Montag, 28. Juni 2021

MÜNCHEN: FRAU LUNA

„operette, lachender traum von liebe und glück, geboren aus gesang und tanz, den allewig sprudelnden quellen jeder theaterkunst, liebesfreude und liebeskummer in spielerischer anmut spiegelnd, hundertmal totgesagtes und doch immer wieder quicklebendiges mischmasch aus gesang, sprache, gebärde, tanz, kostüm, perücken, leinwand, sperrholz, pappe, scheinwerfern, maschinerien, unter schwaden von leinfarbe, schminke, puder und unter wolken von sehr viel staub erblühende heiterste blüte der kunst – o du verwegenes gemengsel holdesten unsinns mit bester lebensweisheit, wie lieben wir dich zärtlich und heiss mit allen deinen lüsten und berauschungen, deinen fehlern und marotten, deinen wahrheiten und deinen vielen falschheiten.“ huch, da ist einer richtig in fahrt gekommen (edmund nick in seiner paul-lincke-biografie 1953). und wir so? in der pasinger fabrik gewesen ("münchens kleinstes opernhaus"), "frau luna" von paul lincke geguckt ("das ist die berliner luft, luft, luft"), die operettendiva im siebten monat schwanger (härtetest für das ungeborene), prinz sternschnuppe eine toxische kreuzung von eisenherz und heino (kitsch-as-kitsch-can), grosse stimmen (wo geht’s hier zur arena di verona?), kleine revue-combo (operette geht auch mit vier-mann-orchester), bildungslücke in sachen musikgeschichte geschlossen (die meistgespielte berliner operette) und, ja, ich geb’s zu, viel spass gehabt.

Freitag, 25. Juni 2021

MÜNCHEN: HAMLET UND DER ELEFANT

der elefant im raum: keiner spricht offen über den mord an hamlets vater durch hamlets onkel, der sich so nicht nur an die krone, sondern auch an die königin ranmacht. robert borgmann lässt in seiner inszenierung am residenztheater in münchen einen überlebensgrossen elefanten auf die von weissen vorhängen umrandete bühne plumpsen, aufblasbar und durchsichtig. und hamlet, der traumatisierte jüngling, verführt die ganze höfische bande zu einem irren spiel mit diesem riesenelefanten, einem absurden, stummen tanz der verlogenheit. johannes nussbaum ist ein sehr jungenhafter hamlet und ein fabelhafter dazu, wie ein wichtel wuselt er wuschelköpfig durch die szenen, tänzelt lasziv wie ein kleiner nijinsky über dem sinnlich-suggestiven e-klangteppich von rashad becker, brüllt auch mal aggressiv, er hat die fäden in der hand, will das spiel durchschauen und hintertreiben. so initiativ und aktiv haben wir hamlet noch nie gesehen, mehr schiller als shakespeare. das theater im theater, das den neuen könig seiner untaten überführen soll, inszeniert er als dröhnendes grusical. doch dann verliert sich borgmanns regie in der beliebigkeit ihres ideenreichtums: songs, textbezüge, bilderfluten. dieses ganze hamlet-package erschlägt auch hamlet selbst. zwei grosse auftritte werden johannes nussbaum noch gegönnt: einerseits ein berührendes klagelied (kroatisch?), das er ganz allein auf der riesigen bühne zu einem kampflied werden lässt, und schliesslich der kippmoment: „von jetzt an mal´ ich mit blut meine gedanken.“ der rest ist schweigen, und die luft ist raus aus dem elefanten.

