Dienstag, 31. Dezember 2019

RIJNSBURG: LANDKARTEN GEGEN MELANCHOLIE?

"beim letzten besuch hatte er (philip verheyen) mir landkarten gezeigt und erzählt, nichts heile die melancholie so gut wie das betrachten von landkarten. ich verordnete ihm fettes essen zur stärkung und ruhe." olga tokarczuk, unrast, s. 238

Sonntag, 29. Dezember 2019

MÜNCHEN: DIONYSOS STADT

reihe 2, sitz 2, es kann losgehen. 10 stunden antike an den münchner kammerspielen: christopher rüpings marathon-inszenierung "dionysos stadt", viel poesie, viel politik. und jetzt also 10 stunden auf 20 zeilen? 1. stunde: die raucherinnen im publikum freuen sich, dass ihnen der prolog eine raucherecke auf der bühne anbietet. 2. stunde: zeus spricht arabisch und englisch, "zurückzublicken ist der weg vorauszusehen", belehrt ihn prometheus, schafe blöken dazu. 3. stunde: die schlacht um troja beginnt. wie zeigt man krieg im theater? mit textfetzen von homer und euripides und einem schlagzeugsolo, brutal und wild. 4. stunde: 10 jahre dauert dieser krieg - zorn, feuer, lärm, chaos, der ultimative videoeinsatz. 5. stunde: auf den trümmerhaufen die frauen und ihre endlosen fragen nach dem endlosen krieg, "nicht weinen", sagt eine immer wieder. 6. stunde: grosse pause, kleine gespräche. keine götter, kein gott, nicht die natur und nicht der zufall, sondern wir. wir sind verantwortlich für unser handeln (seit prometheus). 7. stunde: agamemnon kehrt zurück, verfall einer familie, "die orestie" als netflix-serie, perfekte parodie. 8. stunde: "i just eat my children and my brother is the cook." anschliessend lädt apollo zur versöhnung und zur recht-statt-rache-party. 9. stunde: die bühne jetzt ein fussballfeld, die spannung löst sich im satyrspiel, kicken können sie auch. 10. stunde: zum ende der kickerei gibt's "die schwarze karte der melancholie" (jean-philippe toussaints text über zidanes kopfstoss), einen prachtvoll kitschigen sonnenaufgang und eine standing ovation, tosend. glückliche gesichter auf der bühne und im saal. einzig ute in der reihe hinter mir, der der prolog 50 euro versprochen hatte, wenn sie bis zum schluss durchhält, ist nicht mehr da.

Montag, 16. Dezember 2019

LUZERN: SALOME MAL ZWEI

zehn tage lang hat sie gekämpft, heather engebretson. und verloren! ein virus hat die stimme der chinesisch-amerikanischen sopranistin, die das luzerner theater als ereignis der saison ankündigte, lahmgelegt. theaterpech. die première von richard strauss‘ „salome“ findet trotzdem statt. mit zwei salomes. die kurzfristig aus wien eingeflogene sera gösch singt die rolle auf der seitenbühne, mit dramatischem, oft allerdings flackerndem sopran. und engebretson, die sängerin, die nicht singen kann und darf, spielt dazu, bewegt stumm die lippen – und zeichnet trotz dieser einschränkung ein faszinierendes porträt dieser zwischen reife und verwahrlosung schlingernden kindfrau. wie sie vor ihrer machthungrigen mutter und ihrem dauergeilen stiefvater den schleiertanz aufführt, pubertär, erotisch, wild, wie sie dann den kopf des propheten jochanaan (jason cox, das zweite highlight des abends) rauschhaft begehrt und liebkost und schliesslich seine toten lippen küsst, das berührt und beunruhigt: ein monster? wo bleibt die therapeutin? oder gehören die eltern dieser dysfunktionalen familie da hin? herbert fritsch verweigert mit seiner inszenierung eine klare deutung, er liefert bilder, die jede und jeder selber weiterdenken muss. im gegensatz zur musik, die schwül schillert und vibriert, was clemens heil mit dem luzerner sinfonieorchester ganz wunderbar hinkriegt, geraten ihm diese bilder einer dekadenten und perversen gesellschaft oft übertrieben klischeehaft, überzeichnet, überdreht. dies immerhin in einem höchst eleganten rahmen, der die reize des plakativen voll ausschöpft: die bühne eine tiefblaue spiegelfläche, darauf zwei kitschige goldthrone wie von jeff koons, über allem ein riesiger mond, zunächst fahl, später rosa, am ende blutrot. liebe und tod, nahe beisammen. 

