Mittwoch, 31. Mai 2023

LUZERN: HAMLET VON HINTEN

hamlet im luzerner kleintheater? ja, hamlet im kleintheater! nun, ein bisschen anders kommt das dann doch daher. auf der bühne ist eine sehr originelle, sehr chaotische theatergarderobe aufgebaut. zwischen schminktischen, sofas, kleiderständern und kaffemaschine wuselt das hamlet-ensemble herum, macht sich bereit für die bühne, kommt zurück vom auftritt, zieht sich um für den nächsten. kurz: wir sehen „hamlet“ von hinten. und dieses ensemble hat´s in sich: leute von fetter vetter, ohne rolf, theater aeternam, die tänzerin i-fen lin und susanne-dampf-in-allen-gassen kunz haben sich zum finale der kleintheater-co-leitung vereint, eine extrem bunte all-star-truppe also. mit grösster lust spielen sie, was halt so läuft hinter der bühne: einer muss kurzfristig umbesetzt werden, einer liest james joyce in den wartezeiten, andere spielen scrabble, das porträt von bruno ganz bewegt sich geisterhaft an der wand, alle lästern über den regisseur, jemand fragt nach den fünf trauerstufen nach kübler-ross, ohne rolf blättern sich durch rosenkranz und güldenstern - und ja: „wir haben uns auseinandergespielt.“ kein wunder, nach 400 hamlet-aufführungen. eine truppe am ende! das ganze brainstorming zu diesem thema wird hier während zweieinhalb stunden auf die bühne gekippt. als nächstes dann vielleicht ein open-air-„heidi“ für die saudis auf dem bürgenstock? prompt hat einer (heiner müller lässt grüssen) bereits die „heidi-maschine“ zur hand, den kritischen kommentar zum spyri-original. und ebenso prompt kotzt die diva dieses manuskript bei der nächsten gelegenheit voll. das ist ein herzhafter blick hinter die kulissen – mit einem bisschen shakespeare, einem bisschen komödie, einem bisschen requiem, einem bisschen klamauk, einem bisschen grusical – und vor allem ist es: eine bedingungslose liebeserklärung ans theater.

Donnerstag, 25. Mai 2023

MÜNCHEN: ERFOLG

ein erstklassiges salonorchester versetzt uns im münchner residenztheater 100 jahre zurück. hübscher tingeltangel, doch die zeiten sind hart. dr. martin krüger, missliebiger museumsdirektor, wird nach einem politisch motivierten prozess eingesperrt. jetzt windet er sich in einer viel zu engen zelle; thiemo strutzenberger zeigt bewegt und bewegend diesen kampf zwischen ratten und wahn und dem wunsch nach büchern. drei jahre später, während denen freunde seine unschuld zu beweisen suchen, versagt sein herz in dieser zelle. mit über 100 figuren entwickelte lion feuchtwanger ein gigantisches panorama dieser drei jahre, der zeit des aufkeimenden nationalsozialismus: "erfolg" ist der grosse bayern-roman, je nach ausgabe 750 bis 900 seiten. er habe diesen stoff unterschätzt, sagte regisseur stefan bachmann (früher basel, jetzt köln, bald burgtheater) im vorfeld. ja, hat er tatsächlich. er reduziert das personal auf 14 figuren, die er vor trostlosen strassenlaternen recht künstlich an der rampe rezitieren lässt, monologe, lange monologe, dutzendweise. damit das nicht zu fad kommt, wird revuemässig aufgepeppt, mit tango und jodel, federboas und scherzchen. auf der drehbühne bewegt sich der bayrische menschenzoo in kantigen choreographien, die vom glockenspiel am marienplatz inspiriert sein dürften. viel dekorative oberfläche also, selbst das morbide glänzt hier, wichtiges dagegen wird nur hingetupft, rupert kutzner (das hitler-pendant im buch) gar ganz gestrichen. die frage, weshalb feuchtwanger trotz seinem scharfen blick auf die „wahrhaft deutschen“ das ausmass des desasters nicht voraussah, oder die frage, ob sich geschichte wiederholt, die bachmann laut programmheft auch interessiert – bleibt alles auf der strecke. trotzdem gibt's vom premièrenpublikum reichlich applaus. die innovative bayern-revue allerdings ist der ultimative bayern-roman hier nicht geworden.

