Samstag, 28. Januar 2023

GISWIL: ACHT FROIWÄ

monsieur est mort. rücklings erdolcht. verdächtig: alle acht frauen in seiner nächsten umgebung, familie, angestellte, geliebte. „huit femmes“ von françois ozon und mit absoluter starbesetzung war 2002 ein grosser kinoerfolg, ein rattenscharfer spass. und das jetzt auf einer laienbühne? theater giswil? breiter obwaldner dialekt statt charmantes französisch? geht gar nicht! denkt man. und täuscht sich gewaltig. geht doch! und wie! edith zumstein statt catherine deneuve, pia murer statt isabelle huppert, ruth enz statt fanny ardant undsoweiter: „acht froiwä“ (richtig, das heisst frauen) im salon, das ist zickenkrieg auf engstem raum, sie keifen und intrigieren, verstecken schlüssel und fuchteln mit pistolen, spionieren einander aus und jede will den verdacht von sich weglenken. die eine ganz in knalligem grün, die andere in feurigem rot, eine in pink, eine ganz orange – damit man sie in diesem tohuwabohu unterscheiden kann? wäre nicht nötig gewesen, denn alle acht darstellerinnen entwickeln ihren ganz eigenen charakter, jede individuell und jede auf ihre art brillant; regisseur stefan wieland hat da wirklich alles aus dieser bande herausgekitzelt. wo dialoge auf laienbühnen oft leicht zähflüssig vorankommen, läuft´s hier wie am schnürchen, viel tempo, viel witz, viel charme. man amüsiert sich blendend, wenn diese vordergründig so noblen damen ihr wahres gesicht zeigen – und sich dann wie biester gegenseitig zerfleischen. und den obwaldner dialekt („äs isch immer giot gluint“) haben sogar wir auswärtigen ohne untertitel verstanden. prächtigste unterhaltung. chapeau, mesdames!  

Freitag, 27. Januar 2023

LUZERN: DER ROSENKAVALIER

„zuckerwasser dirigiere ich nicht“, polterte der grosse otto klemperer. „vier stunden getöse um einen reizenden scherz“, lästerte der grosse thomas mann. zuckerwasser? getöse? alles drin im „rosenkavalier“, aber nicht nur. was hugo von hofmannsthal dichtete und richard strauss komponierte, ist eine ebenso komische wie tiefgründige annäherung ans thema vergänglichkeit: wie die zeit vergeht, wie die liebe vergeht. die international gefragte regisseurin lydia steier, die in luzern zudem co-operndirektorin ist, spielt genüsslich mit dem rokoko-ambiente, üppige kostüme, gewaltige perücken, das volle programm. doch immer wieder befreien sich die ver- und entliebten aus diesem plunder, werden ganz heutig und zeigen so die wahren gefühle. die feldmarschallin und ihr 17jähriger lover planschen lustvoll im pool, und wenn dessen grosse liebe sophie dem übergriffigen baron ochs gegenübertritt, mit dem sie ihr vater verheiraten will, trägt sie ein t-shirt mit dem aufdruck „only do it with consent“. klare ansage, rokoko goes #metoo. der baron wird dann zum grossen ohrwurm-walzer im rollstuhl entsorgt. wie in den übelsten boulevardkomödien trägt steier dick auf und schafft damit einen maximalen kontrast zu den subtilen szenen, die ihr ganz meisterhaft gelingen, dank den drei tollen frauen im ensemble: wie eyrún unnarsdóttir als marschallin ihren weg vom schwärmerischen ins melancholische geht und als selbstfindung einer reifen frau vollendet, wie solenn´ lavanant linke als octavian und tania lorenzo als sophie ihre liebe zart und verspielt entdecken und entwickeln, das ist schlicht genial. nur schade, dass das luzerner sinfonieorchester zu sehr im forte unterwegs ist und in den vielen konversationsepisoden diese prächtigen stimmen immer wieder zu erdrücken droht. da wünschte man sich von dirigent robert houssart mehr gespür fürs filigrane dieser partitur.  

