Montag, 15. Oktober 2018
LYON: MEFISTOFELE
die
ouverture ist noch nicht zu ende, die 36 seziertische im labor des dr. faust sind
erst dürftig abgewischt, da metzelt mefistofele mit dem stellmesser unschuldige
kinder in weissen overalls nieder, worauf sich ebenfalls blendend weisse engel
auf ihn stürzen und ihm das herz aus der brust schneiden. es kann losgehen. arrigo
boitos „mefistofele“ (1868), der sonst oft als windig-charmanter seelendealer gezeigt
wird, ist in der inszenierung von alex ollé und seiner künstlerbande la fura
dels baus an der oper lyon ein gefährlicher psychopath, jeder empathie unfähig.
der kanadische bass john relyea ist dafür die idealbesetzung, ein brocken von
mann mit einer abgrundtief orgelnden stimme, furchterregend wie ein
durchgeknallter finnischer holzfäller. fausts reise durch die hölle wird hier
zu einer reise durch die kranken gedanken und blutigen visionen des
mefistofele. er ist der gnadenlose manipulator. in seiner phantasie endet
fausts kurzzeit-braut margherita nicht verbittert im kerker, sondern
spektakulär auf dem elektrischen stuhl. das sind bilder, wie sie la fura dels
baus lieben: lichtorgien, bühnenrauch, immer neue treppen vom himmel zur hölle,
glitzerkostüme und federboas, ein visueller rausch. diese überbordende effektlust
deckt die schwächen des abends weitgehend zu: die unausgegorenen längen der
partitur, das solide, aber doch sehr plakative dirigat von daniele rustioni, die
kurzatmige, unsichere stimme von paul groves‘ faust. für ihn gibt’s in dieser
horrorwelt weder erleuchtung noch erlösung; auch er wird von mefistofele am
schluss brutal gemeuchelt, orchester-fortissimo, gute nacht, du schlechte welt.
Donnerstag, 11. Oktober 2018
ZÜRICH: WAHLVERWANDTSCHAFTEN
platz frei für goethes laborratten. das labor auf der bühne des zürcher schauspielhauses ist ein sich nach hinten verjüngendes spiegel-und-neon-raumschiff. in diesen kalten, geschlossenen raum setzt regisseurin felicitas brucker den roman "wahlverwandtschaften", für den goethe chemische experimente der anziehung und abstossung auf menschen übertrug: ein ehepaar und zwei gäste verlieben sich über kreuz, das verhängnis nimmt seinen lauf, am ende drei tote. abgesehen von ebenso unnötigen wie dämlichen musikeinlagen (marcel blatti) gelingt der regisseurin ein dichtes, zunehmend deprimierendes arrangement, welches das feinstoffliche der dialoge, monologe und erzählpassagen herausarbeitet, den fatalen widerstreit von leidenschaft und vernunft, von entgrenzung und entsagung. „aufräumarbeiten im liebeschaos“ heisst es im programmheft treffend. die chemie (um bei goethes ausgangspunkt zu bleiben) zwischen den vier schauspielern stimmt ganz offensichtlich so hervorragend, dass in jedem augenblick der rasanten eineinhalb stunden völlig klar bleibt, dass die chemie zwischen den figuren eben nicht stimmt, in dieser versuchsanordnung nie stimmen kann. vor allem der charlotte von julia kreusch im frech kurzen knallorangen kleidchen gelingt es dabei überzeugend, goethes mittlerweile etwas entfernte sprache in einen absolut heutigen tonfall zu bringen, charlotte 1809 glaubwürdig als charlotte 2018. es ist ein grosses verdienst des theaters, auch romane, die trotz ihrer zeitlosen gültigkeit in den hintergrund geraten sind, wieder ans licht zu holen, auch wenn dieses licht dann grell und kalt ist. hier ist es die kälte der dating-welt. goethes laborratten sind mitten unter uns.