Mittwoch, 24. Mai 2023

SOKOŁOWSKO: OLGAS RACHE

„der starke wille des mannes hilft, manchen verlockungen des wahnsinns einhalt zu gebieten, dem weibe aber fehlt dieser wille nahezu völlig.“ - „in philosophischem sinne können wir das weib nicht als vollkommenes, in seiner entwicklung abgeschlossenes subjekt betrachten.“ - „es ist ein altes leiden, dass frauen ohne männer an hysterie erkranken.“ - „die mütter impfen dem kind eine übermässige emotionalität ein, was später zu zahlreichen krankheiten und schwächen des geistes führt.“ ok, das dürfte reichen….. wir sind im lieblichen luftkurort görbersdorf in niederschlesien (heute sokołowsko). die runde, die da 1913 im „gästehaus für herren“ abend für abend speist und debattiert, lässt nix aus, aber gar nix, wenn’s um frauen geht. dieses aberwitzige sammelsurium sämtlicher frauenfeindlichkeiten gönnt sich nobelpreisträgerin olga tokarczuk in ihrem neuen roman „empusion“. der ist feministische zauberberg-replik und gruselgeschichte in einem – und vor allem ein grandioser lesespass. das beste kommt auch hier zum schluss, als schlichte „notiz der autorin“, wo tokarczuk outet, dass all die misogynen männerphantasien nicht etwa ihrer dunklen seite entsprangen, sondern dass sie da einfach texte von 35 (!!) bekannten autoren paraphrasierte, darunter augustinus, darwin, freud, kerouac, nietzsche, racine, sartre, schopenhauer, shakespeare, strindberg, wagner. so ist das, liebe männer. und übrigens, empusen sind (ja, ich musste auch googeln) mythische angstgöttinnen vulgo schreckgespenster. diese polnischen tuntschis lässt tokarczuk jetzt auf uns los: die „empusion“ ist olgas hammerhafte rache.

Montag, 22. Mai 2023

MÜNCHEN: ANTI WAR WOMEN

immer wieder wird im hintergrund, bühnenhoch und bühnenbreit und schwarz-weiss, das bild vom grossen frauenfriedenskongress 1915 in den haag eingeblendet: auf dem podium 13 sehr unterschiedliche frauen aus 13 zum teil gegeneinander kämpfenden ländern. davor, auf der bühne der münchner kammerspiele, performen vier frauen und zwei männer in bunten overalls, mit viel rüschenfummel, viel make-up und aufwendig gestylten frisuren eine feministische geschichtslektion, die die regisseurin jessica glause gemeinsam mit ihnen konzipiert hat: „anti war women“, der titel war und ist programm. der erste weltkrieg („der kulminationspunkt männlicher raff- und zerstörungswut“) unterbrach den kampf der frauen ums wahlrecht, den kampf um sexuelle selbstbestimmung, um ein freieres leben. mitten im krieg versammelten sich deshalb 1500 frauen in den haag, um den kampf für gleichberechtigung, frieden, nationale souveränität fortzusetzen. das ensemble tanzt und singt („jenseits von eden“) und rezitiert aus reden und resolutionen von diesem kongress der starken bewegten frauen: „wir werden durch krieg vergewaltigt.“ nicht verbissen, sondern mit power, lust und visionen machen sie – damals und heute – klar, dass es reicht, und suchen über alle grenzen hinweg nach anderen möglichkeiten und wegen. das war vom inhalt und vom stil her – vor 108 jahren!! – ein klarer kontrapunkt zu männlicher politik. die kammerspiele haben es sich zum ziel gesetzt, solch vergessene kapitel der frauenbewegung ans licht zu holen. ein grosses verdienst. allerdings ist eine theatralische recherche noch kein theater, eine doku kein drama. so bleibt dieser abend letztlich eine wikipedia-performance, auf durchaus professionellem, attraktivem niveau.  

Montag, 15. Mai 2023

MÜNCHEN: WIR WAREN KUMPEL

martina war mal ein mann. ok, noch so eine trans-geschichte, die gefühlt zweihundert-siebenunddreissigste. doch die geschichte von martina ist anders, sie berührt besonders, weil sie in einem besonderen umfeld stattfindet: martina war mark und mark war ein kumpel, im bergbau. eines tages tauchte er inmitten seiner kollegen als martina auf, die einzige frau unter 400 kumpels, kein einfaches coming-out. „wir waren kumpel“, der neue film des luzerners christian johannes koch und seines kumpels jonas matauschek, hatte jetzt première am dok.fest münchen. die geschichte von martina ist darin eine von mehreren episoden. als in deutschland die steinkohleförderung eingestellt wurde, haben koch und matauschek fünf kumpels begleitet, die drei oder vier jahrzehnte unter tag arbeiteten. „du arbeitest wie ein pferd und wirst bezahlt wie ein esel“, sagt einer. und dann ist schluss, ende, aus. mit scherzen und sprüchen decken sie ihre unsicherheit zu. gibt es ein leben jenseits der zeche? was werden sie machen mit der ganzen zeit? was werden sie machen ohne einander? wenn der letzte kohlestaub aus dem gesicht und unter den fingernägeln weggerubbelt ist? die bilder der leeren zeche, überwältigend trostlos, kontrastieren mit sehr privaten sequenzen. eindrücklich, wie nahe die filmemacher da rangehen. und eindrücklich, wie nahe die harten jungs sie ranlassen. harte jungs? „wir sind nicht so hart wie ihr alle denkt“, sagt einer – und das spürt man in jeder einstellung. dem einen macht die grosse leere zu schaffen, bei einem anderen sind es die grossen utopien, für die er aber die energie nicht mehr hat. zwei fahren im gemieteten wohnmobil an die atlantikküste, ein geradezu liebevolles ablenkungsmanöver. dieser film ist ein visual poem über die zeit, die war, und die zeit, die kommt. sehenswert und anregend für alle, die über eine schwelle gehen. also alle.

