sie hat es
getan. pipilotti rist hat die nzz vollgepinselt. auf fast allen seiten mit fast
allen farben. wild und frech und träumerisch. auch der nzz gebührt ein
kompliment für diese für ihre verhältnisse geradezu übermütige idee. in einem
zweiseitigen (zwei!!) interview, das einem pipilotti rist noch sympathischer
macht als sie es eh schon war, erläutert sie ihre farbenlehre auch anhand ihrer
kleiderwahl: „wer bunt durch die welt geht, zeigt sich offen für gespräche auch mit
unbekannten menschen. das verlange ich von mir.“ neben den bemalten newsseiten
enthält das gesamtkunstwerk nzz auch neun ganzseitige pipilotti-illustrationen.
vorgesehen ist deren verwendung als tischset, da re- und upcycling der
künstlerin ein dringendes bedürfnis ist. die
alte weisheit, wonach nichts so alt ist wie die zeitung von gestern, gilt für
einmal also nicht. wohlan denn, zweitleben für die nzz. „tischset
schmaus“ hat pipilotti oben auf die frontseite gekringelt, über den leitartikel
von chefredaktor eric gujer. gujer und schmaus, das ist ja vielleicht mal ein ding. werde mir noch
ein paar exemplare kaufen. die nzz vom 29. oktober 2022 (fr. 5.70) bringt bestimmt
mehr rendite als etf-fonds. aber darum geht´s ja eben nicht. also tischsets.
Samstag, 29. Oktober 2022
ZÜRICH: DIE NZZ ALS TISCHSET
Montag, 24. Oktober 2022
MÜNCHEN: HUNGRY GHOSTS
völlig aufgelöst rennt die schauspielerin charlotte (katharina maria schubert in hochform) durch die kulissen, es klopft von allen seiten, sie reisst türen auf und schlägt sie wieder zu, kurvt über die hinterbühne, versucht dem klopfen auszuweichen, immer schneller, es klopft immer häufiger, charlotte hechelt und schwitzt. es sind die geister der vergangenheit – und der gegenwart – die da anklopfen. man wird sie nicht los, wenn man wegrennt. charlottes panischer lauf ist die dominante szene in „hungry ghosts“, das die polnisch-französische regisseurin anna smolar auf der basis eines textes von mira marcinów mit dem ensemble der münchner kammerspiele erarbeitet hat. eine frau erzählt, wie als kind ihre schwester ertrank und sie nicht zur beerdigung durfte, eine andere, wie sich ihr onkel im keller erhängte. die schatten der erinnerungen kommen ins spiel, „der ganze dreck der familie“ und „die loyalität zu den toten“. es sind bewegende zeugnisse. „das trauma will, dass du ihm eine schüssel bringst“, sagt eine mal. sie reden über ihre seelischen wunden, sie singen mal voller wut und mal voller poesie, ihre körper zucken unter den biografischen altlasten und manchmal verschwinden sie tanzend im nebel – wie die zerfaserten erinnerungen. nicht immer gelingt die überwindung des schweigens. eigentlich sollte charlotte die hauptrolle in einer boulevardkomödie spielen und, ja, türen aufreissen und wieder zuschlagen, den liebhaber verstecken und den gehörnten ehemann ablenken. mit dieser wiehernden klapperkomödie als rahmenhandlung hätte anna smolar dem grossartigen abend wohl etwas von seiner schwere nehmen wollen. keine gute idee. traumata, die sich im erbgut ablagern, und slapstick sind eine toxische mischung.