Montag, 28. November 2022

MÜNCHEN: FEELING FAUST

der alte weisse mann hat ausgedient, die jungen übernehmen. deshalb wird am münchner volkstheater jetzt nicht „faust“ gespielt, sondern „feeling faust“. das beginnt in der inszenierung von claudia bossard mit einer schrägen expertenrunde, die unter anderem den „skandal“ verhandelt, dass im september jetzt auch noch die bayern den „faust“ aus dem kanon für gymnasien entfernt haben. und dann geht’s so richtig los. goethes unkaputtbare zitate werden neu gemixt und aufgeladen, seine höhenangst wird genauso thematisiert wie seine beziehungsangst, die reclamhefte fliegen durch die lüfte, mal wird auf hohem niveau geblödelt, mal werden die verse ganz klassisch-sorgfältig gekaut, des pudels kern erschliesst sich nie ganz, doch ein pudel namens goethe taucht auf und hält das ensemble mit einer maschinenpistole in schach. what a feeling. als helena aus der tragödie zweitem teil vorbeischaut, wummert bedrohlich wagners „tristan“-vorspiel durch die hallen und insta-stories flimmern über den riesigen rundhorizont, erst die natur, dann die katastrophen: „gut und böse, licht und finsternis - die gegensätze bewirken eine spannung, die das lebendige zur steigerung anreizt.“ rüdiger safranski scheint diese inszenierung vorausgeahnt zu haben, in der die suche nach einsicht und das grosse scheitern, ganz faust, hand in hand gehen. immerhin, tonnenweise jugendliche energie im ensemble, assoziatives theater, amüsant und anregend. fährt’s gleich hoch mit uns? oder fährt’s runter? wäre schade, wenn faust nicht nur von den schulen verschwände, sondern auch noch von den bühnen. faust ist ein bergwerk. faust ist pop.

Sonntag, 20. November 2022

MÜNCHEN: DIE GROSSE STILLE AM #FSFMUC

als wollten sie der zunehmend komplexen und krisenanfälligen welt etwas entgegensetzen: viele der rund 50 filme, die im rahmen des 41. filmschoolfests munich (#fsfmuc) gezeigt wurden, zeichnen sich durch eine geradezu grossflächige ruhe aus. der filmnachwuchs in aller welt arbeitet mit unaufgeregter kameraführung, langen einstellungen, unspektakulären schnitten, wenigen worten, grosser ernsthaftigkeit. die geschichten, die sie erzählen, wirken dadurch umso stärker, umso intensiver. die hauptfiguren sind oft opfer angespannter politischer verhältnisse (algerien, somalia, iran, grönland) oder unter verstrickten beziehungen leidende (übergriffe, generationen-clash, end of love). sehr oft gelingt den jungfilmerinnen und jungfilmern eine eindrückliche synthese von gesellschaftlicher relevanz und filmischer poesie. „and the winner is…“: die festivaljury hat sich für den stillsten aller stillen filme entschieden. der mit 10‘000 euro dotierte young talent award des filmschoolfests geht an younès ben slimane (tunesien/frankreich) für „we knew how beautiful they were, these islands“. 20 minuten stille, 20 minuten dunkelheit, ein mann beerdigt in einer nächtlichen wüste würdevoll ihm unbekannte menschen. die persönlichen gegenstände der verstorbenen tauchen kurz auf im licht seiner stirnlampe, flüchtige erinnerungen an menschen, die unterwegs zu einem besseren leben den tod fanden. film als zeitzeugnis und meditation.

Samstag, 19. November 2022

MÜNCHEN: NEWS FROM THE PAST

1931, 1932, 1933….. was da in deutschland lief, ist bekannt. und in der ukraine? der kyiver regisseur stas zhyrkov lässt im werkraum der münchner kammerspiele zwei schauspielerinnen und zwei schauspieler aufeinander treffen, zwei aus der ukraine, zwei aus deutschland. das ziel: ein radio-feature über vergangenheit und erinnerung, gewalt und leid und die zyklische wiederkehr des grauens. „news from the past“ beginnt mit aufnahmen aus radio-archiven statisch, entwickelt dann aber sehr schnell einen enormen sog: wenn berichtet wird, wie während dem holodomor, der von russland inszenierten hungersnot in der ukraine, in den dreissiger jahren millionen menschen starben und gleichzeitig attraktive kochbücher erschienen. oder wie stalin die spannendsten intellektuellen in charkiw umbringen und die ukrainische kultur auf ländliche folklore reduzieren liess. diese hinrichtung der kultur hinterlässt spuren bis jetzt: „damals tötete man uns, die zukünftigen menschen, wir wären andere“, sagt der 32jährige schauspieler dmytro oliinyk, „wir wären andere...“ seine kollegin vitalina bibliv fasst das ukrainische trauma zusammen: „die russen töten uns seit jahrhunderten – und die ganze welt denkt nur an dostojewski und ballett.“ welt, mach eine pause. „wir sind müde geworden“, sagt vitalina, die in der ukraine eine bekannte schauspielerin ist und dieses jahr zur chefin eines luftschutzbunkers wurde. sie hat es gern gemacht, sie war nützlich, sinnvolle arbeit in einem sinnlosen krieg. der beste freund von dmytro verlor bei der annexion der krim beide beine und jetzt im krieg das leben. dmytro schreibt den namen des freundes auf einen zettel, er kniet am boden, daneben leere zettel noch ohne namen, das vakuum in seinem kopf füllt den ganzen raum. man sitzt da, zutiefst betroffen und berührt. sie weinen, sie verzweifeln, sie schreien, sie sind erschöpft. und das tröstliche an diesem abend: sie geben nicht auf, sie schauen dem monster in die augen.