Donnerstag, 24. Juni 2021

MÜNCHEN: EIN FASZINIERENDER PLAN

was will sie mir bloss sagen? enis maci ist eine geförderte und gefeierte schriftstellerin, zuletzt für ihren essayband „eiscafé europa“. die 28jährige mit albanischen wurzeln und gelsenkirchener jugend zeigt im werkraum der münchner kammerspiele jetzt „ein faszinierender plan“, eine begehbare installation. zwei grosse screens stehen im leeren raum, vier würfelsessel, die man „nicht berühren“ darf, liegen herum, that´s it. installation? begehbar? während 17 minuten zeigen frau maci und befreundete künstlerinnen und künstler auf den bildschirmen schnipsel aus den sailor-man-mangas, kurdenführer abdullah öcalan mit einer seiner friedenstauben, eine karambolage auf einem nächtlichen highway, ein junger schauspieler gibt sich als wiedergänger des russischen universalgelehrten michail lomonossow zu erkennen, die autorin erzählt über eine ölfontäne im garten ihrer mutter. „die tatsachen und die taten, sie verschwinden ja nicht, nur weil sie sich verändern oder verändert werden“, steht im text zur installation. ferner: „fest steht auch: die arbeit ist es, die den menschen umbringt.“ es sind krude, wilde assoziationen ohne erkennbaren notausgang. oder werde ich hier wieder von dieser bis zur unkenntlichkeit entstellten ironie umzingelt? der beweis für die dringlichkeit der kunst, der von vielen jetzt immer wieder eingefordert wird, er wird hier definitiv (noch) nicht erbracht. es ist, als würde ich mich wahllos durch tv-programme zappen – und nirgendwo verweilen. was will sie mir bloss sagen? gerne hätte ich eine andere besucherin um hilfe gebeten, doch da war keine, ich war der einzige. vielleicht sollten sich die münchner kammerspiele wieder vermehrt auf ihr kerngeschäft besinnen. theater. das können sie.

Montag, 21. Juni 2021

RIEHEN: (GREEN) LIFE BY ELIASSON

grün wirkt beruhigend, sagt man. in einem punkt sind sich die kulturredaktorin meines vertrauens und ich dann allerdings doch nicht ganz einig: gilt das für jedes grün? auch für dieses grelle, fluoreszierende, aggressive, knallig-giftige grün, mit dem olafur eliasson (54) die fondation beyeler in riehen überschwemmt hat? wirkt das, bei aller begeisterung, nicht doch eher stimulierend (finde ich) als beruhigend (findet sie)? den teich im park hat der isländisch-dänische künstler um zehn zentimeter angehoben und so acht räume des museums geflutet. im leuchtend grünen wasser, über das schlichte holzstege führen, wuchern seerosen und muschelblumen, die installation trägt den titel „life“, sie lebt und verändert sich und ja – vermutlich hat meine kollegin recht – sie scheint die menschen zu beruhigen. alle, die ich beobachte, werden hier langsamer und stiller, sie schauen genauer hin, unbekannte lächeln sich zu, ein undefiniertes glück schwebt im raum, einige möchten offensichtlich die welt umarmen, es sind schöne, eindrückliche momente. nicht nur unser verhältnis zur natur interessiert eliasson, sondern umgekehrt auch das der natur zu uns. dieses aussergewöhnliche grün kann also sowohl als idealisierung der natur gesehen werden wie auch als vom menschen vergiftete brühe. in ihrer genialen einfachheit lädt diese installation dazu ein, „gemeinsam die welt zu erforschen, die wir miteinander teilen“, ein raum der koexistenz. stimulierend oder beruhigend? auf jeden fall verändert eliassons „life“ die menschen, alte und junge, für kürzer oder länger. 

Mittwoch, 16. Juni 2021

CHUR: ZILLAGORILLA UND WIR

zwei alte flügel klimpern im geräumigen zweiten untergeschoss des bündner kunstmuseums, wie von geisterhand, der eine legato, der andere staccato. sie liefern den diskret-heimeligen grundsound für die werkschau von zilla leutenegger. räume sind ihr thema, erinnerungen an räume der jugend, ängste in räumen, inspiration durch räume. „espèces d’espaces“ nennt sie die schau, angelehnt an die raumetuden des französischen schriftstellers georges perec (die auf deutsch lange vergriffen waren und jetzt unter dem titel „träume von räumen“ neu aufgelegt wurden). zilla leutenegger versammelt in einer art saalflucht werke aus vielen jahren, ohne die räume zu überfrachten, auch schweres wirkt hier leicht. des vaters werkstatt mit beil und säge taucht auf, eine alpküche, ein bagno verde, turnereien auf strassenlaternen, sofa-lümmeleien, das leben kreuz und quer; es sind grossformatige monotypien, witzige objekte, verspielte videos mit dem alter ego der künstlerin in der stummen hauptrolle. wie bei einer wohnungsbesichtigung führt sie uns durch ihre biografie und lässt dabei immer so viel offen, dass wir die gedanken selber weiterspinnen, unsere eigenen realen und geistigen räume hervorkramen, vom allernächsten bis in die ferne. so wird der betrachter nicht zum zilla-voyeur, sondern zu einem verbündeten im privaten. was ist heimat? wo endet ein raum? wo geht er in zeit über? die tür zum hintersten zimmer ist nur einen spalt weit offen, mehr geht nicht, eine dunkle silhouette ist zu erkennen; was sich hinter der tür verbirgt, überlässt die künstlerin unserer phantasie. es ist eine letzte einladung. zillagorilla heisst der raum. die phantasie hat zu tun.

