Mittwoch, 25. März 2020

ZÜRICH: FRISCH, FRAGE 1

viel zeit zum philosophieren. allein, zu zweit, vielleicht auch im online-kränzchen. ein immer wieder bewährter begleiter dabei bleibt der "fragebogen" von max frisch (suhrkamp). wie zeitlos aktuell er ist, daran lässt schon frage 1 keinen zweifel. ja, frage 1: "sind sie sicher, dass sie die erhaltung des menschengeschlechts, wenn sie und alle ihre bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?" 

Donnerstag, 19. März 2020

LUZERN: DER JESUIT UND DIE HAMSTERKÄUFE

über hamsterkäufe - oder so - hat sich bereits der spanische jesuit balthasar gracián, der von 1601 bis 1658 lebte, seine gedanken gemacht. unter den rund 300 sentenzen und maximen, die er in seinem „handorakel und kunst der weltklugheit“ versammelte und weitergab, findet sich auch diese (nr. 82 in der reclam-ausgabe): „nichts bis auf die hefen leeren, weder das schlimme noch das gute. ein weiser führte auf mässigung die ganze weisheit zurück. das grösste recht wird zum unrecht; und drückt man die apfelsine zu sehr, so gibt sie zuletzt das bittre. (…) sogar der geist wird stumpf, wenn man ihn bis aufs letzte anstrengt: und blut statt milch erhält, wer auf eine grausame weise abzapft.“ gracián ist ein wenig aus der mode und in vergessenheit geraten. und doch scheint er gerade in unserem quartier viele heimliche oder unbewusste anhängerinnen und anhänger zu haben: keine corona-bedingten hamsterkäufe, in keinem einzigen laden.

Dienstag, 17. März 2020

LUZERN: DER SCHWARZE SCHWAN

2007 schrieb der libanesische finanzmathematiker und essayist nassim nicholas taleb „der schwarze schwan“ (deutsch bei knaus). untertitel: „die macht höchst unwahrscheinlicher ereignisse“. dieses buch wäre jetzt natürlich das buch der stunde, wenn es die leserin und den leser nicht mit einer geradezu unappetitlichen geschwätzigkeit verärgern würde, die in diesen ersten tagen der corona-notlage kaum jemand erträgt. taleb liefert durchaus bedenkenswerte ansätze: „das heutige leben auf unserem planeten erfordert viel mehr fantasie, als uns mitgegeben wurde. es fehlt uns an fantasie, und wir unterdrücken sie bei den anderen.“ nur drohen all diese gedanken in einer flut völlig irrelevanter persönlicher anekdoten zu ersaufen. nutzen wir also die zeit, die wir gewinnen, wenn wir talebs wälzer nicht lesen, um unsere fantasie genauso fit zu halten wie unser immunsystem. wir werden sie noch brauchen.

Donnerstag, 5. März 2020

LUZERN: KALABRIEN

ein klavier, ein buffet, ein kühlschrank, zwei tische, ein altes radio. was zu beginn kreuz und quer auf der bühne des voralpentheaters in luzern rumsteht, schieben die acht frauen und vier männer vom ensemble greyhounds, alles laien über 60, schnell zusammen zu einem gemütlichen wohnzimmer und singen dazu „is muetters stübeli“. wie die möbel werden dann auch die erinnerungen dieser urner familie zurechtgerückt. „kalabrien“, das reto ambauen nach einer erzählung von erwin koch einfühlsam inszeniert, voller tragik und voller poesie, ist eine reise in die vergangenheit, eine spurensuche. francesca hat ihren „däädi“ geliebt und wortlos verstanden, doch warum sieht sie so anders aus als ihre vier geschwister, so viel südlicher? alle spielen mal francesca, ein bestechender einfall, denn die erinnerung hat immer wieder ein anderes gesicht. was lief da vor über 60 jahren? warum verbot die mutter francesca, ins unterdorf zu gehen, wo die italiener wohnen? warum fuhr einer von ihnen dem mädchen immer besonders liebevoll durchs haar? warum hörte die mutter eigentlich die sendung „per i lavoratori italiani in svizzera“? warum redet man darüber höchstens hinter vorgehaltener hand? mit tollem gespür für rhythmus und tempo jagen die 12 laien die erinnerungsfetzen, erzählen sich von früher, fallen sich ins wort, spielen familienszenen nach, schmettern louis armstrong und adriano celentano. mit diesen erinnerungen gelingt ihnen ein ebenso farbenprächtiges wie anrührendes puzzle. nach vielen umwegen findet francesca ihren richtigen vater in girifalco. jetzt hat sie zwei väter. die wahrheit, die erinnerungen oder ihre gespenster – was zählt am meisten? „vola, colomba bianca, vola“, singen sie am schluss, versöhnlich, leicht. flieg, weisse taube, flieg.