Samstag, 27. April 2024

MÜNCHEN: ASCHE

nach eindreiviertel stunden ist die welt erledigt. bilder von waldbränden, plastikmüll, überschwemmungen, zerbombten häusern, ausgetrockneten gegenden, dazu ohrenbetäubender lärm. kennt man, die bilder sind nicht neu, neu ist der text: „asche“ heisst das stück von literaturnobelpreisträgerin elfriede jelinek, das jetzt an den münchner kammerspielen seine uraufführung erlebte. der plötzliche tod ihres mannes, mit dem sie 48 jahre verheiratet war, hat jelinek ins elend gestürzt. „asche“ ist ihr sehr persönliches requiem für diesen „wegbegleiter“ und gleichzeitig ein abgesang auf die welt: verlust und abschied im privaten führen sie in tiefe trauer auch über verlust und zerfall der natur, des lebens um uns. sowas wie trost bleibt ihr nur noch in phantasien: sie entwirft, nebenbei, eine parallelwelt, ohne kaputtgehende körper, ohne störung und zerstörung, aber „hol’s der geier“. „asche“ ist ein requiem, das nerven will, doch an den kammerspielen nervt vor allem die inszenierung durch hausregisseur falk richter. jelineks dichterisches delirium, ihre bitteren erkenntnisse und einwürfe werden in einem sammelsurium wildester assoziationen und klamaukiger überhöhungen erwürgt und ersäuft, überillustriert und vollgedröhnt. ein bisschen strandparty, gustav mahler, kindergeburtstag, aborigines-grusel, patti smith und ki-animationen: das requiem wird zugemüllt wie die welt. ulrike willenbacher und thomas schmauser finden trotz dieser orgie dystopischer bilder zwei, drei gelegenheiten, dem originalton der vorlage in ruhe nachzuspüren, das sind die subtilen, die grossen momente. der text sonst – so würde es frau jelinek in ihrem kalauernden stil wohl formulieren – „der text bleibt über weite strecken auf der strecke, er wurde sozusagen niedergestreckt.“ jelinek (die keine ihrer uraufführungen besucht) würde sich im grab umdrehen, wo sie gottseidank noch nicht liegt.

Donnerstag, 25. April 2024

MAGDEBURG/MÜNCHEN: BLUTBUCH

bern, hannover, zürich, magdeburg: kim de l’horizon hält mit seinem „blutbuch“ die theater auf trab. nach der eher lauwarmen annäherung in zürich war ich gespannt auf die hochgelobte inszenierung von jan friedrich am theater magdeburg, die im rahmen des radikal-jung-festivals jetzt in münchen gastierte. spoiler: das nicht nur junge publikum im rammelvollen volkstheater johlte, begeisterung total und schier endlos. zuerst ist nur die grossmutter auf der bühne, die „grossmeer“, allein und gebückt und stumm, das objekt, an dem sich autor und text abarbeiten. und dann, nach und nach und von allen seiten, sieben kims, alle im exotischen fummel, den er/sie/es bei der verleihung des deutschen buchpreises trug. sieben attraktive menschen (w/m/d) in diesem kostüm: eine augenweide. überhaupt gelingt es dem magdeburger team, aus diesem sehr ernsthaften, hochreflektierten text einen überaus sinnlichen abend zu machen: biographiearbeit, die suche nach wurzeln und wunden als fulminante show, mit glimmer und musik, mit fotzelschnitten-horror und penetrantem ostschweizer dialekt der mutter, mit videos und knalleffekten – und doch steht (und dies im gegensatz zum zürcher schauspielhaus) eines immer im zentrum: der aussergewöhnliche, auch nach mehrfacher lektüre und/oder begegnung immer noch tief berührende text über das „herausschwimmen aus der schlammigen klasse“. das ist avantgarde, inhaltlich und formal. hier geht einer an seinen traumata nicht zugrunde, sondern macht kunst daraus, kunst für sich und kunst für alle: man muss nicht non-binär sein, um dieser beschäftigung mit der eigenen herkunft und der suche nach identität spannende impulse abgewinnen zu können. man hört die sätze der sieben kims auf der bühne und hört in sich hinein.