Mittwoch, 18. Januar 2023

MÜNCHEN: L7L - DIE SIEBEN IRREN

„die vergangenheit existiert nicht mehr. die zukunft existiert nicht mehr. die gegenwart ist sand. und im sand wächst nichts.“ sieben gestalten bewegen sich auf dem düsteren platz vor einer lagerhalle, mal reden sie gefährliches zeug, mal reden sie wirres zeug, mal schleichen sie vermummt durchs dunkel, mit fluoreszierenden neonröhren in der hand. an den münchner kammerspielen hat sich der argentinische regisseur alejandro tantanian „die sieben irren“ seines landsmanns roberto arlt vorgenommen, einen dystopischen grossstadtroman von 1929: sieben irre planen eine revolution. tantanians bedrückende inszenierung besichtigt einerseits das original und denkt es anderseits ins heute weiter. annette paulmann ist die heimtückische treiberin, wild mit der suhrkamp-ausgabe des romans fuchtelnd: „fiktion ist der schlüssel zum wandel“, ruft sie dem ensemble und dem publikum zu, das ihr manifest der gedemütigten laut mitlesen soll. so ködert sie verschwörungstheoretikerinnen und erniedrigte – und wer in ihrem neuen geheimbund L7L (los siete locos, nach arlts original) kritische fragen stellt, wird auch mal auf einem operationstisch gefügig gemacht. fiktion ist der schlüssel zum wandel? das endet auch hier in der verklärung falscher ideale und idole, in zerstörungswut und in albträumen, die als literarische texte monologisch-statisch vorgetragen werden und dadurch umso stärker wirken. wahn wird wirklichkeit. man denkt, klar, an den sturm aufs kapitol, an die reichsbürger, an brasilia, man denkt an die beiden 13jährigen aus der oberpfalz, die ein sprengstoffattentat planten. der abend sitzt. wie ein tritt in den bauch.

Dienstag, 17. Januar 2023

ALANYA: AFTERSUN

ein film! und was für einer! irgendwie total unspektakulär: calum (31) und sophie (11) verbringen ein paar all-inclusive-ferientage an der türkischen riviera. sie essen eis, schnorcheln im meer, spielen billard, fahren zu sehenswürdigkeiten, reden viel und herzlich. ein unbeschwerter urlaub. paul mescal und frankie corio kriegen diese vater-tochter-beziehung auf augenhöhe ganz meisterhaft hin. unspektakulär? unbeschwert? viele jahre später schaut sich sophie die aufnahmen an, die sie damals mit ihrem camcorder machte – und wir schauen mit. mit zunehmender faszination, denn „aftersun“ von charlotte wells ist anders als andere filme: die vielen episoden werden nicht zu einer geschichte gereiht, sondern bleiben episoden, die weder sophies erinnerung noch unsere phantasie zu einem fassbaren ganzen runden können. ein film, der unter der sommerlich-leichten oberfläche aus lauter inhaltlichen unschärfen besteht. warum reagiert calum so einsilbig, als sophie ihn nach seinem elften geburtstag fragt? ist es der vater, der unten im innenhof den tauchlehrer küsst? woher kommt plötzlich die wunde an seiner schulter? warum wird er im teppichbazar so nachdenklich? turnt er bloss auf der balkonbrüstung oder springt er? warum weint er verzweifelt auf der bettkante? warum telefoniert er so herzlich mit der ex – oder ist es gar nicht die ex? warum wirft er sich mitten in der nacht ins meer? warum verabschiedet er sich am flughafen? sophie fragt sich, ob ihr damals etwas entgangen ist, immer wieder. und wo ist der vater jetzt? das spektakuläre an diesem film ist die unschärfe, das unvollständige, das ungewisse. „aftersun“ ist ein meisterwerk über das erinnern – und garantiert sieht jede zuschauerin, jeder zuschauer einen anderen film. tiefseelentauchen.

Sonntag, 15. Januar 2023

LEIPZIG: ROMEO STATT RATTEN

eigentlich hätte ich mir am schauspiel leipzig die bühnenfassung von „die rättin“ anschauen wollen, günter grass‘ roman über das ende der menschheit. doch das ende der menschheit fand wegen erkrankung im ensemble nicht statt. ersatzprogramm: „romeo und julia“. henusode. julia statt rättinnen, romeo statt ratten. ein sieben meter hoher pinker gummi-teddy sitzt dominant auf der bühne, er dient als kletterburg und sexspielzeug gleichermassen. auf und mit diesem toy lässt regisseurin pia richter drei schauspielerinnen und vier schauspieler sieben julias und sieben romeos spielen, alle mit platinblondem pagenschnitt (na klar, das genderfluide muss schliesslich auch mit rein). shakespeares originaltext taucht immer wieder auf, vor allem aber sollen die sieben die kontraste im beziehungsverhalten von einst und von heute herausarbeiten. also werden laufend texte aus dating-apps reinmontiert und rumgebrüllt. nicht ganz überraschendes fazit: früher lief’s radikaler, heute läuft’s hektischer. man wird den verdacht nicht los, dass diese übungsanlage auch dem nicht mehr ganz jungen ensemble doch eher peinlich ist. irgendwann fällt das zitat von literaturnobelpreisträgerin toni morrison: „die romantische liebe ist die zerstörerischste idee in der geschichte des menschlichen denkens.“ das hätte eigentlich völlig genügt. doch pia richter reichert das ganze auch noch mit den abgelutschtesten regieeinfällen an: bisschen drehbühne, bisschen trockeneis, bisschen stroboskop plus die handelsüblichen zwei, drei songs. huch, hach, gähn – noch selten so oft auf die uhr geschaut im theater. 

