ein in die jahre gekommener hamburger
punkrocker versucht sich auffällig lustvoll an türk pop, tänzer von der côte d’ivoire
hämmern afro-beats in den saal, der wildgewordene conférencier faselt von
seinem coming-out und der darauffolgenden 20jährigen psychoanalyse, das sinfonieorchester
macht sich an den pet shop boys zu schaffen und in der reihe vor uns ist ein
kaum einjähriges mädchen an der brust seines vaters voll dabei, mit grossen
augen und ersten klatschversuchen. wo sind wir? im luzerner theater. bei
mozart. bei mozart? seine mädchenräuber-story „die entführung aus dem serail“
wird vom performancekollektiv gintersdorfer/klassen und dem luzerner
intendanten benedikt von peter bis zur unkenntlichkeit entstellt und neu
montiert. die produktion, ursprünglich fürs theater bremen, hinterfragt radikal
alles, was mozart hergibt: den dialog der kulturen, den sieg der wahren liebe,
die edlen absichten der aufklärung und überhaupt sinn und unsinn des
opernbetriebs, vor allem dies. unmotiviert fiedle das orchester doch oft das
ganze zeug runter, ein rein maschineller vorgang. ja! man sieht sich die musikerinnen und musiker genauer an, denn sie spielen diesmal
auf der bühne, und nur wenige lassen sich anstecken vom feuer, vom ebenso
geistreichen wie witzigen rambazamba. „les robots ne conaissent pas le blues“
heisst der abend gerade deshalb. zwischendurch gibt’s erfreulich oft aus mozarts
original zu hören, vorgetragen von hervorragenden sängerinnen und sängern
(darunter nicole chevalier, die legendäre luzerner „traviata“). zum grossen abschiedsduett von konstanze und belmonte tragen schliesslich alle demo-schilder auf die
spielfläche. „mozart ist nicht mein niveau“ steht auf einem, von einer geradezu
zärtlichen ironie, wie der ganze abend. das baby vor uns ist unterdessen
eingeschlafen. reizüberflutung.
Sonntag, 30. September 2018
Samstag, 29. September 2018
BOCHUM: DIE TRÄUME DER ANDEREN
„deutschland
muss weniger deutsch werden“, fordert johan simons im jahrbuch der zeitschrift „theater
heute“. er meine das nicht arrogant, betont der holländer, sondern eher
verführerisch. simons, der in deutschland bereits die münchner kammerspiele und
die ruhrtriennale leitete, übernimmt jetzt im herbst das schauspielhaus bochum.
er wird in seinem ensemble auch schauspielerinnen und schauspieler aus belgien,
estland, frankreich, ghana, grossbritannien, kenia, russland, surinam und der
türkei beschäftigen. denn: „wir wissen zu wenig über die träume der anderen.“
beginnen wir, mit den anderen zu träumen. wo, wenn nicht im theater?
Freitag, 28. September 2018
MÜNCHEN: MARAT/SADE
marquis de sade liegt in einer ecke, erschöpft und
resigniert. charlotte schwab spielt ihn grossartig, mit unappetitlicher wampe
und schütterem haar, ein alter zyniker, der für das revolutionstheater, das er
mit den anderen patienten des hospizes von charenton aufführen sollte, nur noch
ein kaltes grinsen übrig hat. die revolution und ihre ideale sind mausetot. die verfolgung und ermordung ihres wortführers jean paul marat schrieb
peter weiss 1964 nicht als doku-drama, sondern als stück im stück,
als moritat im irrenhaus, mit der für eine groteske nötigen distanz – und mit
grossem internationalem erfolg. am residenztheater in münchen macht tina lanik
aus „marat/sade“ eine rasante polit-revue, bissig und mit sehr
viel blut in der badewanne, in der marat seine letzten stunden verbringt.
