Sonntag, 30. September 2018

LUZERN: MOZART IST NICHT MEIN NIVEAU

ein in die jahre gekommener hamburger punkrocker versucht sich auffällig lustvoll an türk pop, tänzer von der côte d’ivoire hämmern afro-beats in den saal, der wildgewordene conférencier faselt von seinem coming-out und der darauffolgenden 20jährigen psychoanalyse, das sinfonieorchester macht sich an den pet shop boys zu schaffen und in der reihe vor uns ist ein kaum einjähriges mädchen an der brust seines vaters voll dabei, mit grossen augen und ersten klatschversuchen. wo sind wir? im luzerner theater. bei mozart. bei mozart? seine mädchenräuber-story „die entführung aus dem serail“ wird vom performancekollektiv gintersdorfer/klassen und dem luzerner intendanten benedikt von peter bis zur unkenntlichkeit entstellt und neu montiert. die produktion, ursprünglich fürs theater bremen, hinterfragt radikal alles, was mozart hergibt: den dialog der kulturen, den sieg der wahren liebe, die edlen absichten der aufklärung und überhaupt sinn und unsinn des opernbetriebs, vor allem dies. unmotiviert fiedle das orchester doch oft das ganze zeug runter, ein rein maschineller vorgang. ja! man sieht sich die musikerinnen und musiker genauer an, denn sie spielen diesmal auf der bühne, und nur wenige lassen sich anstecken vom feuer, vom ebenso geistreichen wie witzigen rambazamba. „les robots ne conaissent pas le blues“ heisst der abend gerade deshalb. zwischendurch gibt’s erfreulich oft aus mozarts original zu hören, vorgetragen von hervorragenden sängerinnen und sängern (darunter nicole chevalier, die legendäre luzerner „traviata“). zum grossen abschiedsduett von konstanze und belmonte tragen schliesslich alle demo-schilder auf die spielfläche. „mozart ist nicht mein niveau“ steht auf einem, von einer geradezu zärtlichen ironie, wie der ganze abend. das baby vor uns ist unterdessen eingeschlafen. reizüberflutung.

Samstag, 29. September 2018

BOCHUM: DIE TRÄUME DER ANDEREN

„deutschland muss weniger deutsch werden“, fordert johan simons im jahrbuch der zeitschrift „theater heute“. er meine das nicht arrogant, betont der holländer, sondern eher verführerisch. simons, der in deutschland bereits die münchner kammerspiele und die ruhrtriennale leitete, übernimmt jetzt im herbst das schauspielhaus bochum. er wird in seinem ensemble auch schauspielerinnen und schauspieler aus belgien, estland, frankreich, ghana, grossbritannien, kenia, russland, surinam und der türkei beschäftigen. denn: „wir wissen zu wenig über die träume der anderen.“ beginnen wir, mit den anderen zu träumen. wo, wenn nicht im theater?

