Freitag, 28. Januar 2022

MÜNCHEN: HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN

„les contes d´hoffmann“ deutsch gesungen, mon dieu! dass man französische, italienische, russische opern im vergangenen jahrhundert hierzulande oft nicht in der originalsprache aufführte, sondern deutsch, um einem breiteren publikum den zugang zur oper zu erleichtern, machte sinn. dies aber in zeiten von übertitelung mit einem der gängigsten werke nach wie vor zu tun, wie das staatstheater am gärtnerplatz jetzt mit „hoffmanns erzählungen“, ist dann doch ärgerlich: hölzern holpern die verse zur musik, gestörte melodiephrasen, veränderte klangfarben, der charme von jacques offenbachs meisterwerk bleibt auf der strecke. zudem ist chefdirigent anthony bramall ganz offenkundig kein experte für französischen esprit, zu vieles fliesst zu zäh. immerhin brilliert publikumsliebling lucian krasznec in der titelrolle mit einem strahlenden, leichten tenor. sein hoffmann ist kein resignierender alter, sondern ein attraktiver jungdichter auf der jagd nach erotik und erfolg; die momente des selbstzweifels und scheiterns geraten ihm allerdings oft zu plakativ. von den frauen überzeugen vor allem ilia staple als puppe olympia mit einer krassen koloraturorgie und anna-katharina tonauer als hoffmanns muse, liebevoll und lyrisch. der italiener stefano poda, für regie/choreografie/bühne/kostüme/licht in personalunion zuständig (!!), tapeziert den gesamten bühnenraum mit tausenden von (verworfenen?) manuskriptseiten des dichters, dazu stellt er 25 hohe vitrinen, in denen mal bizarre automaten, mal operndiven und mal venezianische karnevalsköniginnen ausgestellt sind, und zwischen denen e.t.a. hoffmanns schwarze schauergestalten ihre seltsamen spiele treiben: ein lebendiges museum der geschichten – bestechende idee, bezaubernde effekte.

Donnerstag, 27. Januar 2022

MÜNCHEN: BAYERISCHE SUFFRAGETTEN

in hautengen weissen trikots und unter plastikschleiern schieben sie sich auf der bühne der münchner kammerspiele von ganz hinten ganz langsam nach ganz vorne: die guten alten geister der münchner frauenbewegung. dazu eine art moderner choral aus elektrosounds und fernen, feinen stimmen. „stricken, sticken, ficken“ – so fassen sie das los der frauen im deutschen kaiserreich ein für allemal zusammen. es gab grossartige frauen, die das ändern wollten, für sich, für alle, für immer. mit „bayerische suffragetten“ setzen die kammerspiele und das stadtarchiv monacensia ihre kooperation fort, mit der sie die frauenbewegung in der stadt „weiter erforschen und erzählen“ wollen. das hat als theaterabend, natürlich, etwas wikipediahaftes, ist aber dank dem maximal diversen ensemble trotzdem ein grosser gewinn und eine wahre freude. keimzelle der bewegung war ab 1886 das fotostudio elvira, an prominenter lage in der innenstadt und mit seinem gigantischen jugendstildrachen an der fassade unübersehbar. den drachen, den die nazis 1933 abschlagen liessen, stellt jessica glause ins zentrum ihrer inszenierung – ein spätes denkmal. mit den beiden seelen dieses fotostudios kommt leben in die bude: annette paulmann als anita augspurg (welche energie, welcher schalk!) und katharina bach als ihre lebensgefährtin sophia goudstikker gehen unbeirrt ihren ebenso kreativen wie subversiven weg, kämpfen für gleichheit, bildung und das recht auf abtreibung und scharen einen bunten und immer grösser werdenden haufen gleichgesinnter um sich. der erste bayerische frauentag 1899 ist der lustvolle höhepunkt der bewegung – und des abends. es ist ganz offensichtlich: der lang anhaltende applaus am schluss gilt nicht nur dem ensemble, er gilt auch den kämpferischen frauen von einst.

