Sonntag, 30. Mai 2021

LUZERN: SCHILTEN

was für ein auftritt: in einem abscheulichen bodenlangen pelzmantel sitzt dominik blum mit dem rücken zum publikum und quält die kleine orgel, die in der box des luzerner theaters steht, zu einem tongewitter von apokalyptischer dimension und lautstärke. man sorgt sich um die jesuitenkirche gleich nebenan. diese orgel ist das zentrale requisit in hermann burgers romandebut „schilten“ (1976). sie steht in der turnhalle eines abgelegenen dorfschulhauses, weil die auch für abdankungen gebraucht wird. burger exerziert grandios-sprachmächtig die nähe von schule und tod vor, die ihn seit je faszinierte: „ich erlebte an mir selbst und an vielen kollegen, wie gross die gefahr der verknöcherung ist, wenn der lehrer den mut zum ausbrechen verliert, zur inneren regeneration.“ in der inszenierung von christiane pohle verbinden sich das orgelgewitter und burgers sprachgewitter zu einem morbiden pas de deux. zwei schauspielerinnen und zwei schauspieler teilen sich die monologe des hochgradig desillusionierten dorfschullehrers armin schildknecht. zwischen zehn holzkisten, die mal als pulte, mal als turngeräte, mal als särge dienen, entlocken sie diesem text, der eine verteidigung zuhanden der inspektorenkonferenz ist, alle facetten: sie schreien und rappen und umschmeicheln das verzweifelte, das witzige, das absurde. vor allem philippe graber mit seinem furiosen komödiantischen talent führt vor, wohin die geistige selbstverstümmelung führen kann und wie nahe die vermischung von fakten und fiktion dem wahnsinn ist – und die orgel spielt dazu tango, kantaten, wagners walkürenritt. so entsteht eine aberwitzige sinfonie des alltäglichen grauens. der gedanke, welche rolle die lehrerinnen und lehrer von heute für die gesellschaft von morgen spielen, ist mehr als bloss risiko und nebenwirkung.

Dienstag, 25. Mai 2021

LUGANO: CAPOLAVORI DELLA FOTOGRAFIA

diese ausstellung im masi (museo d’arte della svizzera italiana) in lugano ist eine wohltat. in einer welt, die uns mit bildern bis zur bewusstlosigkeit zudeckt, spannt „capolavori della fotografia moderna“ einen bogen zu den meisterwerken von 1900 bis 1940. über 200 fotografien aus der sammlung thomas walther des museum of modern art new york werden hier erstmals in europa gezeigt: porträts, stadtlandschaften, stilleben, alles schwarz-weiss. eine aussergewöhnliche aura umgibt diese bilder, denn fotografieren war damals noch nicht sekundenschnelles schiessen, sondern langsames, sorgfältiges kunsthandwerk, auseinandersetzung mit dem sujet und dem licht zunächst und anschliessend auseinandersetzung mit dem material, mit platin und palladium zum beispiel. die fotografinnen und fotografen experimentierten vor allem in den jahren zwischen den weltkriegen viel und lustvoll; das reicht von surrealistischen fotomontagen bis zu gewagten selfies eines fallschirmspringers. die aufkommenden zeitschriften („berliner illustrirte“, ja, ohne e, „life“, „vogue“) trugen dann massiv dazu bei, dass die fotografie zum wichtigsten visuellen gestaltungsmittel wurde. bis heute. tut gut, sich in dieser grosszügig konzipierten ausstellung wieder einmal klar zu werden, dass das wichtigste beim fotografieren nicht das abdrücken ist, sondern das exakte hinschauen zuvor. die wurzeln der heutigen instagram-hektik liegen in diesen ruhigen bildern von grosser klarheit, grosser gelassenheit, grosser schönheit.

Donnerstag, 6. Mai 2021

MÜNCHEN: DIE DEUTSCHE ERREGUNGSKULTUR

und wieder wird eine sau durchs dorf gejagt. und noch eine. und noch eine. und hinterher jagen die sozialen medien mit ihren hashtags. eine sau, ein hashtag, eine grosse aufregung, die nächste sau, der nächste hashtag, die nächste grosse aufregung: #umweltsau, #boehmermann, #sofagate, #impfzwang, #allesdichtmachen. die ausser rand und band geratene deutsche erregungskultur, wo sich anlass und ausmass oft umgekehrt proportional verhalten, fällt den deutschen selber gar nicht (mehr) auf. dachte ich. bis jetzt. doch die „süddeutsche zeitung“ hat sich dazu nun durchaus auch ihre gedanken gemacht und sie in allerliebste worte gekleidet: „die in diesem land so unaustreibbar beheimatete neigung, jederzeit etwas zu finden, was man kritisieren kann, selbst wenn das vorletzte thema noch nicht ganz durchgeschimpft ist. (…) es ist wurscht, dass sich das nölthema des einen tages oft mit dem nölthema des nächsten tages widerspricht – hauptsache, es kann genölt werden.“ exakt, #hauptsacheeskanngenöltwerden