moussa
heisst er. der junge araber, der bei gleissendem sonnenlicht am strand von
algier erschossen wird, von einem französischen angestellten namens meursault.
albert camus interessierte sich in „l´étranger“ nicht für das opfer, es hatte
keinen namen und kein gesicht. der algerische autor kamel daoud hat das in
seinem roman „der fall meursault – eine gegendarstellung“ nachgeholt. 70 jahre
nach camus erzählt er die geschichte aus arabischer perspektive. keine
revanche, eine replik. das opfer hat jetzt einen namen. moussa. der ganze
bühnenraum der münchner kammerspiele ist mit teppichen ausgelegt, das theater
als moschee, ein schönes bild. haroun, der jüngere bruder von moussa, ist jetzt
ein alter mann und brüllt seinen ganzen zorn auf die religiösen eiferer in
diesen raum, regt sich auf über camus´ eurozentrismus, ist enttäuscht vom
eigenen land. der zu recht international herumgereichte iranische regisseur
amir reza koohestani verdreifacht haroun in seiner inszenierung – und manchmal
ist er als kind, das den tod des bewunderten bruders nicht versteht, als junger
mann, der sich neben der verbitterten mutter im leben kaum zurechtfindet, und
als alter gleichzeitig auf der bühne. die perspektiven überlagern sich zu
mehrdimensionalen bildern. mit einfachen mitteln (neben den teppichen ein wenig
sand, eine grosse sonne, ein tisch, ein offenes grab) erweckt koohestani moussa
zum leben. wie daouds roman will auch diese inszenierung keine
postkoloniale anklage sein, sondern ein denkanstoss, ein äusserst präziser
blick auf die komplexität der verhältnisse zwischen menschen, zwischen
religionen, zwischen kontinenten. um das zu unterstreichen sprechen die
schauspielerinnen und schauspieler immer wieder auch in ihrer muttersprache,
farsi, bulgarisch, lettisch, arabisch, die welt als babylonische provokation. moussas
leiche wird nie gefunden. das grab bleibt leer. daoud und koohestani füllen es
mit worten, nachhallend und nachhaltig. das eindrückliche ende einer schwierigen geschichte: ein grab
voller worte.
Freitag, 30. September 2016
Freitag, 23. September 2016
BASEL: FARINET ODER DAS FALSCHE GELD
„setz
dich doch!“ – „er hat doch grad drei jahre gesessen.“ – hahaha auf der bühne,
hahaha im publikum. das theater basel macht zum saisonauftakt auf volkstheater.
der schweizer autor reto finger hat ramuz‘ „farinet“ dramatisiert, die
geschichte vom falschmünzer im unterwallis, der gegen die obrigkeit stänkert
und handelt und dafür alle sympathien der bevölkerung auf seiner seite hat. ein
hübscher kleiner gaden steht auf der kleinen bühne, darin wird gejodelt, wie
sich die urbane jungregisseurin nora schlocker das alpenleben halt so vorstellt.
später mischt sie dann auch lateinamerikanische und fernöstliche klänge unter
die handlung, damit die alpine bevölkerung merkt, wie urbanes theater heute
geht, auch wenn es in den bergen spielt. naja. herausragend cathrin störmer als
farinets freundin joséphine; eine frau, die kämpft, für diesen mann, für seine
ideen, für ihre liebe und dann fallengelassen wird; sie ist die einzige figur
mit facetten und die einzige, die auch unter der oberfläche interessiert. und
sonst? zäh werden die episoden aus der endphase von farinets leben aneinander
gereiht, zäh versucht nicola mastroberardino die titelfigur mit bedeutung
aufzuladen: immer wenn er von freiheit spricht, holt er anlauf, betont überdeutlich,
macht überlange pausen und übergrosse augen, achtung-jetzt-wird’s-wichtig. das
ist tatsächlich: landtheater, und zwar nicht high-end. weder diese stückfassung
noch die inszenierung machen klar, warum uns dieser farinet heute noch
umtreiben soll. das grossartige literarische denkmal, das ihm ramuz setzte,
dürfte zur tendenziellen überbewertung der originalfigur beigetragen haben. wir
brauchen neue helden.
