Freitag, 30. Dezember 2022

OSTERMUNDIGEN: VON DER BLUTBUCHE LERNEN

das buch des jahres – ja, ganz gewiss ist „blutbuch“, das zuerst mit dem deutschen und gleich anschliessend mit dem schweizer buchpreis geadelt wurde, das buch des jahres – dieses buch also soll jetzt auch den übergang ins neue jahr geistig beflügeln. kim de l´horizons grosser wurf ist sprachmächtig, phantastisch, politisch, persönlich, intim, wild – und phänomenal anregend von der ersten bis zur letzten seite: die verzweifelte suche nach einer identität, die macht der vergangenheit, der siegeszug der blutbuche durch europas vorgärten, neo-materialismus, geschlechterperformance, alles drin. und die grosse frage dabei, die de l´horizon dem baum, in dessen schatten die kindheit vorüberzog, in jedem alter immer wieder neu stellt, stellen muss:  „wie wird mensch eine blutbuche? wie wird mensch so gross und stark wie du?“ dies hier ist keine rezension, sondern eine einladung: machen wir das buch des jahres auch zum buch des nächsten jahres. lassen wir uns beim gross-und-stark-werden und -bleiben inspirieren von dieser blutbuche in ostermundigen: „die lektionen der blutbuche waren: dastehn. das laub abwerfen. ausharren. an neuem laub arbeiten. ausschlagen. verwandeln.“

Sonntag, 18. Dezember 2022

LUZERN: WAS FÜR EIN THEATER?!?!

nein. bitte nicht. bitte nicht dieses theater, das jetzt den architekturwettbewerb für den dringend notwendigen neubau in luzern gewann. eine riesige doppelscheune mit mehrheitlich fensterlosen fassaden will das architekturbüro ilg santer an die reuss stellen. das alte theater lassen die projektverfasser stehen, nicht weil sie es toll finden („für uns ist es nicht in erster linie ein baudenkmal, sondern vor allem ein teil von luzerns kollektivem gedächtnis“), sondern weil sie vermutlich ihre chancen im wettbewerb vermehren wollten. mit grösstem erfolg, wie man sieht. mit ihrer wuchtigkeit ist die doppelscheune von ilg santer eine städtebauliche faust aufs auge, sie erschlägt den alten theaterbau von oben und die jesuitenkirche von der seite. so weit, so unerfreulich. der blick ins innere und auf die pläne macht allerdings auch nicht glücklicher. vermutlich haben diese architekten schon einige mehrzweckhallen entworfen, aber noch nie ein theater. der grosse saal mit 600 plätzen strahlt eine geradezu abweisende nüchternheit und kälte aus. und der bisherige zuschauerraum im altbau, dessen hässlichkeit im halbdunkel der aufführungen ja kaum auffällt, wird zum mehrstöckigen foyer; die hässlichkeit wird so mit mehr licht voll zur geltung kommen. das restaurant schliesslich, das ein treffpunkt für die stadt sein müsste, wird im bisherigen bühnenhimmel versteckt. bestimmt werden vereinzelte hartnäckige den komplizierten weg dorthin finden. das ganze ist ziemlich mutlos (altbau als mitgift) und ziemlich mutig (doppelscheune als monolith an der reuss), kurz: ein flickwerk. ich kann die euphorie der städtischen behörden (oder ist es nur der stadtpräsident?) und der stiftung luzerner theater nicht nachvollziehen.  

Samstag, 17. Dezember 2022

NIEDERRICKENBACH: PFLANZPLÄTZ

zwölf verschiedene örgeli warten hübsch drappiert auf ihren einsatz, schwyzerörgeli, stöpselbassörgeli, langnauerli undundund. ein eindrückliches und vielversprechendes bild. dieses versprechen lösen thomas aeschbacher und simon dettwiler dann aufs tollste ein und bearbeiten diese zwölf örgeli eine runde stunde lang mit grösster leidenschaft und unterstützt von jürg nietlispach am bass und an der gitarre. „pflanzplätz“ nennen sich die drei, die da im rahmen der konzertreihe „a-horn“ in der kirche niederrickenbach ein durchaus atypisches adventskonzert hinlegen. atypisch und doch ausgesprochen stimmungsvoll. ihre melodien sind von fischern in der bretagne genauso inspiriert wie von frauen, die (zu) gerne kleider kaufen, vom spätherbst im emmental wie von schweden im 15. jahrhundert. mal fetzig, mal melancholisch tauchen elemente traditioneller schweizerischer volksmusik auf, dann wieder anleihen aus dem balkan oder dem maghreb. vieles kommt zusammen auf diesem pflanzplätz und alles passt. auch dass die drei nicht singen dazu, sondern ausschliesslich ihre vielen instrumente singen lassen, in allen farben und bis hin zu einem zarten maultrommel-duett als zugabe. einmal mehr hat sich der weg nach niederrickenbach gelohnt, für diese beglückende musikalische reise voller überraschungen: lüpfig, jazzig, groovig.