Montag, 14. November 2022

LAUSANNE: TIME OF MY LIFE

„have you ever been at a family dinner and wondered how you are related to those people?“ es geht drunter und drüber in alan ayckbourns „time of my life“ – und die ankündigung der village players, die in lausanne seit 30 jahren das englischsprachige publikum bespassen, trifft den nerv: familie kann herausforderung und hölle sein. geburtstagsparty der mutter, der vater lädt ein, man trifft sich beim italiener, der ältere sohn mit gemahlin, der jüngere (dario brander – that’s why we were there) mit seiner neusten errungenschaft. passt diese exaltierte friseurin in die familie? schon geht's los, es wird getrunken, gelästert, gekotzt. an zwei tischen neben der bühne gibt’s rückblenden zum beginn der beziehung des jüngeren sohnes und ausblicke aufs ende der ehe des älteren. eine raffinierte übungsanlage für ein fast dreistündiges konversationsstück. in der mitte und in der gegenwart lässt ayckbourn die eltern ihre lebenslügen abarbeiten, hard work, und der kellner befeuert die intrigen. ilona horvath hat mit den sieben laien einen lockeren plauderton erarbeitet, das familiensetting wirkt dadurch ausgesprochen authentisch. im gegensatz zum autor belohnt die regie allerdings nicht alle figuren mit der gleichen empathie, einzelne wirken differenziert, andere geraten zu karikaturen. komödie oder drama, das ist hier die frage. horvath will sich nicht entscheiden; die komödie vertrüge mehr biss, das drama mehr tiefe. doch ayckbourns grosse themen bleiben auch so immer präsent: wer vermag brüche zu heilen? und wo hat sich schon wieder das verflixte glück versteckt in der beziehungskiste? der ältere sohn hat da eine vermutung: „i think we’re happy. aren’t we? who the hell ever knows when they’re happy?“ familie und glück müssen kein widerspruch sein. zum glück.

Montag, 7. November 2022

LUZERN: EUGEN ONEGIN

bettina oberli kennt man als filmregisseurin („die herbstzeitlosen“, „tannöd“, „wanda, mein wunder“), oper war bis jetzt nicht so ihr ding. ihr debut mit tschaikowskis liebesdrama „eugen onegin“ am luzerner theater darf als durchaus gelungen bezeichnet werden. in allen drei akten steht eine figur im zentrum, drei mal gelingt oberli eine eindrückliche, die musik sehr ernst nehmende psychostudie: im ersten akt verzehrt sich tatjana (eyrún unnarsdóttir mit dramatischem sopran) in ihrer von onegin unerwiderten liebe und schreibt den berühmten brief aufs höchste erregt mit kreide an die wände ihrer kammer. im zweiten akt zeigt ziad nehme mit betörendem tenor einen zutiefst verzweifelten, vor eifersucht kranken lenski, der vor dem duell mit onegin von todessehnsucht erfüllt ist. und der schlussakt wird dominiert von onegins grossem monolog über verpasste chancen, unerfüllte träume, ein nicht gelebtes leben; mit warmem bariton findet der junge jiří rajniš zur finalen melancholie. drei wirklich grosse szenen. warum kapellmeister jesse wong der kitschgefahr des tschaikowski-sounds vor allem mit lautstärke begegnet, warum kostümbildnerin laura locher einige figuren in pippi-langstrumpf- und bajazzo-kostüme steckt und warum onegin zum duell eine art biene maja als sekundanten mitbringt – das bleiben die irritierenden geheimnisse dieses abends. und vielleicht war ja alles auch ganz anders. vielleicht haben sich die beiden männer geliebt, was mit bezug auf tschaikowskis biografie nachvollziehbar wäre. diese möglichkeit wird hier nur kurz ins spiel gebracht, in einem entscheidenden augenblick allerdings: durch einen angedeuteten, dann abgebrochenen kuss zwischen lenski und onegin unmittelbar vor ihrem tödlichen duell. noch so ein intensiver moment.