierstock! das kann man besonders originell finden oder provokativ oder geschmacklos. nun wollen wir aber nicht streiten am 1. august, nein, wir wollen sie endlich mal live hören. also auf nach tannhüsern, 30 fussminuten ausserhalb von hellbühl, ein lieblich in der luzerner landschaft liegender hof, wo sich die bauernfamilie bühler ein ausgesprochen sympathisches, kleines festival gönnt. mit – unter anderen – den eierstöcken. sie jodeln, was das zeug hält, sie packen einen subito: 30 frauen unter der leitung von simone felber, nicht in tracht und haube, sondern in sehr urbanem outfit. sie lieben die traditionelle volksmusik, aber hinterfragen und demontieren die allzu idyllischen, alltagsfernen, frauenfeindlichen texte, respektive lassen sie sich von zeitgeistigen autorinnen und autoren wie martina clavadetscher, béla rothenbühler oder jana avanzini um- oder neu schreiben. ein feministischer jodelchor – das ist natürlich eine kampfansage. also singt diese frauenschar nicht mit leidensmiene gegen zu liebe müettis und zu viel morgenrot an, sondern frisch und frech und freudvoll. alte und neue melodien, melancholisches und witziges, politisches und poetisches: feminismus macht spass, es ist eine wahre freude! in den absolut perfekt dargebotenen jodelliedern geht´s jetzt plötzlich um kinderwünsche in konfusen zeiten, mehr frauen in der politik, lohngleichheit und frauenstreik. „holleri du dödel du“ – sie jodeln, bis die frauen am ziel sind, also vermutlich noch lange.