Donnerstag, 22. September 2016
ZÜRICH: FREISCHÜTZ OHNE WILDSAU
ich
war die wildsau in der wolfsschlucht. ich spielte die wichtigste rolle in der
wichtigsten szene des „freischütz“ von carl maria von weber. tief im
vergangenen jahrtausend. als junger, beweglicher statist am luzerner theater. deshalb
und wirklich nur deshalb habe ich zu dieser eigenartigen oper überhaupt eine
nähere beziehung. jägerchöre, jungfernchöre, die wolfsschlucht als
vagina-symbol, versagensängste des mannes beim schuss im dunkeln – huch, hach,
und ich war teil davon. jetzt also „der freischütz“ am opernhaus zürich, ich
kann’s nicht lassen. zur ouverture wird eine riesige zielscheibe aufs
bühnenportal projiziert, die sich neuneinhalb minuten lang in allen
psychedelischen farben verändert und bewegt, gross und klein wird und unscharf
und unförmig: die panik des max, dessen beruf und liebe einzig davon abhängen,
ob er bei diesem einen prüfungsschuss ins schwarze trifft. ein bild und alles
ist gesagt. regisseur herbert fritsch lässt den ganzen deutschen wald links und
den ganzen sigmund freud rechts liegen, die biedermeierliche lust am grauen und
die fritsch’sche lust am grotesken vermengt er gekonnt zu einem grellbunten grusical.
alles wird, auf höchstem professionellen niveau, radikal übertrieben. samiel, der teufel, eigentlich eine nebenrolle, ist hier ein dauerpräsenter, schmieriger conferencier. zur
optischen opulenz liefert marc albrecht mit der philharmonia zürich einen
reizvoll aufgerauhten romantik-sound, schaudern in fis-moll. und ja, fritsch
macht’s ganz ohne wildsau. kann man. hat wohl konzeptionelle gründe. vor allem
aber stand die idealbesetzung nicht zur verfügung, jener bewegliche luzerner
jüngling.
Freitag, 16. September 2016
LUZERN: PROMETEO
ein mutiger anfang. da kommt einer,
räumt die bühne und den zuschauerraum des luzerner theaters leer, baut sie bis
zur unkenntlichkeit um und führt in diesem von shakespeares globe inspirierten runden
raum luigi nonos „prometeo“ auf, ein werk, das sich allen gängigen erwartungen
an ein musiktheater radikal entzieht: keine figuren, keine handlung, keine
dramaturgie. der neue intendant benedikt von peter und sein musikalischer
leiter clemens heil verwickeln ihr luzerner publikum zum start in eine
zweieinhalbstündige klangskulptur, weil sie dieses publikum zum hören animieren
wollen, zum hinhören, zum genauen hören, zum entdecken, was diese
ungewöhnlichen klänge im kopf und im körper auslösen. ein mutiger anfang und
für den start in eine neue ära ein ausgesprochen kluger. das luzerner
sinfonieorchester und die gesangssolisten sind in grüppchen verteilt auf den
rängen, während das publikum unten im abgedunkelten rund sitzt, steht oder auf
matten liegt und sich diesen klangwelten in immer neuen positionen aussetzen
kann. luigi nono liess sich für seine melodienfetzen über die trümmer der
menschlichen katastrophen und das überwinden von klippen von aischylos, sophokles,
hölderlin und walter benjamins „geschichtsphilosophischen thesen“ inspirieren.
ihre texte wandern als lichtspiel immer wieder über die holzwände und die
körper des publikums. wie mit so einfachen mitteln aus einer durchaus kopfig
konzipierten komposition ein sinnliches, einlullendes, beflügelndes
musik-erlebnis entsteht, das ist das eigentlich spektakuläre dieses abends.
Montag, 5. September 2016
LUZERN: DEM ANDENKEN EINES ENGELS
alban
berg war ein zahlenfetischist. besonders die 23 hatte es ihm angetan: viele
seiner werke wurden an einem 23. vollendet, in takt 23 seines violinkonzerts
erklingt das todesmotiv, der zweite satz hat 230 takte und als tempo werden
hier immer wieder 69 schläge pro minute vorgegeben (3x23). und. so. weiter. das
konzert ist „dem andenken eines engels“ gewidmet, manon „mutzi“ gropius, der
tochter von alma mahler-werfel und walter gropius, die 18jährig an
kinderlähmung starb. dieser tod erschütterte alban berg so sehr, dass das
violinkonzert trotz seiner liebe zu zahlen keine mathematische veranstaltung
wurde, sondern ein werk von aussergewöhnlicher zartheit. anne-sophie mutter hat
dieses requiem für mutzi jetzt beim lucerne festival gespielt, als berührende, intime
reise vom diesseits ins jenseits. berührend auch deshalb, weil sie vom
orchester der lucerne festival academy begleitet wurde, lauter jungen
musikerinnen und musikern, denen der tod einer 18jährigen anders nahe geht. mit
grosser intensität liess alan gilbert dieses hochmotivierte orchester der
solistin in die überirdischen sphären folgen, mit trauer, fieber und andacht. für
anne-sophie mutter war diese annäherung an die jugend und an den himmel gleichzeitig
ihr 40-jahr-jubiläum am lucerne festival („primadonna“ lautet, passenderweise, das
motto in diesem sommer); mit 13 trat sie hier erstmals auf. ihr rezept, in all
den kompositionen nach so vielen auftritten doch immer wieder neue zugänge zu
entdecken, verrät sie im programmheft: „man braucht einfach die leidenschaft
fürs detail und ein gesundes quäntchen unzufriedenheit.“
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