Montag, 24. Januar 2022

MÜNCHEN: DER GROSSE MARSCH

was soll das theater? was kann das theater? was soll der tod? man kann nicht behaupten, dass der theaterautor wolfram lotz den grossen fragen ausweicht. und ja, auch die unsterblichkeit der seegurke hat ihn vor zehn jahren zu seinem stück „der grosse marsch“ inspiriert. wobei lotz seinen text weniger als stück versteht, sondern eher als protokoll seiner selbstgespräche. ziemlich kopflastige angelegenheit also. im werkraum der münchner kammerspiele inszeniert anne habermehl die teils klugen, teils diffusen textfetzen mit der abschlussklasse der otto-falckenberg-schule als rasante, sinnliche, frisch-freche show. die angehenden schauspielerinnen und schauspieler setzen die wortkaskaden unter strom, bauen eine spannung auf in ganz unterschiedliche richtungen, jagen den ehemaligen deutsche-bank-chef josef ackermann über die bühne (der lieber unter der dusche opern singt als sich zeitgenössisches theater antut), stellen den arbeitgeberpräsidenten dieter hundt mit fragen zur raf bloss, sozialhilfeempfänger treten auf und prometheus und hamlet und reich-ranicki, bakunin schaut ebenso vorbei wie lewis powell, mitverschwörer bei der ermordung abraham lincolns (im theater, eben!). die zeiten mischen sich wild, die gedanken ebenso. doch was nach chaos tönt, ist eine höchst amüsante und vor allem anregende reflexion über die rolle des theaters in einer komplizierten welt. „holen wir sie raus, die wirklichkeit“, skandieren die schauspielschülerinnen und -schüler wieder und wieder. sie kennen ihre aufgabe, die zukunft des theaters ist gesichert. zwischendurch der ruf ins publikum: „wer die wahrheit nicht erträgt, der hätte nicht hierher kommen sollen.“ wir kommen wieder.  

Samstag, 22. Januar 2022

KORINTH: DIE DUMPFE WUT UNTER DEN MASKEN

wer hätte das gedacht? „medea (…) hielt mich in armlänge auf abstand.“ und: „wie diese ständige gefahr die bewohner zwingt, vorkehrungen dagegen zu treffen, einander in masken zu begegnen, unter denen, wie sich gezeigt hat, eine dumpfe wut sich anstaut.“ zwei ausschnitte aus dem roman „medea.stimmen“ von christa wolf. die erstausgabe erschien 1996. abstand, masken, dumpfe wut – christa wolf, die blinde seherin?

Montag, 17. Januar 2022

STANS: LIQUID TIMES

zwei hände lösen aus einem runden reishaufen auf einem dunklen holztisch einzelne körner und drappieren sie daneben zu dekorativen zeichenzeilen, einem geheimnisvollen visuellen gedicht. es sind die hände der in zürich lebenden obwaldner videokünstlerin judith albert. in einem anderen video, das eine nächtliche waldlichtung zeigt, huscht sie als schatten scheinbar schwerelos die bäume hoch und von wipfel zu wipfel, ein tanz oder ein ritual, realität oder traum? judith albert bewegt sich mit all ihren arbeiten zwischen den welten, das macht sie rätselhaft und poetisch: was die betrachterin und der betrachter sehen, assoziieren oder interpretieren, kann ihnen schon im nächsten moment wieder entgleiten. raum- und zeitgefühl beginnen sich aufzulösen und so entwickelt sich ein faszinierender meditativer sog. „liquid times“ (flüssige zeiten) heisst die ausstellung, mit der judith albert jetzt die neue galerie stans eröffnen darf, 22 werke aussen und innen, projektionen auf glas und auf screens, streiflichter auf wände und böden, objekte in pompösen bilderrahmen. einen inspirierenderen start kann man sich für die galerie am dorfplatz 11 in stans nicht vorstellen. aus dem 150 jahre alten zweistöckigen häuslein, in dem lange die zehnköpfige familie flury und dann lange niemand mehr lebte, wurde mit viel liebe zum detail ein richtiges kleinod, das seinen neuen zweck jetzt reichlich erfüllen darf, sind doch allein dieses jahr noch fünf weitere ausstellungen geplant. die sorgfalt, mit der judith albert ihre werke ausgewählt und platziert hat, der dialog, der dadurch entsteht zwischen den alten räumen und den neuen ideen – das dürfte für die weiteren künstlerinnen und künstler massstab und herausforderung sein.

Donnerstag, 13. Januar 2022

HAMBURG: DIE KRAFT DES THEATERS

 „im theater hier brauchen wir keine übersetzung mehr, auch keine übertitel; wir arbeiten in drei sprachen – mühelos. theatermenschen verstehen sich viel besser als politiker oder soldaten. darauf sollten wir bauen.“
(kirill serebrennikow, der bekannteste russische theater- und opernregisseur der gegenwart – und dissident, in einem gespräch mit der „zeit“; nach vier jahren hausarrest in moskau inszeniert er jetzt am hamburger thalia theater tschechows „der schwarze mönch“)

Samstag, 1. Januar 2022

MÜNCHEN: PUNKT, MITTEN IM SATZ

"das dramatischste ist der punkt mitten im satz."
(fritz kortner, regisseur, 1892-1970)
punkt, mitten im satz. denken wir daran, wenn wir uns neue geschichten ausdenken, neue erzählungen schreiben und neue drehbücher, wenn wir das leben leben.