Freitag, 29. Oktober 2021

VENEZIA: HOW WILL WE LIVE TOGETHER?

„architecture does not begin or end with building“ – „architecture does not exist to serve but to enable“ – „architecture is not building design but social design“ – die schwarzen plakate im koreanischen pavillon sind manifeste. sie bringen den geist dieser architekturbiennale auf den punkt. unter dem titel „how will we live together?“ hat der libanesisch-amerikanische architekturprofessor hashim sarkis eine hochpolitische ausstellung konzipiert, klug und attraktiv, ernst und trotzdem sinnlich und oft optimistisch. eigentlich, denkt man schon nach zwei, drei räumen, eigentlich müsste allen nationalen, regionalen und lokalen politikerinnen und politikern ein pflichtbesuch dieser biennale verordnet werden. das könnte sie zu einem anderen tempo motivieren. denn zwei zentrale botschaften in venedig lauten: es gilt erstens keine zeit zu verlieren und es braucht zweitens nicht immer die ganz grossen würfe, um loszulegen, kreativität und aufbruch funktionieren auch kleinräumig und kleinschrittig: ein kleiner platz als treffpunkt, wo’s vorher keinen gab; eine grüne schneise statt noch eine quartierstrasse. architecture does not begin or end with building: bei allen projekten, grossen wie kleinen, gelte es – so sarkis‘ credo und appell - flora und fauna mitzudenken, die weltweiten migrationsströme mitzudenken (120 millionen menschen müssen in den nächsten drei jahrzehnten wohl klimabedingt umsiedeln), die zentrale bedeutung von nachbarschaft, geborgenheit und solidarität mitzudenken. überdurchschnittlich viel jungvolk bewegt sich dieses jahr über die biennale-areale, ein echter aufsteller, die zukunft hat begonnen. der kosovo stellte, passend, eine leere weisse schuttmulde in seinen sonst leeren weissen raum: anfangen, vorwärts machen, weg mit den altlasten.    

Freitag, 22. Oktober 2021

LUZERN: KING LEAR

die drei töchter lears ziehen behutsam fünf männerleichen über die bühne, die frauen schwarz gekleidet, die männer auch, alle tragen schwarze schleier über dem gesicht, der boden schwarz, die wände schwarz und über allem schwebt bedrohlich ein riesiger schwarzer felsklotz. das fluoreszierende orange von könig lears krone ist die einzige farbe in dieser düsteren welt. es ist eine spielzeugkrone aus papier. heike m. goetze entwickelt immer wieder frappante bilder, die sich nachhaltig festhaken. nur reicht das leider nicht. als hätten wir in den vergangenen monaten nicht ausreichend verhüllte gesichter gesehen, tragen ausser lear alle ihre gesichtsschleier die ganzen zwei stunden, weshalb man erstens oft nicht mitbekommt, wer jetzt mit wem kommuniziert, was shakespeares eh schon komplexem intrigen-setting nicht förderlich ist, weshalb zweitens die süffige neuübersetzung von miroslava svolikova („nutzloser alter pimmelzwerg“) nie richtig süffig werden kann und man drittens das neue ensemble nicht sieht und also nicht wirklich kennenlernt, ziemlich mutig. lears lieblingstochter cordelia spricht portugiesisch, sein vertrauter gloster wie eine trickfilmfigur, der sturm auf der heide, wo wahnsinn den alten könig umschleicht, wird total verschenkt – und immer fragt man sich: warum? daniel nerlichs lear schiebt sich im rollstuhl durch die wüste szene, nuschelnd auf der hinterbühne, brüllend an der rampe. erst gegen ende, mit zunehmender verzweiflung über die verhältnisse und die eigene ohnmacht, gewinnt sein darstellerisches spektrum an differenziertheit. „könig lear“ ist eine grandiose studie über die abgründe menschlicher bindungen, wo die verschlagenheit einzelner den ganzen kosmos in aufruhr versetzt. im luzerner theater wird daraus ein anstrengender abend, sehr anstrengend.