Freitag, 16. Dezember 2022

LUZERN: DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY

dorian! dorian!! dorian!!! dorian hier, dorian da, alle rufen ihn, alle verzehren sich nach ihm. oscar wildes kunstfigur dorian gray, der die ewige jugend sucht und nur sein bild altern lässt, ist in der inszenierung am luzerner theater kein makellos junger und schöner dandy, sondern der zeit geschuldet ein genderfluides wesen: carina thurner mit platinblondem bubikopf, in einem luftigen bodenlangen gelben kleid und ohne weitere eigenschaften, ist die perfekte projektionsfläche für (ältere) männlein und (jüngere) weiblein. sie alle bewundern diesen dorian und schon nach zehn minuten bespringen sie ihn, verschlingen und verknoten sich und verfallen ihm in einer absurden choreographie. regisseurin katrin plötner erfindet im voll verspiegelten bühnenraum (bettina pommer) und dank witzig-schrägen kostümen (johanna hlawica) immer wieder effektvolle bilder für die dekadenten vergnügungen, für die leeren träume und die schweren traumata dieser hedonistischen gesellschaft. doch wie immer, wenn ein 300-seiten-roman in eineinhalb stunden auf die bühne gewuchtet wird, muss dann alles sehr schnell gehen: figuren werden zu karikaturen und die entwicklung dorians vom wunderwesen, das alle verzaubert, zum egozentrischen, bösen kerl, den das falsche leben im richtigen paranoid werden lässt, bleibt kaum nachvollziehbar. ruckzuck und dieser dorian ist ein anderer, ein eiskalter engel in einem schauerroman. ziemlich spektakulär, das ganze, und - trotz einwänden - gerade in diesen zeiten des instagram-voyeurismus eine hübsche etude über selbstverliebtheit und selbstinszenierung.

Mittwoch, 7. Dezember 2022

LUZERN: ADVENT VOR DEM THEATER

eine stimme. in der nacht. und was für eine stimme. die brasilianische mezzosopranistin marcela rahal, warm eingepackt, schmettert spitzentöne in die stadt. es ist grau, feucht, kalt, luzern im dezember halt. und da singt sie nun, unter dem vordach beim eingang zum luzerner theater, für eine handvoll ebenfalls warm eingepackte passantinnen und passanten. begleitet von william green am e-piano stimmt sie lieder an von claude debussy und ihrem brasilianischen landsmann heitor villa-lobos, von alban berg und george gershwin und dann – „mein schönstes lied ever“ – von gustav mahler das „urlicht“ aus der zweiten sinfonie. berührend singt frau rahal das, zart und strahlend. es ist musik, die wärmt, zu dieser (un)zeit an diesem (un)ort. und tatsächlich wird das publikum grösser und grösser, die intensive stimme wirkt wie ein magnet. einige besorgen sich ein getränk an der pop-up-bar. und damit das wirklich was wird mit der wärme, legt marcela rahal dann auch noch „the girl from ipanema“ nach, rio de janeiro im sommer. dieser „adventskalender“, bei dem das luzerner theater abend für abend von halb sechs bis sechs vors haus einlädt, ist mit seinem täglich wechselnden programm eine hübsche kleine wundertüte – und eine zauberhafte alternative zu den lärmigen grossbesäufnissen an den glühwein-hotspots.

Donnerstag, 1. Dezember 2022

MÜNCHEN: JR CHRONICLES

er tritt immer mit hut und sonnenbrille auf. deshalb kennt man das gesicht des französischen fotografen und streetart-künstlers jr (*1983) kaum und seinen blick gar nicht. für ihn zählen die mienen und die blicke der anderen. er fotografiert und lässt fotografieren, hartnäckig, unermüdlich. seit 2011 wurden 445‘000 seiner porträtposter in 138 ländern an wände geklebt. den menschen und ihren anliegen ein gesicht geben, das ist seine mission. an der grenze zwischen israel und palästina fotografierte jr menschen aus den verfeindeten gebieten, die den selben beruf ausüben, und klebte die grossformatigen paare auf beide seiten der mauer. sie lachen, sie schneiden grimassen, sie zwinkern. was ausser der grenze unterscheidet sie? an der grenze mexiko/usa montierte jr ein überdimensioniertes kind auf den martialischen zaun, das neugierig auf die andere seite blickt. unter dem titel „jr chronicles“ zeigt die kunsthalle münchen jetzt eine grosse retrospektive: riesige menschenpanoramen, fotoserien, videos, so umfassend wie beeindruckend. ein junger mann, der mit 15 in paris zu sprayen und mit 17 zu fotografieren begann, schaut immer wieder genau hin, überall in der welt, bleibt dran und ermuntert die menschen, auch dran zu bleiben, barrieren, ängste, vorurteile zu überwinden und den austausch mit den anderen zu suchen. jr will die welt verändern – und er ist zuversichtlich, dass er einen weg gefunden hat: „mir wurde klar, welche kraft kunst entfalten kann – besonders an den finstersten orten.“