dieser ist bei nils strunk ein junger feuriger idealist, verwegen und
oft etwas eindimensional; der kontrast zum abgelöschten skeptiker de sade könnte grösser
nicht sein, was dem disput der beiden spannung verleiht und in der aberwitzigen szene kulminiert, wo sich de sade
für seine politische lethargie von marat auspeitschen lässt. zudem lässt die
regie die jüngeren schauspieler immer wieder extemporieren, die ideale und ihre
haltbarkeit aus heutiger sicht befragen: wenn die revolution tot ist,
kann dann wenigstens die hoffnung überleben? und welches politische personal
gibt zu solcher hoffnung anlass? spitz werden die bayrischen landtagswahlen in
zwei wochen und der am sessel klebende innenminister eingeflochten, was
nie aufgesetzt wirkt, sondern durchaus im sinne des autors sein dürfte, der zur
entstehungszeit des stücks ganze notizbücher mit solchen querverbindungen
füllte: „allein die gesichter all dieser staatsmänner, die brutalisierten
säuglingsgesichter, und ihr gerede, zeigen dir, worum es geht. sie reden alle
mit toten augen, toten mündern, reden von freiheit, und meinen macht.“ hoffnung, wo bleibst du?
Freitag, 21. September 2018
LUZERN/MÜNCHEN: MUNDEL MACHT'S
da kann man sich als langzeitluzerner
und wahlmünchner nur freuen: barbara mundel soll neue intendantin der münchner
kammerspiele werden. sie, die um die jahrtausendwende das luzerner theater mit
viel sauerstoff vom provinzmief befreite und dem luzerner publikum auf intelligente
weise beibrachte, dass theater heute mehr sein kann und muss als unterhaltung.
das kam natürlich nicht immer und überall gut an, doch mundel blieb konsequent.
luzern und ihre weiteren stationen lassen vermuten, dass ihr an den kammerspielen
das gelingen könnte, was der unglückliche matthias lilienthal irgendwie nicht
schafft: das verhältnis von theater, performance und diskurs in einem
spannungsvollen gleichgewicht zu halten. barbara mundel hat das zeug für die
champions league.
Dienstag, 18. September 2018
ZÜRICH: LENZ
„er kann sich nicht finden.“ der
schriftsteller jakob michael reinhold lenz ist auf der suche nach sich selbst,
doch er kann sich nicht finden, sein geisteszustand verschlechtert sich,
psychose. der schriftsteller und mediziner georg büchner hat diese suche in
seiner erzählung „lenz“ mit wissenschaftlichem blick begleitet und analysiert. und
der regie-altmeister werner düggelin bringt diese krankheitsgeschichte in der
schiffbau-box des zürcher schauspielhauses jetzt glasklar auf die bühne. ein
klinisch weisser raum, drei weisse ebenen, auf der oberen ein bett für lenz
(jan bluthardt), auf der mittleren ein ohrensessel für seinen vertrauten, den
pfarrer oberlin (jirka zett), auf der unteren ein tisch für den erzähler (andré
jung). in dieser radikal reduzierten umgebung entsteht in einer art szenischer
lesung das präzise porträt eines menschen, dessen wahrnehmung sich zunehmend
von der realität löst. doch büchner schrieb nicht nur eine
krankheitsgeschichte, sondern verpackte darin auch ein plädoyer für
realistische statt idealistische literatur, für dokumentarische statt
romantische elemente. nicht der wahnsinn am ende des weges
steht in düggelins inszenierung im
zentrum des interesses, sondern die absolutheit, mit der dieser lenz lebt und
sucht, absoluter glaube, absolute liebe, absolute verzweiflung. wie jan
bluthardt nach worten sucht, nach bildern, nach sinn vor allem, wie er die
ganze innere zerrissenheit eben nicht
als irrer, sondern als rastlos reflektierender zeigt, das macht diesen bald 250
jahre alten mann zu einem sehr modernen menschen und den stoff entsprechend
zeitlos: einer, der sich nicht finden kann in seiner komplexen umwelt und den
versuch beginnt, damit zu leben.