Mittwoch, 13. Oktober 2021

VIGNOLA: DARE UN SENSO ALLA VITA

diese bilder in den italienischen zeitungen machen freude: frauen, die im parkett der mailänder scala begeistert selfies schiessen; das teatro massimo in palermo, das sich füllt wie in vor-covid-zeiten; das publikum erobert sich seine theater zurück, die dank hoher impfquote in italien wieder voll werden dürfen. diese bilder liefern den beweis. den beweis, dass die pandemischen diskussionen und streitereien über sinn und nutzen und wert und bedeutung und notwendigkeit der kultur ja eigentlich total überflüssig waren. es geht nicht ohne kultur. in einer buchbesprechung im „venerdì“ finden sich dazu zwei nicht ganz frische, doch in ihrer klarheit sehr erfrischende zitate: „la cultura è un bene comune primario come l’acqua“, sagte der dirigent claudio abbado. „il teatro non è altro che il disparato sforzo dell’uomo di dare un senso alla vita“, sagte der schauspieler und autor eduardo de filippo. so einfach ist das. und so richtig.

Donnerstag, 7. Oktober 2021

VIGNOLA: DIE ERFINDUNG DES UNGEHORSAMS

draussen rauscht das meer. die wassertemperatur wäre ideal, doch der wind und die wucht der wellen machen momentan alle schwimmgelüste zunichte. also lesen, viel lesen. es ist schon so, dass meine intensive beschäftigung mit dem werk von olga tokarczuk in den vergangenen zwei jahren das bedürfnis geweckt hat, auch den schweizer autorinnen vermehrt beachtung zu schenken, früheren und aktuellen. das führte zu einer langen, immer wieder überraschenden entdeckungsreise: "tessiner erzählungen" von aline valangin (limmat), "aus der zuckerfabrik" von dorothee elmiger (hanser), "späte gäste" von gertrud leutenegger (suhrkamp), "chiara cantante e altre capraie", für das doris femminis im vergangenen jahr mit dem schweizer buchpreis ausgezeichnet wurde (pentàgora), und jetzt als höhepunkt "die erfindung des ungehorsams" von martina clavadetscher (unionsverlag). die einen erzählen traditionell, andere experimentieren mit inhalt und form und der erwartungshaltung des publikums, allen gemeinsam ist eine äusserst präzise sprache jenseits aller geschwätzigkeit, die mit knappen worten intensivste bilder und stimmungen entstehen lässt. beispielhaft die sequenz bei clavadetscher, wo eine junge chinesin den leichnam ihrer grossmutter für die bestattung bereit macht: "sie wäscht das furchige gesicht, die schlaffen falten, streicht über die geschlossenen augen, sie tut es vorsichtig, als läge bloss etwas schlummerndes vor ihr, das sie nicht aufwecken will. dann zieht sie den kühlen lappen über den ebenso kühlen leib, ein verlebter leib, bräunlich und rau, als sei das leben über die jahrzehnte daran hängen geblieben. sie säubert die narben, kerben und blutergüsse, da sind flecken wie sprenkel oder verschüttetes, gesammelte eindrücke, die ihr das hohe alter tief ins fleisch gedrückt hat."
#readmorewomen - sie haben es verdient, diese frauen.

Freitag, 1. Oktober 2021

MÜNCHEN: DAS LAND METAXY

gegen die buchstabengläubigkeit! die münchner kammerspiele hätten schon viel über olga tokarczuk nachgedacht, sagt chefdramaturgin viola hasselberg, als sie die polnische literaturnobelpreisträgerin vorstellt, „über ihre art zu erzählen, ihre art, vergessenen und uneindeutigen stimmen raum zu geben“. programmatisch also, dass die kammerspiele auf ihrem saisonprospekt „das land metaxy“ von tokarczuk vorabdruckten, einen klugen aufsatz über das wechselspiel von phantasie, magie, glaube und vernunft, ein votum für das „zwischen“ (metaxy) – und entschieden gegen eine übertriebene buchstabengläubigkeit. in dem text, der sich jetzt ausführlich in ihrem neuen buch „übungen im fremdsein“ findet, analysiert tokarczuk, dass „die tendenz einer das denken begrenzenden wörtlichkeit“ zur ernsthaften krankheit unserer zeit geworden sei: „ihr erstes symptom ist die unfähigkeit, metaphern zu verstehen, gefolgt von einem verlust des sinns für humor. dem gesellt sich eine neigung zu harschen, voreiligen urteilen hinzu, eine intoleranz gegenüber uneindeutigem, ein verlust der sensibilität für ironie, und alles zusammen führt schliesslich zu einer rückkehr des dogmatismus und fundamentalismus. (…) die wörtlichkeit zerstört das gespür für das schöne und sinnhafte, weshalb sie auch keine tiefgründige vision der welt hervorbringen kann. ihre grössten sünden sind die intoleranz und ihr drang, alles, was von einer irgendwann und irgendwo gesetzten norm abweicht, als moralisch falsch und verwerflich zu brandmarken, ja, als strafbar anzusehen.“