Mittwoch, 10. Oktober 2018
ZÜRICH: EINE VERSION DER GESCHICHTE
ist das nicht die stimme von babik auf diesem tonband? unser grossvater? die uralte aufnahme in armenisch weckt erinnerungen und wirft fragen auf. für ihr preisgekröntes stück „eine version der geschichte“ (2018) nahm simone kucher das grosse schweigen um den genozid an den armeniern (1915) als ausgangspunkt. eine berliner violinistin mit armenischen wurzeln, ihr bruder, ihre mutter, ein dirigent mit türkischen wurzeln und ein alter mann sind auf spurensuche. marco milling setzt und stellt sie in seiner inszenierung in der kammer des zürcher schauspielhauses in eine art tonstudio, eingepfercht wie in einem wartezimmer, ausgestellt wie in einem schaufenster, ausweichen unmöglich. spotartig folgen sich kurze begegnungen, kurze sequenzen über das erinnern. wie hat die geschichte unserer familie mit der geschichte unseres volkes zu tun? die autorin interessiert sich für das kleine im grossen, das private im politischen. die einen möchten viel wissen und immer noch mehr, die anderen möchten vergessen. die einen sind überzeugt, dass logik hilfreich ist bei der kombination von erinnerungsfetzen, andere stört sie nur. tut erinnerung weh oder tut sie gut oder beides? warum erinnern wir uns an vieles erst nach jahren? weil wir früher nicht konnten oder weil wir nicht wollten? fünf personen auf der suche nach – sich selbst. ein ernstes konversationsstück und gleichzeitig ein sehr poetisches puzzle. "nach und nach wird das unfassbare fassbar, das abstrakte konkret." vielleicht und vielleicht auch nicht. was sind geschichten und was ist wahrheit? der armenische grossvater begann seine erzählungen immer so: es war oder es war nicht.
Sonntag, 7. Oktober 2018
PARIS: ZWEI, DIE MIT 28 STARBEN
egon
schiele lebte von 1890 bis 1918, jean-michel basquiat von 1960 bis 1988. beide
starben mit 28, schiele an der spanischen grippe, basquiat an einer überdosis. die
fondation louis vuitton im bois de boulogne in paris kombiniert das werk vom
anfang und jenes vom ende des vergangenen jahrhunderts zu einer riesigen, faszinierenden schau – überbordend wie das fieberhafte
künstlerleben der beiden: wiener moderne meets street art. im untergeschoss
schieles grenzerfahrungen zwischen eros und tod, dazu zahl- und aufschlussreiche
selbstporträts, die verdeutlichen, wie sehr der junge mann an der welt und an sich selbst litt: schiele als vitaminarmer jüngling,
schiele als zynischer skeptiker, schiele als diabolisches monster. und dann,
nahtlos, basquiat! auch er ein produktiv leidender! weit über 100
grossformatige (zum teil selten, zum teil nie gezeigte) werke in x räumen auf x
etagen. allein diese fülle haut einen um. mit fettkreide und ölfarbe schmiert
er wände und leinwände voll. alles hat er schon als jugendlicher verschlungen,
anatomische und ökonomische studien, bibel und bebop, afrikanische diasporakultur und
klassische literatur. und alles taucht in seinen farbigen, wilden bildern wieder auf,
ebenso expressiv wie dekorativ. mit copy/paste in vollendeter form schafft er knallige,
pulsierende ikonen der moderne. was für eine lebensgier vor dem viel zu frühen
tod. ein einziges bild fällt völlig aus dem rahmen: nur zwei figuren, ein rotes
strichmännchen auf einem knieenden skelett, viel leere graue leinwand. es
könnte eine skizze von schiele sein. „riding with death“ war eines von basquiats
letzten werken.
Samstag, 6. Oktober 2018
PARIS: TRISTAN UND ISOLDE
operninszenierungen
mit videoeinspielungen gibt’s zuhauf, die bildspur ist meist nicht zwingendes
zugemüse. die pariser oper ging für einmal den umgekehrten weg: der grosse videokünstler bill viola schuf zu wagners „tristan und isolde“ eine
vierstündige bildmeditation, der sich die inszenierung von peter sellars
vornehm unterordnet. für einmal steht das video prominent im zentrum: auf der
bühne der bastille nichts als eine riesige leinwand, in den ersten beiden akten
im querformat, im dritten akt hoch, darauf flammen und fluten und farbenspiele,
rituelle waschungen, liebkosungen, spaziergänge ins blendende licht, apotheose.
wagners liebesrausch-, nacht- und todesmelodien werden nicht kommentiert,
sondern im rhythmus der musik visuell verstärkt, das transzendente
unterstreichend, bilder nicht von dieser welt. oper, ganz im sinne des
komponisten also, als rauschhaftes gesamtkunstwerk. die sängerinnen und sänger
bewegen sich zwischen leinwand und rampe, vom regisseur geradezu minimalistisch
choreografiert und von philippe jordan mit grossem atem dirigiert. während der
sopran von martina serafins isolde von akt zu akt kantiger und schriller wird,
steigert sich andreas schager als tristan grandios: ein strahlender tenor,
dessen dynamische kraft nie nachlässt und sich, als das schiff mit der
geliebten endlich bei dem schwer verwundeten eintrifft, zur finalen ekstase erhebt
(„welches sehnen! welches bangen! sie zu sehen, welch verlangen!“); lust und schmerz
und todesahnung sind in dieser stimme vereint, ein überwältigender auftritt. so wie
tristan und isolde im liebestod versinken, taucht der zuschauer ein in bilder,
töne, teils bedrückende, teils verführerische assoziationen.
