Freitag, 27. Mai 2022

LUZERN: FÜNF BESTE TAGE

s wie schamhaar, u wie usa, a wie alkohol. und jetzt eine geschichte zu einem stichwort mit dem buchstaben m! sie sprudeln nur so, die anekdoten aus der vergangenheit, kunterbunt durcheinander: sieben frauen und acht männer sind kaum zu bremsen, das leben ist vielstimmig und die grauzone zwischen erinnerung und wahrheit gross. eigentlich sind die 15 seniorinnen und senioren auf der bühne des voralpentheaters nur zwei: monika und max, die im alter zueinander gefunden haben. „fünf beste tage“ heisst die berührende geschichte von erwin koch, die reto ambauen fürs theater adaptiert und mit den greyhounds inszeniert hat. monika leidet schwer an einem karzinom in den gallengängen und bestellt exit auf montagabend. max begleitet sie in diesen letzten tagen, macht ihr einen sirup, bringt ihr den lippenstift, formuliert seine angst „wenn du dann röchelst und zuckst“, sie tanzen noch einmal und reden, reden, reden, ungeschminkt wie nie zuvor und immer herzlich und manchmal auch skurril, etwa wenn max ihr ausgiebig von seiner phantasie erzählt, definitiv zur friedensameise zu werden. viel humor ist da im spiel, in dieser inszenierung vielleicht etwas zu viel, auch zu viel hektik. so kommt einer intimen konstellation oft die initimität abhanden. man freut sich, wenn die 15 als chor mal einfach nur ruhig und besinnlich vor sich hinsummen und so einen ausdruck finden für den nahen tod, oder wenn christov rolla am klavier im hintergrund ganz wunderbar leicht eine zarte stimmung spiegelt. monika geht, max bleibt – und bis zuletzt stellen sie sich immer wieder mit grosser ernsthaftigkeit und grossem interesse die eine frage: „was wissen wir voneinander?“ in dieser inszenierung sind alle mal monika oder max, das leben ist vielstimmig. 

Donnerstag, 26. Mai 2022

LUZERN: ALT WERDEN MIT KATJA

„alter ist radikalität und meisterschaft, nicht durchhängen“, lautet die devise von udo lindenberg, die sich die regisseurin und begnadete kolumnistin katja früh sehr zu herzen genommen hat. ja, denkt man, genau so muss es sein! „den wunsch nach dem besonderen loslassen und der banalität ihren platz geben“, lautet eine ganz andere devise von katja früh. ja, denkt man wieder, genau so muss es sein! nur: dieses pendeln zwischen dem meisterlich und aussergewöhnlich sein oder zumindest sein wollen auf der einen und dem arrangement mit der banalität, der langeweile, dem nichts auf der anderen seite – das ist dann doch eine ziemlicher spagat, das verlangt eine richtig gut trainierte ambiguitätstoleranz. katja früh beherrscht das. in ihren kolumnen beschäftigt sie sich immer wieder mit dem alter und las jetzt im hotel beau séjour in luzern daraus vor. die von irene graf überaus sympathisch moderierte 60-plus-veranstaltung der stadt wurde zur begegnung mit einer aufgestellten, humorvollen und durchaus realistischen frau, die so munter richtung alter wandert, dass man zum nachahmungstäter werden möchte: lustvoll nach vorne schauen, dabei die meisterschaft, die radikalität und die banalität gleichermassen ins eigene konzept integrieren. so geht alt werden mit katja. bleiben sie dran.

Montag, 23. Mai 2022

BALLWIL: TOGGENBURGER PASSION

ballwil liegt nicht im toggenburg, sondern im luzerner seetal. als luzerner mit toggenburger wurzeln wird man aber natürlich hellhörig, wenn der kirchenchor von ballwil die – mir bis anhin nicht bekannte – „toggenburger passion“ von peter roth aufführt: heimatklänge fern der (ur-)heimat sind da also angesagt. das 1983 entstandene werk verbindet einen klassischen, kammermusikalischen duktus mit melancholischen hackbrettklängen und lüpfigen tanzweisen aus den kargen ostschweizer tälern. das wirkt weder aufgesetzt noch schräg, sondern ergibt einen sehr suggestiven klangteppich für die leidensgeschichte jesu, die das werk nicht mit dem tod am kreuz abschliesst, sondern bis zur auferstehung, zum pfingstfeuer weiterführt. dass grosse teile des textes in mundart gesungen werden, schafft einen noch unmittelbareren zugang („oh wörsch du doch lose“ statt „erhöre mich, o herr“). dirigent hannes roesti unterstreicht die spannung, die zwischen leiden und erlösung liegt, indem er die momente der verzweiflung und der angst bewusst langsam angeht, geradezu meditativ auskostet, und als kontrast dann die beiden solisten, das erfrischend junge instrumentalensemble und den chor in der freude, im jubel regelrecht anpeitscht, mit tempo und fortissimo. mit ganz offensichtlicher lust lässt der chor die bedrückenden ereignisse von golgotha in einem fest der zuversicht enden. diese passion ist eine entdeckung – und der herzhafte applaus in der vollen kirche beweist es: sie rührt nicht nur meine toggenburger seele.