Montag, 10. September 2018
MÜNCHEN: HOFESH SHECHTER, GRAND FINALE
hofesh
shechter, der aus tiefer desillusionierung über sein land mittlerweile in
london lebende israeli, gehört zu den aktuell angesagtesten choreographen.
entsprechend hoch waren auch unsere erwartungen vor dem gastspiel seiner
company jetzt in der münchner muffathalle. sie wurden nicht enttäuscht. die
truppe zeigt mit „grand finale“ einen spektakulären, krassen totentanz. die
bühne ist in einen steten dunst gehüllt, weshalb es keine auftritte und abgänge
gibt, sondern eher erscheinungen aus dem dunkeln: ein reigen von
apokalyptischen bildern wühlt die betrachterin und den betrachter zunehmend
auf. immer wieder werden leichen über die bühne geschleift, mal erinnern die
bildfragmente an konzentrationslager, mal an giftgasangriffe, mal an
wüstenkriege oder kampfszenen aus blockbustern. mit schier endloser energie
stampfen und springen die tänzerinnen und tänzer dem ende der menschheit
entgegen, „grand finale“ eben, in gruppen oder einzeln, als täter oder als
opfer, immer ernst, immer hoffnungslos. dazu hat hofesh shechter selber eine
grandios-abgründige tonspur komponiert, mit bis an die schmerzgrenze gehenden aggressiven
beats und harten schnitten, maschinengeknatter, unterwasserblubbern, fetzen von
gregorianischen chorälen. diesen sehr assoziativen sound ergänzen ein paar
streicher auf der bühne live – und sie pervertieren ihn zwischendurch mit
lieblichem tschaikowsky- und lehar-kitsch. dieser abrupte musikalische
gegenschnitt erinnert zwangsläufig an das salonorchester auf der „titanic“. ein
kompromissloser abend, ein kompromissloses finale.
Sonntag, 2. September 2018
HAMBURG: CRYING ZONE, DREI STUNDEN WEINEN
drei stunden weinen, schluchzen, schreien, heulen. „crying zone“ heisst
die performance, die die truppe von zofia komasa aus polen am
mixed-abled-festival „aussicht“ im monsun-theater in hamburg zeigt, einem
treffen von inklusiven theaterformationen. erster reflex: halte
ich das aus? will ich das aushalten? eine feingliedrige frau
mit dunklen haaren setzt sich im schwarzen raum auf einen stuhl, frontal zum
publikum. sie beginnt zu heulen, mal heftiger, mal zurückhaltender, sie heult
direkt vor uns. wann habe ich das letzte mal geweint? hat es mir gut getan? sie
nimmt sich papiertaschentücher, rotzt sie voll, ein tänzer ganz in schwarz
sammelt sie. nach 15 oder 25 (??) minuten steht sie auf, von hinten im
saal kommt eine kräftige, blonde frau, setzt sich auf den stuhl und beginnt zu
weinen, immer massiver; wenn die tränen nachlassen, blickt sie herausfordernd.
habe ich sie provoziert? bewusst oder ohne es zu wollen? die tränen fliessen
und die gedanken auch. der junge tänzer wirbelt mit den zahlreicher
werdenden taschentüchern durch den raum, spielt mit ihnen wie ein kind, endlos.
dann kommt eine dunkelhäutige frau, setzt sich auf den stuhl und heult herzerweichend. traumatisiert von der migration? trennungsschmerz?
kulturschock? warum redet hier niemand? würde das helfen? die dunkelhäutige
frau wird abgelöst von einer bleichen, blonden, deren schluchzen kaum hörbar
ist. der tänzer nutzt auch ihre taschentücher für seine zarte performance. unterdessen
fixiert sie mich. will sie mitleid? will sie trost? will sie ärger? sie fixiert
mich immer noch, penetrant. hinschauen ist
mir peinlich, wegschauen wäre noch peinlicher. oder gar verletzend? soll ich
das schweigen mit worten durchbrechen? soll ich mitweinen? wann habe ich das
letzte mal geweint? war es – für mich, für andere - befreiend? drei stunden weinen. das theater experimentiert. mit mir.
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