Donnerstag, 4. Oktober 2018
PARIS: BÉRÉNICE, EIN ALBTRAUM
„nous
séparer?“ bérénice kann es nicht fassen. sie liebt titus und titus liebt sie.
und doch macht er schluss, weil ihm die macht wichtiger ist als die frau: ein
römischer kaiser und eine syrische königin sind ein no-go. bérénice verliert den
boden unter den füssen, windet sich auf einem stuhl, spielt mit einem brautschleier,
den sie nie tragen wird. barbara hannigan zeigt im palais garnier alle facetten
dieser frau – verzweiflung, zorn, einsamkeit – indem sie gesanglich und darstellerisch
bis zum äussersten geht, phänomenal. im auftrag der opéra national de paris hat
der genfer komponist michael jarrell (*1958) aus jean racines handlungsarmer
tragödie „bérénice“ eine oper geschaffen – oder sich vielmehr zu einer oper
gezwungen, denn im programmheft erläutert er ausführlich, wie schwer er sich
mit den figuren tat und wie wenig er von gesungenem französisch hält. fürs
orchester gelingen ihm zwar immer wieder suggestive sequenzen, dunkle
klangwelten, doch mit den stimmen bleibt er nahe am sprechgesang, virtuose
gesangslinien sind seine sache definitiv nicht. dem dirigenten philippe jordan
und vor allem dem regisseur claus guth ist es zu verdanken, dass die eineinhalb
stunden trotzdem ein erfolg werden: sie verdichten die künstliche sprache
(alexandriner), den monotonen gesang und rätselhafte bilder zu einem fortwährenden
albtraum. neben hannigan irren bo skovhus (auch er ein theatertier) als titus und
ivan ludlow als sein freund und nebenbuhler antiochus durch drei nebeneinander
liegende hohe klassizistische räume, die mehr und mehr zum gefängnis ihrer
gefühle werden. drei räume, drei menschen, die trennung als albtraum. von diesem
abend bleiben die bilder haften, nicht die musik.
Dienstag, 2. Oktober 2018
PARIS: LES HUGUENOTS
paris, 23.mai 2063, aus dem tagebuch eines unbekannten soldaten: "nous, la fière jeunesse de la république, sommes appelés par dieu et par le peuple, à anéantir et à brûler dans le jardin terrestre de dieu tout ce qui ne relève pas de la vrai foi." religiösen fanatismus wird es immer geben, deshalb stellt regisseur andreas kriegenburg dieses fiktive zitat aus der zukunft als klammer über seine inszenierung von giacomo meyerbeers "les huguenots" an der pariser bastille. diese oper über die tödlichen glaubenskriege rund um die bartholomäusnacht 1572 und damit verbundene private intrigen und schicksale aus der zeit zu lösen, ist eine plausible idee. doch kriegenburg scheitert: er arrangiert viereinhalb stunden lang erlesene tableaux vivants; menschen in kostümen aus sündhaft teuren stoffen bevölkern blendend weisse räume, die in verführerisch schönes licht getaucht werden. trotz vereinzelten blutspuren landet das ganze immer wieder ungebremst in der kitschfalle, der hochpolitische stoff wird hochästhetischen bildern geopfert. das ist opern-kulinarik von ihrer üblen seite. dafür ist der lange abend musikalisch ein ereignis. die frauen, die die streitenden parteien versöhnen wollen, tun dies mit betörenden stimmen: lisette oropesa als marguerite de valois mit in allen farben funkelnden koloraturen, ermonela jaho als ihre vertraute valentine mit dramatischer wucht. der italienische dirigent michele mariotti arbeitet den reichtum von meyerbeers melodien in jedem einzelnen takt heraus, mit grossem gespür für die massenszenen dieser grand opéra genauso wie für intime, kammermusikalische momente. das ist opern-kulinarik von ihrer besten seite.
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