Freitag, 28. September 2018

MÜNCHEN: MARAT/SADE

marquis de sade liegt in einer ecke, erschöpft und resigniert. charlotte schwab spielt ihn grossartig, mit unappetitlicher wampe und schütterem haar, ein alter zyniker, der für das revolutionstheater, das er mit den anderen patienten des hospizes von charenton aufführen sollte, nur noch ein kaltes grinsen übrig hat. die revolution und ihre ideale sind mausetot. die verfolgung und ermordung ihres wortführers jean paul marat schrieb peter weiss 1964 nicht als doku-drama, sondern als stück im stück, als moritat im irrenhaus, mit der für eine groteske nötigen distanz – und mit grossem internationalem erfolg. am residenztheater in münchen macht tina lanik aus „marat/sade“ eine rasante polit-revue, bissig und mit sehr viel blut in der badewanne, in der marat seine letzten stunden verbringt. dieser ist bei nils strunk ein junger feuriger idealist, verwegen und oft etwas eindimensional; der kontrast zum abgelöschten skeptiker de sade könnte grösser nicht sein, was dem disput der beiden spannung verleiht und in der aberwitzigen szene kulminiert, wo sich de sade für seine politische lethargie von marat auspeitschen lässt. zudem lässt die regie die jüngeren schauspieler immer wieder extemporieren, die ideale und ihre haltbarkeit aus heutiger sicht befragen: wenn die revolution tot ist, kann dann wenigstens die hoffnung überleben? und welches politische personal gibt zu solcher hoffnung anlass? spitz werden die bayrischen landtagswahlen in zwei wochen und der am sessel klebende innenminister eingeflochten, was nie aufgesetzt wirkt, sondern durchaus im sinne des autors sein dürfte, der zur entstehungszeit des stücks ganze notizbücher mit solchen querverbindungen füllte: „allein die gesichter all dieser staatsmänner, die brutalisierten säuglingsgesichter, und ihr gerede, zeigen dir, worum es geht. sie reden alle mit toten augen, toten mündern, reden von freiheit, und meinen macht.“ hoffnung, wo bleibst du?

Freitag, 21. September 2018

LUZERN/MÜNCHEN: MUNDEL MACHT'S

da kann man sich als langzeitluzerner und wahlmünchner nur freuen: barbara mundel soll neue intendantin der münchner kammerspiele werden. sie, die um die jahrtausendwende das luzerner theater mit viel sauerstoff vom provinzmief befreite und dem luzerner publikum auf intelligente weise beibrachte, dass theater heute mehr sein kann und muss als unterhaltung. das kam natürlich nicht immer und überall gut an, doch mundel blieb konsequent. luzern und ihre weiteren stationen lassen vermuten, dass ihr an den kammerspielen das gelingen könnte, was der unglückliche matthias lilienthal irgendwie nicht schafft: das verhältnis von theater, performance und diskurs in einem spannungsvollen gleichgewicht zu halten. barbara mundel hat das zeug für die champions league.

Dienstag, 18. September 2018

ZÜRICH: LENZ

„er kann sich nicht finden.“ der schriftsteller jakob michael reinhold lenz ist auf der suche nach sich selbst, doch er kann sich nicht finden, sein geisteszustand verschlechtert sich, psychose. der schriftsteller und mediziner georg büchner hat diese suche in seiner erzählung „lenz“ mit wissenschaftlichem blick begleitet und analysiert. und der regie-altmeister werner düggelin bringt diese krankheitsgeschichte in der schiffbau-box des zürcher schauspielhauses jetzt glasklar auf die bühne. ein klinisch weisser raum, drei weisse ebenen, auf der oberen ein bett für lenz (jan bluthardt), auf der mittleren ein ohrensessel für seinen vertrauten, den pfarrer oberlin (jirka zett), auf der unteren ein tisch für den erzähler (andré jung). in dieser radikal reduzierten umgebung entsteht in einer art szenischer lesung das präzise porträt eines menschen, dessen wahrnehmung sich zunehmend von der realität löst. doch büchner schrieb nicht nur eine krankheitsgeschichte, sondern verpackte darin auch ein plädoyer für realistische statt idealistische literatur, für dokumentarische statt romantische elemente. nicht der wahnsinn am ende des weges steht in düggelins inszenierung im zentrum des interesses, sondern die absolutheit, mit der dieser lenz lebt und sucht, absoluter glaube, absolute liebe, absolute verzweiflung. wie jan bluthardt nach worten sucht, nach bildern, nach sinn vor allem, wie er die ganze  innere zerrissenheit eben nicht als irrer, sondern als rastlos reflektierender zeigt, das macht diesen bald 250 jahre alten mann zu einem sehr modernen menschen und den stoff entsprechend zeitlos: einer, der sich nicht finden kann in seiner komplexen umwelt und den versuch beginnt, damit zu leben.