Samstag, 13. Mai 2023

MÜNCHEN: LUISA MILLER

dieser bewegende moment: wenn der kirgisische tenor jenish ysmanov als rodolfo die grosse arie „quando le sere al placido“ anstimmt, wenn er fälschlicherweise glaubt, dass ihm seine grosse liebe untreu geworden ist, ihn verraten hat, wenn er voller verzweiflung an der rampe umherirrt, wenn er dann von eifersucht und leidenschaft getrieben seine spitzentöne in alle richtungen schleudert – dann hält das publikum im staatstheater am gärtnerplatz den atem an. über 700 menschen. kollektive gänsehaut. ein packender moment, eine packende inszenierung von „luisa miller“. zwei junge menschen, die sich lieben, zwei väter, die diese liebe verhindern, indem sie vorgeben, nur das beste für ihren nachwuchs zu wollen, dann intrige, gift, tod. schillers sturm-und-drang-drama „kabale und liebe“ war für verdi eine steilvorlage: lyrische passagen, rasante eskalation, dramatische gipfel. dirigent anthony bramall gestaltet das alles mit spannung und furor und einem hervorragenden ensemble: neben jenish ysmanov vor allem auch mária celeng als luisa, alexander grassauer als miller und levente páll als intrigant wurm. mit ihnen arbeitet regisseur torsten fischer die zahllosen konflikte präzis heraus, zeigt sie wie in nahaufnahme, ein kammerspiel, das immer wieder unter die haut geht. so sehr ihm diese intime, private ebene liegt (und die latente todesnähe), so sehr geraten ihm die chorszenen ins plakative: mal tänzeln sie wie „im weissen rössl“, mal tragen sie glitterkram wie in „hello dolly“ und wurm muss da als kreuzung aus joker und glöckner von notre-dame rumschleimen, gärtnerplatz-dna halt… doch lassen wir das mäkeln, es bleibt dabei: diese oper wird zu selten gespielt, diese oper wird massiv unterschätzt. „luisa miller“ ist verdi at his best, richtig grosses drama und, pardon, richtig geile musik.

Donnerstag, 11. Mai 2023

ZÜRICH: FÜR SEKA

wieder aufregende schweizer literatur. wieder ein junger mensch, der seine komplexe biographie schreibend zu ergründen sucht. wieder formale und sprachliche experimentierlust. wieder ein wuchtiges buch. ein halbes jahr nach kim de l´horizons „blutbuch“ hat die 24jährige zürcherin mina hava jetzt „für seka“ nachgeschoben, ihren erstling – und den gleich im suhrkamp-verlag. „sie lag im bett und trug worte an die decke, schlug sie weiss auf schwarzen grund neben die lampe und drehte sich schliesslich auf den bauch, damit sie verschwanden.“ bosnien, die heimat ihrer eltern, kriege, gefangenenlager, eine zerbrochene familie. „für seka“ ist eher literarisches puzzle als roman, inspiriert ganz offenkundig von w.g. sebalds „korrespondenz mit sich selbst“. mina/seka recherchiert, sie spannt fäden in die vergangenheit, sie sucht ein anderes leben, sie löst sich und leidet – und sie schreibt. und wie sie schreibt! in dem buch stösst man immer wieder auf formulierungen und sätze, die inhaltlich und sprachlich oft nur minimal vom mainstream abweichen und gerade deshalb nachhaltig irritieren: über die zeit „als jugoslawien in seine kriege zerfiel“, über familientreffen, „an denen sie nicht mehr teilnahm, weil sie nicht wusste, worüber sie schweigen sollte“, und immer wieder über die liebe, die fehlende liebe: „was von der liebe übrig geblieben war, zerfiel in ein stechendes gefühl, das sich abends von schlaflosigkeit nährte.“ gefühle und gedanken, denen man gebannt folgt. „sie stellte sich vor, wie es wäre, darüber zu lesen, dass ein leben mit mann nur zulasten des intellekts geführt werden könne, und sah bereits, wie sie zustimmend nickte.“ was für ein gedanke, was für ein satz, was für ein buch! 