Mittwoch, 4. Dezember 2019

MÜNCHEN: HOCHDEUTSCHLAND

knietief und flächendeckend liegt schaum in der kammer 2 der münchner kammerspiele. wie figuren überm nebelmeer waten zeynep bozbay, jannik mioducki, abdoul kader traoré und julia windischbauer durch dieses luftige nichts, tauchen ab und zu ab darin und wieder auf, versuchen den schaum festzuhalten und zu formen. schaum, traum – das bild, das der junge regisseur kevin barz für die umsetzung des romans „hochdeutschland“ von alexander schimmelbusch gefunden hat, ist naheliegend und hübsch. die vier watenden sind alle victor. victor ist ein erfolgreicher investmentbanker, der mit und trotz seinen millionen nicht glücklich wird. ein profiteur, den die vielen verlierer rundherum beunruhigen: „der grossteil der bevölkerung ist zu lebenslänglich im niedriglohnsektor verdammt.“ er denkt nach. er trinkt rotwein für 2000 euro die flasche und denkt viel nach. die vier deklamieren den fluss seiner gedanken. die politiker sind nichts wert, die protestierenden eine verschwindende, erfolglose minderheit, es braucht also ihn, victor. er schreibt (und schreit) mitten in diesen schaumgebirgen ein manifest über das ende der privilegien, für eine gerechte umverteilung, für chancengleichheit. er will die mittelklasse stärken, den wohlstand mehren, deutschland besser machen als andere länder. und schon landet auch victor im plumpen populismus, vermischt ganz und gar schamlos sozialismus und nationalismus. schimmelbuschs roman ist eine kurze reise von der utopie zur dystopie, eine abschreckung für kurzentschlossene weltverbesserer. am ende ist victor tot, erledigt von jenen, die es noch besser zu können meinen. der schaum auf der bühne fällt in sich zusammen und wird weggespült.

Montag, 2. Dezember 2019

HORW: VERQUER

ins leben gerufen wurde der jugend-jodelchor jutz.ch mit mitgliedern von appenzell bis genf fürs europäische jugendchor-festival 2016 in basel. dass es ihn immer noch gibt, ist a) nicht selbstverständlich und b) höchst erfreulich. wie sich diese flotte bande, deren lebensmittelpunkt eben nicht in abgelegenen bergtälern liegt, lustvoll ins trachten- und sennenoutfit stürzt, um sich dann unter der leitung von simone felber und benjamin rapp dem naturjodel zu widmen, leidenschaftlich und auf höchstem niveau, wie sie völlig kitsch- und ironiefrei „vom briefli as müetti“ und vom „rissli dörs härz“ singen, das beeindruckt und berührt. traditionelle weisen, junge stimmen – diesem kontrast kann man sich nicht entziehen. für sein programm „verquer“, das  jetzt auch in horw zu hören war, hat sich jutz.ch mit dem lukas gernet quartett zusammengetan. zu beginn in getrennten sets, mal jodel, mal jazz, nähern sich die beiden klangwelten in der zweiten hälfte mehr und mehr, inspirieren sich gegenseitig, vermischen sich, fordern sich heraus, zur sichtlichen freude der beteiligten und des publikums. das ganze gipfelt in den „alpine sketches“, einer von lukas gernet komponierten suite für chor und band, die tänze, melancholische weisen und andere klänge aus den bergen aufnimmt, neu bündelt, neu interpretiert und – kino im kopf – zu einem faszinierend vielschichtigen panorama der stimmungen und befindlichkeiten in den bergwelten der gegenwart entwickelt. vielleicht ist das volksmusik 2.0, vielleicht auch bereits 4.0, und gerade wegen dieser sehr jugendlichen besetzung von grosser verführungskraft. fast geht einem da es rissli dörs härz.