Montag, 10. September 2018

MÜNCHEN: HOFESH SHECHTER, GRAND FINALE

hofesh shechter, der aus tiefer desillusionierung über sein land mittlerweile in london lebende israeli, gehört zu den aktuell angesagtesten choreographen. entsprechend hoch waren auch unsere erwartungen vor dem gastspiel seiner company jetzt in der münchner muffathalle. sie wurden nicht enttäuscht. die truppe zeigt mit „grand finale“ einen spektakulären, krassen totentanz. die bühne ist in einen steten dunst gehüllt, weshalb es keine auftritte und abgänge gibt, sondern eher erscheinungen aus dem dunkeln: ein reigen von apokalyptischen bildern wühlt die betrachterin und den betrachter zunehmend auf. immer wieder werden leichen über die bühne geschleift, mal erinnern die bildfragmente an konzentrationslager, mal an giftgasangriffe, mal an wüstenkriege oder kampfszenen aus blockbustern. mit schier endloser energie stampfen und springen die tänzerinnen und tänzer dem ende der menschheit entgegen, „grand finale“ eben, in gruppen oder einzeln, als täter oder als opfer, immer ernst, immer hoffnungslos. dazu hat hofesh shechter selber eine grandios-abgründige tonspur komponiert, mit bis an die schmerzgrenze gehenden aggressiven beats und harten schnitten, maschinengeknatter, unterwasserblubbern, fetzen von gregorianischen chorälen. diesen sehr assoziativen sound ergänzen ein paar streicher auf der bühne live – und sie pervertieren ihn zwischendurch mit lieblichem tschaikowsky- und lehar-kitsch. dieser abrupte musikalische gegenschnitt erinnert zwangsläufig an das salonorchester auf der „titanic“. ein kompromissloser abend, ein kompromissloses finale.

Sonntag, 2. September 2018

HAMBURG: CRYING ZONE, DREI STUNDEN WEINEN

drei stunden weinen, schluchzen, schreien, heulen. „crying zone“ heisst die performance, die die truppe von zofia komasa aus polen am mixed-abled-festival „aussicht“ im monsun-theater in hamburg zeigt, einem treffen von inklusiven theaterformationen. erster reflex: halte ich das aus? will ich das aushalten? eine feingliedrige frau mit dunklen haaren setzt sich im schwarzen raum auf einen stuhl, frontal zum publikum. sie beginnt zu heulen, mal heftiger, mal zurückhaltender, sie heult direkt vor uns. wann habe ich das letzte mal geweint? hat es mir gut getan? sie nimmt sich papiertaschentücher, rotzt sie voll, ein tänzer ganz in schwarz sammelt sie. nach 15 oder 25 (??) minuten steht sie auf, von hinten im saal kommt eine kräftige, blonde frau, setzt sich auf den stuhl und beginnt zu weinen, immer massiver; wenn die tränen nachlassen, blickt sie herausfordernd. habe ich sie provoziert? bewusst oder ohne es zu wollen? die tränen fliessen und die gedanken auch. der junge tänzer wirbelt mit den zahlreicher werdenden taschentüchern durch den raum, spielt mit ihnen wie ein kind, endlos. dann kommt eine dunkelhäutige frau, setzt sich auf den stuhl und heult herzerweichend. traumatisiert von der migration? trennungsschmerz? kulturschock? warum redet hier niemand? würde das helfen? die dunkelhäutige frau wird abgelöst von einer bleichen, blonden, deren schluchzen kaum hörbar ist. der tänzer nutzt auch ihre taschentücher für seine zarte performance. unterdessen fixiert sie mich. will sie mitleid? will sie trost? will sie ärger? sie fixiert mich immer noch, penetrant. hinschauen ist mir peinlich, wegschauen wäre noch peinlicher. oder gar verletzend? soll ich das schweigen mit worten durchbrechen? soll ich mitweinen? wann habe ich das letzte mal geweint? war es – für mich, für andere - befreiend? drei stunden weinen. das theater experimentiert. mit mir.