Sonntag, 22. Mai 2022

BERN: I CAPULETI E I MONTECCHI

mächtig verliebt lümmeln romeo und julia in seiner wg-küche rum. sie schwärmt in herzergreifenden tönen, er wippt vergnügt dazu und schnipselt zucchini für die pastasauce, die junge liebe beflügelt, der weisswein steht bereit, belcanto-schmelz vom feinsten. doch dann entschwindet zuerst julia hinter einem vorhang und schliesslich die ganze küchenzeile in der versenkung - aus der traum! zurück bleiben eine leere, düstere bühne und endloser schmerz bei romeo. mit narkotisierenden melodien beschreibt vincenzo bellini in „i capuleti e i montecchi“ die illusion, die die liebe dieser beiden jungen menschen aus zwei verfeindeten familien von beginn weg ist. und david hermann unterstreicht in seiner inszenierung am theater bern mit faszinierend einfachen bildern den utopischen charakter dieser berühmtesten liebesgeschichte, ihre unmöglichkeit. das junge paar ist umgeben von alten weissen männern, die sich eigenartig bewegen, sinnentleerte dinge tun, ins leere reden und verständnislos den kopf schütteln – die erwachsenenwelt aus sicht junger verliebter. nein, da ist kein durchkommen, diese welt wird bestimmt durch macht, härte, hass, rache. wie die russische mezzosopranistin evgenia asanova als romeo in diesem setting die spannung zwischen sehnsucht und tiefster verzweiflung aufbaut, mit ihrer stimme, mit ihrem spiel: das ist schlicht betörend. und der erst 29jährige dirigent sebastian schwab schlägt dazu zeitweise entfesselte tempi an, als müsste er das berner symphonieorchester wecken, oder den alten bellini, oder beide. es ist ein abend der jugend. das premierenpublikum dankt’s mit begeistertem applaus.

Mittwoch, 18. Mai 2022

MÜNCHEN: PUSSY RIOT

volles haus und standing ovation für pussy riot an den münchner kammerspielen. es tut gut, russische künstlerinnen jetzt live zu erleben und ihnen aus vollem herzen zu applaudieren. es tut gut, dieses andere russland zu hören und zu spüren, das putin mit seinem höllischen treiben zudeckt und erstickt. er ist auch da, unübersehbar steht er vorne links im saal, lebensgross und lebensecht, in gefängnisklamotten und behängt mit schildern: putin to the hague, putin to court und #saynotoputin. aus den ereignissen, die dem legendären protest-gebet von pussy riot am 21. februar 2012 in der moskauer christ-erlöser-kathedrale folgten, schauprozess, arbeitslager, hungerstreik, hat frontfrau marija aljochina ein buch gemacht („riot days“). und dieses buch performt sie mit einer mitstreiterin von damals und neuen bandmitgliedern jetzt im westen: eine anti-putin-tour, 19 auftritte mit dem sound der revolution. zu krassen elektrobeats, noch krasserem schlagzeug (diana burkot) und schräg-melancholischem saxophon (anton ponomarew) singt mascha ihre geschichte, mal mit der kult gewordenen farbigen sturmhaube, mal mit sonnenbrille und in schwarzen tüchern wie bei einem trauerzug. es ist ein schriller und trotziger sprechgesang, dazu auf der riesigen leinwand permanent videosequenzen von aufgelösten demonstrationen, verhaftungen, kontrollen, körperlichen misshandlungen, arbeitslagern und absurden putin-auftritten. das ist punk, das ist dok, das ist ein einziger aufschrei. so tönt zorn. und welche kräfte er freisetzt: keine destruktive energie entsteht um diese frauen herum, sondern eine positive, eine mut machende, eine solidarische. nach einer atemlosen stunde sagt mascha zuletzt ganz ruhig diesen einen satz ins publikum: „es gibt keine freiheit, wenn man nicht täglich für sie kämpft.“