Mittwoch, 18. November 2020

ZÜRICH: WHISTLEBLOWERIN/ELEKTRA

eine frau sitzt auf der bühne des theaters neumarkt an einem schreibtisch und gewährt einen blick hinter die kulissen des weltgrössten nahrungsmittelkonzerns: unappetitlich, widerlich, skandalös. der tod von kindern wird in kauf genommen, die höhe der kader-boni wird an verhinderte rückruf-aktionen gekoppelt, zentrale erkenntnisse der wissenschaft werden weggewischt, fürs top-management gibt’s keine stellenbeschreibungen und letztlich also auch keine verantwortlichkeiten. nestlé warb yasmine motarjemi bei der who in genf ab, damit sie als corporate food safety manager im range einer vice president intern die kritischen fragen zur nahrungsmittelsicherheit stellt. das tat sie, beharrlich, worauf sie zunächst subtil und dann immer deftiger gemobbt und schliesslich entlassen wurde. „wie kann das sein?“ fragte sie sich immer wieder. schweigen mochte sie nicht, sie ging vor gericht und gewann schliesslich, der fall wurde weltbekannt, nestlé hatte und hat ein problem. diese geschichte, von sascha özlem soydan hier sehr differenziert als monolog dargeboten, wäre für eineinhalb stunden dokumentarisches theater ergiebig und happig genug. doch regisseurin anna-sophie mahler kombiniert sie mit fetzen aus richard strauss‘ kompromisslos radikaler „elektra“, womit dann definitiv klar wird, dass wir uns auf einem tummelplatz der dissonanzen befinden. mona somm singt mit wuchtig-wütender stimme von den demütigungen und rachewünschen dieser weiteren nicht-schweigerin; die sängerin war bei den tiroler festspielen in erl selber ein mobbing-opfer. dass das theater augen und ohren öffnet gegenüber ungerechtigkeit, ist verdienstvoll, doch dieser abend ist überladen, zu dicht, in seiner konstruiertheit nicht zwingend. 

Dienstag, 3. November 2020

MÜNCHEN: DEMOCRACY WILL WIN

heute wählen die usa ihren (neuen?) präsidenten. was ist dazu zu sagen? vielleicht dies: „not ‚america first‘ but ‚democracy first‘ and ‚human dignity first‘ is the slogan which will really lead america to first place in the world (…).“ das zitat datiert allerdings nicht vom november 2020, sondern vom oktober 1941. thomas mann schrieb diese überlegungen damals in einem beitrag für die „greensboro daily news“ nieder. daran erinnert jetzt eine ausstellung im literaturhaus münchen, die sich nicht dem genialen fabulierer und literaturnobelpreisträger widmet, sondern dem mahner: „thomas mann – democracy will win!“ in aufsätzen und in radioansprachen kämpfte er aus seinem amerikanischen exil gegen nationalsozialismus, nationalismus und populismus und für die grundwerte der demokratie. unermüdlich setzte er sich dafür ein, die demokratie immer wieder neu zu erörtern, sie „im gedanken und im gefühl“ lebendig zu halten und zu erneuern. daran knüpft die kleine und doch sehr reiche ausstellung an, indem sie thomas mann im zweiten teil zahlreiche stimmen aus der gegenwart gegenüberstellt, menschen wie edward snowden, greta thunberg, saša stanišić, igor levit, carolin emcke, menschen, die die gegenwart und die zukunft mit vernunft und haltung angehen. denn – und das letzte wort gehört hier wieder thomas mann: „es ist ein schreckliches schauspiel, wenn das irrationale populär wird.“  

Montag, 2. November 2020

LUZERN: TRIBSCHEN, IMMER WIEDER

„wohin ich mich aus meinem hause wende, bin ich von einer wahren wunderwelt umgeben. ich kenne keinen schöneren ort auf dieser welt, keinen heimischeren als diesen.“ so berichtete richard wagner an könig ludwig II. über tribschen, die landzunge bei luzern, wo er von 1866 bis 1872 lebte. die berge, der see, die wellen, die bäume, die büsche, die ruhebänke – ein ort, der energien freisetzt, nicht nur bei wagner. „zum raum wird hier die zeit.“ tribschen, immer wieder. wohin das uns führt...

Sonntag, 1. November 2020

ZÜRICH: MEDEA*

medea ist aufgewühlt, aufgebracht, ausser sich. „ich kann den gedanken nicht fassen, liebe abzulöschen.“ betrogen von jason, allein gelassen mit zwei kindern, mittellos in einem fremden land, verzweiflung bis zur raserei. am ende ihrer kräfte wickelt sie sich in das riesige leintuch, das in der schiffbau-box des zürcher schauspielhauses die ganze bühne umspannt. dann tritt johannes rieder von der seite hinzu (medeas kongenialer musiker und sidekick und sparringpartner in einem) und streichelt diese eingewickelte frau mit seinen hüftlangen haaren, ein zartes zeichen des trostes, die gegenwart grüsst den mythos. einmal mehr hat sich regisseurin leonie böhm einen klassiker vorgenommen, einmal mehr hat sie ihn radikal eingedampft und sehr heutig reflektiert: nicht „medea“ also, sondern „medea*“ – das sternchen im titel macht klar, dass die fussnoten und zwischentöne hier gleich mitgespielt werden. gespielt von einer absolut faszinierenden maja beckmann, einer frau mit tausend farben und facetten, die immer wieder mit dem system hadert, in das sie geraten ist, die sich von krise zu krise kämpft, für die die rebellion die treibende kraft ist und nicht die rache. sie schreit und lacht und heult. in einem bedrückenden solo wirft sie sich in ein stier-kostüm, um sich ihren ängsten zu stellen, beginnt ein zwiegspräch mit dem stier, um sich mut zu machen, um ihren weg zu finden und eine lösung. ja, sie will ihre beiden buben töten. „jetzt seh‘ ich klar“, sagt sie, dann stürzt der gigantische leintuch-himmel auf sie nieder und sie sieht gar nichts mehr. dies ist die zentrale botschaft, den die regisseurin, die schauspielerin und der musiker vermitteln: „unsicherheit ist immer ein gutes zeichen, dass etwas in bewegung ist.“