Montag, 14. Juni 2021

GENÈVE: LA COMÉDIE VIRTUELLE

die comédie steht, das neue genfer schauspielhaus beim ebenfalls neuen bahnhof eaux-vives. sara martin camara und laurent gravier, die beim architektur-wettbewerb 87 konkurrierende teams hinter sich liessen, haben ein gebäude aus mehreren kuben gebaut, mit klaren formen und von bestechender schlichtheit. ein ort, der trotz viel sichtbeton ausgesprochen einladend wirkt, dank grosszügigen foyers und viel licht von allen seiten. die nouvelle comédie de genève ist für die öffentlichkeit noch nicht zugänglich, sie wird ende august offiziell eröffnet. trotzdem waren wir drin und haben uns von vorne bis hinten umgeschaut. ein wochenende lang gab’s la comédie virtuelle, ein digitales amuse-gueule fürs künftige publikum. im neuen foyer wurden wir mit dem vollen virtual-reality-besteck ausgerüstet (d.h. bis zur unkenntlichkeit entstellt). zum aufwärmen konnten wir uns durchs ganze haus beamen, die grande salle, die salle modulable, die werkstätten, das restaurant. man darf sich freuen. und damit’s nicht nur leere räume zu besichtigen gab und weil die digitalen experimente unter der co-direktion von natacha koutchoumov und denis maillefer auch ganz losgelöst von pandemischen zwängen einen wichtigen platz einnehmen sollen, liessen sie sich schon jetzt ein faszinierendes 3d-spektakel einfallen: tänzerinnen und tänzer in melbourne, bengaluru und genf tanzten zeitgleich vor x kameras in ihren trainingsräumen und wurden digital zu einem ensemble in der comédie vereint. erst tanzten sie in der leeren salle modulable, die sich dann zunächst in einen zauberwald und später in eine fantasy-wüste verwandelte, was die möglichkeiten des neuen theaters schon mal ahnen liess. eigentlich gehöre ich zu denen, deren streaming-bedarf für die nächsten 15 jahre gedeckt ist. dachte ich. eigentlich.

Montag, 7. Juni 2021

BERGÜN: BERGFAHRT SURPRISE

draussen schleichen die nebel durchs tal, drinnen bleiben die düsteren geschichten hängen: im prachtvollen blauen jugendstilsaal des kurhauses bergün performt der berner erzähler michael fehr seine texte, das requiem für einen anonym verstorbenen, die ballade von den wachhunden, die einen immobilienhai entsorgen. zunächst einfach rhythmisierte sprache, im zweiten teil dann, gemeinsam mit dem schlagzeuger rico baumann, alles heftig und immer heftiger. die worte werden geschlagen, gedrechselt, geschrien, der banal beginnende traum vom jungen mann beispielsweise, der am oberen ende einer steilen treppe sitzt, grüntee verlangt und stattdessen von drei eigenartigen frauen corned beef bekommt und dann unten auf dem steinboden aufschlägt, huch, die höllengeschichten werden zum ohrenbetäubenden höllenspektakel, der traum hämmert im kopf. ein ganzes wochenende lang hätte das bergfahrt-festival die gassen, ställe und stuben von bergün mit literatur und architektur, mit musik und film aufmischen sollen. schon zum zweiten mal fiel es der pandemie zum opfer. der motivation und flexibilität des organisationskomitees allerdings hat sie nichts anhaben können und so präsentierte dieses im kurhaus jetzt eine reduzierte variante: bergfahrt surprise, zwei acts vom feinsten. neben dem düster-duo fehr/baumann hörten wir auch noch „rodas“, das sind corin curschellas (gesang), patricia draeger (akkordeon) und barbara gisler (cello); zauberhaft kombinieren sie weisen aus den bergen und geschichten aus den tälern, alpsegen und abgründiges, melancholie und witz. das festival, das keines war, klingt prächtig nach.  

Sonntag, 6. Juni 2021

BERLIN: TODESURSACHE

"in den meisten fällen ist die todesursache eines menschen sein leben." kommissar karow, "tatort" berlin.