Dienstag, 23. August 2022

BASEL/LUZERN: WENN WIR ES BESCHREIBEN KÖNNTEN

es gab schwierige momente, schwierige gespräche, schicksalsschläge: der eine ist durch eine schwere krankheit in eine existenzielle krise geraten und hat „wege zurück in eine lebbare welt“ gefunden, der andere hat ihn dabei in tiefer freundschaft begleitet. der eine ist stephan schmidlin (basel), der als physiotherapeut begann und sich zum maler entwickelte, der andere ist roland neyerlin (luzern), der als primarlehrer begann und sich zum philosophen entwickelte. gemeinsam haben die beiden für den pamal-verlag jetzt den berührenden band „wenn wir es beschreiben könnten…“ realisiert. schmidlin steuert illustrationen in kräftigsten farben bei: immer wieder frauen am fluss, fischende jungs, schwimmende männer, viel wasser und viele eindrückliche und wunderbar unscharfe landschaften. neyerlin lässt sich von den bildern zu kurzen und klugen reflexionen inspirieren: über das schweigen, das suchen, die verzweiflung, das erinnern, das malen, das verweilen und immer wieder über die freundschaft: „befreundet sein als eine dialogische seinsweise reichert mich an mit anderem leben. mein welterleben wird mehrdimensional. die welt existiert nur in der vielfalt der perspektiven.“ dieses buch ist keine krankheitsgeschichte und auch nicht deren aufarbeitung, sondern ein plädoyer für die qualitäten einer umfassenden freundschaft: sich nahe sein, sich begleiten und unterstützen, ohne immer alles verstehen zu wollen: „verstehenshorizonte sind vielfältig. eindeutigkeit ist etwas für dogmatiker. verstehen ist eine dauernde anstrengung. – wer nur fertige bilder haben will, der begreift nicht viel.“ verstehen nicht als ziel, verstehen als bereichernder versuch. ein mutmacher.

Samstag, 20. August 2022

MOGHEGNO: VENTO DI VITA VERA

die kleine piazza in moghegno piazzte aus allen nähten: die 250 sessel, die das filmfestival von locarno für die première von „vento di vita vera“ im maggiatal freundlicherweise zur verfügung stellte, reichten bei weitem nicht. die leute standen auch auf der terrasse der osteria, vor den häusern, im gässlein. ein tolles echo für uns filmemacher (nicole lechmann in der hauptrolle, regie kurt koller, kamera andrea capella, musik marco zappa, drehbuch christoph brander). der filmessay aus dem val bavona bewegte die menschen auch über die grandiosen landschaftsbilder hinaus. ziel erreicht. wo ist meine heimat? wo gehöre ich hin? soll ich weggehen? soll ich zurückkehren? diese fragen schienen vor allem den tessinerinnen und tessinern im publikum nahe zu gehen, weil sie für viele von ihnen schon einmal existenziell waren oder immer noch sind: „das wichtigste, egal ob man bleibt oder weggeht, ist das gefühl, immer wieder etwas zu entdecken“, sagt die schriftstellerin doris femminis, die in cavergno aufgewachsen ist und seit über 20 jahren in der romandie lebt, im film: „ich bin sehr verwurzelt hier, aber ich glaube, dass aus wurzeln blüten und früchte entstehen, die auch anderswo wachsen.“ rachele gadea-martini, die geschäftsführerin der fondazione valle bavona, machte dem team auf der piazza das grösste kompliment: „sie sind den orten und den menschen mit viel geduld und respekt begegnet und haben die themen und die geschichten mit grosser sorgfalt ausgewählt und zusammengefügt. ich habe die poesie und die reflexion in ihrer arbeit gespürt. dieser blick von aussen hilft uns, zu wachsen und zu reifen.“ grazie, rachele. grazie, bavona. es war eine grossartige erfahrung, diesen film zu machen. 

Dienstag, 16. August 2022

LOCARNO: PARDI DI DOMANI

 nach vielen harten, temporeichen, schnell geschnittenen, formal mutigen bis irritierenden filmen der jungen generation hält jetzt ganz offensichtlich die poesie wieder einzug. das wird bei den „pardi di domani“ (die leoparden von morgen), der newcomer-sektion des filmfestivals von locarno, dieses jahr überraschend deutlich. poesie schon bei den filmtiteln, hier nur drei von vielen: „chant pour la ville enfouie“ ist eine bedächtige hommage an das abgefackelte und eingeebnete flüchtlingscamp von calais. hinter „euridice, euridice“ verbirgt sich eine zartbittere liebesgeschichte zweier frauen, die abrupt endet, als die eine ohne abschied nach griechenland entschwindet. „l’enfant au diamond“ ist eine jugendliche, die verstörten, verzweifelten menschen in einer erstarrten welt die augen für neue möglichkeiten öffnen will. die poesie ist also nicht einfach selbstzweck, sondern eine entscheidung, die themen der zeit so zu verhandeln, dass das publikum nicht durch eine story gejagt, sondern zum mit- und nachdenken eingeladen wird. das erreichen die jungen regisseurinnen und regisseure mit ruhigen bildern, langen einstellungen und immer wieder viel persönlich geprägtem, tagebuchartigem off-text, gesellschaftlich und politisch engagiert, ohne verbittert zu sein. die präsentation der „pardi di domani“ war dieses jahr eine wohltuende insel im locarneser trubel: ort und zeit für reflexion.