Samstag, 14. Januar 2023

LEIPZIG: OTELLO

statt "otello", nach dem von blinder eifersucht zerbissenen helden, wollte der 74jährige verdi seine zweitletzte oper zwischenzeitlich "jago" nennen, da ihn der rivale mehr interessierte, dieser eiskalte zyniker, der all die verhängnisvollen intrigen spinnt. in leipzig jetzt müsste die oper "desdemona" heissen. regisseurin monique wagemakers rückt das opfer all dieser männlichen machtphantasien und konkurrenzspiele ins zentrum. mit feuerroter mähne steht desdemona auf der dunklen bühne und noch vor dem stürmischen ersten ton werden ausschnitte aus christine brückners berühmtem feministischen monolog zugespielt ("wenn du geredet hättest, desdemona", mittlerweile auch schon 40 jahre alt). mit projektionen auf brautschleier, taschentücher und transparente vorhänge wird während den männlichen ränkespielen - und etwas gar redundant - das vor- und innenleben dieser frau illustriert: leidenschaft, lust, selbstbestimmtheit, desdemona nicht als leidende, sondern im aktivmodus. die australische sopranistin kiandra howarth wie auch xavier moreno als otello und vladislav sulimsky als jago bestechen mit fulminanten stimmen. das eigentliche ereignis des abends findet allerdings im orchestergraben statt: geradezu phänomenal entfaltet das gewandhausorchester unter christoph gedschold den farbenreichtum dieser partitur, mit lyrischer wärme und dramatischer wucht zu den seelischen katastrophen vordringend. diese musikalische höchstleistung gewährt tiefere einblicke in die figuren als dutzende von projektionen. zu verdis zarten letzten takten, nach ihrer ermordung durch otello, erhebt sich die leipziger desdemona und entfernt sich aus dieser femizid-geschichte. ein apotheotischer bogen? weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

Montag, 9. Januar 2023

MÜNCHEN: DAS VERMÄCHTNIS

am anfang erzählt einer, wie er auf einer party meryl streeps hund vollgekotzt hat. ein anderer erzählt, wie er zu beginn der hiv-epidemie von einer beerdigung zur nächsten zog. und noch einer erzählt und noch einer. 11 darsteller spielen in matthew lopez‘ bühnenepos „das vermächtnis“ 34 männer. wir sind mittendrin in der new yorker gay-community vor und nach der wahl trumps, es geht drunter und drüber. sechs (!) stunden lang wird – drehbühne sei dank – in chicen appartements gevögelt, in tollen restaurants gegessen, in clubs rumgemacht, in kellerlöchern mit drogen gehandelt, in geschmacklosen villen bissig diskutiert, an stränden geturtelt, in einsamen landhäusern geheult: „der einzige weg, ein gebrochenes herz zu heilen, ist zu riskieren, dass es wieder bricht.“ die inszenierung von philipp stölzl am münchner residenztheater verbindet politische und persönliche episoden, amüsante und traurige, zu einem rasanten gesellschaftspanorama: ein eindrücklicher marathon durch die geschichte und die geschichten der schwulenbewegung, ein marathon zwischen überbordender lust und todesangst, nicht immer ganz kitschfrei. im zentrum stehen der introvertierte eric (thiemo strutzenberger, ein bisschen arg nuschelnd) und sein extrovertierter lebensabschnittspartner toby (moritz von treuenfels), die als paar nicht klar kommen und mit dem vermächtnis aus freiheit und schmerz, das ihnen vorherige generationen hinterlassen haben, ganz unterschiedlich umgehen. toby scheitert an dieser grossen freiheit, die da plötzlich möglich wurde, eric verzweifelt an der mangelnden solidarität in der community, dass sich aus und nach dem begehren nicht mehr entwickelt. es dreht sich viel um sex in diesem stück. und noch mehr um gefühle, echte und falsche und verpasste, um leere und um utopien. das publikum lässt sich mitreissen von diesem strom der emotionen, es verabschiedet das ensemble mit standing ovations.