Donnerstag, 18. April 2024

MÜNCHEN: BERGSON, DAS KUNSTKRAFTWERK

im keller hausen fledermäuse. und die dürfen da auch bleiben. die mopsfledermaus, auf der roten liste gefährdeter arten, war im schon seit jahrzehnten stillgelegten heizkraftwerk aubing eine feste bewohnerin. weshalb sie bei der spektakulären verwandlung des industriedenkmals jetzt ein eigenes habitat bekam: 70 quadratmeter im keller des nigelnagelneuen kunstkraftwerks bergson gehören den mopsfledermäusen, wasser und frischluftzufuhr inclusive. die besitzer der tankstellenkette allguth, zwei kunstsinnige brüder, und das architekturbüro stenger2 liessen es weder an geld noch an kreativität mangeln, um aus dem lost place im münchner westen (acht s-bahn-stationen vom marienplatz, raver erinnern sich…) einen neuen kulturellen hotspot zu entwickeln: die grösste galerie deutschlands, eine konzerthalle für 400 leute, restaurant, bar und ein gigantisches foyer als ultimativer event-rummelplatz. namenspatron ist der französische philosoph und literaturnobelpreisträger henri bergson („l’évolution créatrice“) – und er muss sich dafür nicht schämen. der erste eindruck überwältigt: eine perfekte mischung aus alt und neu, im zentrum die 25 meter hohe halle, stahlbetonstruktur, industrieziegel, klassizistische elemente, dazu dekorative aluröhren, neue brücken, treppen, galerien in elegantem anthrazit und viel licht, natürliche lichtspiele am tag, scheinwerferorgien in der nacht. mit dem bergson hat jetzt auch münchen seine tate modern – eine industriekathedrale, die sich neu erfindet, respektive dank privater initiative neu erfunden wird, ein ort, wo man gerne ist und isst und sich inspirieren lässt, ein ort, wo die post abgeht. mal sehen, wie lange die mopsfledermäuse das aushalten.

Donnerstag, 4. April 2024

MÜNCHEN: DIE MÖGLICHKEIT DES BÖSEN

verzückt spaziert miss strangeworth durch ihren garten, verzaubert lässt sie ihren blick schweifen, sie liebt ihre rosen über alles. die menschen liebt sie nicht, denn „die menschen sind lüstern und böse und verkommen und man muss sie im auge behalten.“ man ahnt übles. und man ahnt richtig. die amerikanische autorin shirley jackson schrieb 1965 diese kurzgeschichte über den horror der nachbarschaft, über misstrauen und verdächtigungen, titel: „die möglichkeit des bösen“. in ihrer inszenierung an den münchner kammerspielen verwandelt marie schleef die putzige kleinstadtidylle in einen albtraum aus pink und knallgrün, im zentrum und bis zur decke eine monströse rose, aus der ein auge blickt, big sister is watching you. gespielt wird eineinhalb stunden lang in zeitlupe und zu einem nervös-nervigen dauersound - das unterschwellige und unheimliche wird so auf die spitze getrieben. gesprochen werden keine zehn sätze, das stück besteht im wesentlichen aus den blicken von miss strangeworth: die exzellente johanna eiworth im, natürlich, pinkfarbenen seidenkleid lächelt freundlich und schmunzelt, wenn sie den leuten begegnet, sie dreht sich nach ihnen um, kneift die augen zusammen, beobachtet scharf, nichts entgeht ihr, alles scheint in ihr weltbild zu passen, das penetrante lächeln gerät zum giftigen grinsen. zuhause schreibt sie anonym gemeine briefe an ihre nachbarn, streut verleumdungen und feindseligkeiten ins miteinander. während der theaterraum mit rosenduft geflutet wird, deuten abstrakt-wirre videosequenzen katastrophen an. diese garstige kleine geschichte macht überdeutlich, welche abgründe hinter freundlichen gesichtern und idyllischen fassaden lauern können. eine durchaus politische botschaft.

Dienstag, 2. April 2024

MÜNCHEN: PAULMANNS SEMMELN, PAULMANNS SOLO

annette paulmann ist seit vielen jahren ein sicherer wert im ensemble der münchner kammerspiele. oberste liga, sei´s schiller, tschechow oder marthaler, paulmann ist immer eine grosse nummer und immer wieder überraschend anders. jetzt gönnt das theater ihr (und sie sich) einen soloabend im werkraum: „fünf bis sechs semmeln und eine kalte wurst“, toller titel, schwere kost. basis bilden die „erinnerungen einer überflüssigen“ von lena christ (1881-1920), einer frau, die in einem wirtshaus aufwuchs und von ihrer mutter und vom leben ununterbrochen und schwerstens geprügelt wurde. „noch schlimmer als die schläge war das warten auf die schläge.“ paulmann verbindet damit ihre eigene biografie, auch sie wirtstochter, auch sie war psychischer und physischer gewalt ausgesetzt, auch sie begegnete den körperlichen züchtigungen mit erstaunlicher resilienz. projektionen zeigen sie auch als mutter, vater, onkel, viel verbitterung in den gesichtern. dazu mäandert sie durch diese beiden frauenleben, durch dieses permanente kleingemachtwerden und kleingehaltenwerden, sie erzählt und deutet spielend an, viel mehr braucht es nicht. so schlicht, so heftig, so aufwühlend. als sie ihre hochbetagte mutter auf all die demütigungen anspricht, bekommt sie zur antwort: „na, hat´s dir geschadet? eben!“ sie hätten sich dann doch noch versöhnt, dank einem knuffigen geschenk für die mutter, „ein kleiner berner sennenhund, der sehr schnell ein sehr grosser berner sennenhund wurde“. ganz zum schluss und wie aus heiterem himmel ein wilder tanz, annette paulmann tanzt mit dem körper und dem künstlichen hüftgelenk und den bewegungen einer 59jährigen und der energie einer 20jährigen, befreiung total. so entlässt der schwere abend erstaunlich beschwingt. echt paulmann, siehe oben, immer wieder überraschend anders.