Sonntag, 19. Juli 2020

MÜNCHEN: DIE RÄUBERINNEN

so also sieht sturm und drang heute aus: vier mädels kippen sich eimerweise wasser über die köpfe und flutschen in den wasserlachen dann quer über die bühne, quietschvergnügt und splitterfasernackt aufs publikum los. die vier mädels sind hochkarätige mitglieder des ensembles der münchner kammerspiele: gro swantje kohlhof, sophie krauss, eva löbau, julia riedler. die flutschorgie ist das finale ihrer eineinhalbstündigen auseinandersetzung mit schillers „räubern“. unter einer bühnenhohen gewitterwolke jagt regisseurin leonie böhm diese räuberinnen durch die böhmischen wälder, mischt schillers verse absolut gekonnt und nahtlos mit heutigen phantasien, idealen und hinterfragungen. das bewegt sich zwischen intellektuellen einlassungen („der seele bei ihren geheimsten operationen zuschauen“) und pubertär-peinlichen spuck-spielchen. erst dieser mix macht das erforschen von machtspielen, denkgewohnheiten und geschlechtstypischem verhalten überhaupt nachvollziehbar: emanzipation live, theater als labor. in der vierten reihe sitzt intendant matthias lilienthal und gähnt demonstrativ. mitten im parkett. es ist die drittletzte vorstellung seiner ära hier. und so also sieht theater in corona-zeiten aus: jede zweite reihe im parkett ist weg, statt 700 leute nur 129 im saal, die frauen auf der bühne polieren sich ihre finger und ihren schiller immer mal wieder mit desinfektionsmittel und spielen die wilden gedankengänge brav auf abstand. vor allem aber: sie dürfen wieder spielen und wir dürfen wieder zuschauen - diese neue konspirative lust ist ganz offensichtlich für beide seiten ein befreiendes erlebnis. in der dritten reihe sitzt brigitte hobmeier, die diva aus ismaning, und begleitet die kolleginnen auf der bühne als zuschauerin mit sichtlicher empathie. nur lilienthal in der reihe hinter ihr gähnt. höchste zeit, dass er gehen darf. ich werde den verdacht nicht los, dass dieses erstklassige ensemble nicht dank, sondern trotz seinem intendanten „theater des jahres“ geworden ist.