Dienstag, 2. Mai 2023

MÜNCHEN: EINE UKRAINISCHE ODYSSEE

penelope – die frau, die wartet! eigentlich müsste dieses stück „penelope“ heissen und nicht „odyssee“, denn anders als homer stellt der ukrainische dramatiker pavlo arie nicht den kämpfer ins zentrum, sondern seine frau, die zehn jahre auf das ende des trojanischen krieges wartet und dann noch zehn jahre auf die rückkehr ihres mannes. mit dieser feministisch überschriebenen „odyssee“ gastiert das schauspielhaus düsseldorf jetzt beim radikal-jung-festival des münchner volkstheaters. auf der bühne: kein mann. sondern: elf frauen und fünf jugendliche in einem tristen wartesaal in düsseldorf. sie protokollieren die bittere realität in der ukraine, teils ihre eigene, teils basierend auf interviews, die arie mit zurückgebliebenen geführt hat. er gibt den frauen, die heute warten, eine stimme. anders als die passiv leidende penelope werden sie aktiv, sie fordern, sie planen die zukunft, sie fällen entscheidungen, kleine und grosse. marta bezpaliuk erzählt, wie sie kurz vor der première noch zurück in die ukraine fuhr, um ihren bruder zu beerdigen. sie wollte nach dem krieg ans meer reisen mit ihm, weil er es noch nie sah: „ein einziger tag hat alles verändert.“ verluste, massenvergewaltigungen, endlose bilder von zerstörten städten, listen mit den namen toter und vermisster, schmerz, desorientierung – die inszenierung von stas zhyrkov treibt alle an emotionale grenzen, auf der bühne und im saal. verzweifelte summchöre in moll und wilde gitarrenduelle bilden das spektrum auch musikalisch ab. hoffnung? vielleicht, manchmal lachen sie, es ist ein bitteres lachen. und ist es hoffnung, wenn der elfjährige renat aus irpin sein skateboard unter den arm klemmt und still ins publikum spricht: „ich finde das, was gerade passiert, hat einen sinn, weil wir etwas lernen, das uns später helfen kann.“ er macht eine lange pause. „wir lernen, uns in einen besonderen zustand zu versetzen, in so eine art starre: was, wenn das alles gar nichts mit mir zu tun hat?“

Montag, 1. Mai 2023

LUZERN: BEI WAGNERS ZUHAUSE

da sitzen wir nun also. in diesen edel gepolsterten sesseln, auf dieser ausnehmend einladenden chaiselongue, grossartige aussicht auf see und berge. in diesem salon empfing richard wagner 1867 franz liszt, der ihm die liaison mit seiner tochter cosima auszureden gedachte. doch dann setzte sich liszt an den erard-flügel, auf dem wagners eben vollendete „meistersinger“-partitur lag, begann zu spielen, den ersten akt, den zweiten akt, alles prima vista und mit einer begeisterung, die in hochachtung überging. und jetzt sitzen wir da, nicht am flügel, aber auf dem sofa. was sonst in museen streng verboten ist, ist im neu gestalteten richard-wagner-museum auf tribschen jetzt ausdrücklich erwünscht: man soll eben nicht nur gedanklich, sondern auch sinnlich eintauchen in wagners welt. bilder des ursprünglichen interieurs existieren nicht, deshalb haben architekt roger kraushaar und restauratorin liselotte wechsler die räume aufgrund von tagebuchnotizen, korrespondenzen und zeitgeschichtlichen referenzen nach wagners geschmack hergerichtet: viel dunkles rot, viel helles grün, florale muster, gediegene stoffe, alles akribisch und liebevoll bis ins letzte detail. ein schmuckkästchen! wer jetzt denkt, dass das streitbare genie in dieser idylle zurückgezogen komponierte, irrt gewaltig. eine riesige entourage sorgte für pralles leben: „ich hab cosima, ihre drei kinder, erzieherin, kindsmagd bei mir, dazu vreneli, steffen, jost, marie und louise – die toulouser köchin.“ dazu pfauen und hunde und viele prominente besuche. das landhaus tribschen war 1866 bis 1872 ein richtiger hotspot. die miete (3000 franken im jahr) beglich übrigens könig ludwig II. und beim anschliessenden umzug nach bayreuth half einer, der 23 mal zu gast war auf tribschen: friedrich nietzsche, philosoph und zügelmann.