Sonntag, 26. November 2023

RUSWIL: LOVE HURTS

es war das letzte konzert der band. es war ein verhängnisvoller abend, reich an emotionen, reich an drogen. er endete mit einem fatalen verkehrsunfall, eine kollegin starb. vier jahrzehnte später treffen sich die bandmitglieder erstmals wieder. beat, peter, gaby, lucia und roli sind jetzt alle um die 60, fünf sehr unterschiedliche menschen. ausgehend von dieser konstellation haben bernadette schürmann, die auch regie führt, und kurt bösch für das nomol theater in ruswil ein kammerspiel geschrieben über erinnern, verdrängen, verantwortung. schnell findet die inszenierung ihren rhythmus, entwickelt einen subtilen sog und eine düstere spannung: das treffen der fünf beginnt mit smalltalk, geht über in fragen, die immer bohrender werden, schliesslich in eine offene konfrontation. die fünf – überzeugende dramaturgische grundidee – stecken wegen einer panne fest in der kabine einer luftseilbahn. hier, auf engstem raum, kann es kein entrinnen geben: anschuldigungen, misstrauen, alte muster, die vergangenheit lässt die fünf nicht los. immer wieder klingt „love hurts“ an, der alte hit von nazareth, die damals ihre grossen idole waren. was war damals? was brodelt unter dem deckel immer noch? absolut professionell zeichnen die fünf laien auf der bühne ihre figuren zwischen vergangenheit und gegenwart, jede und jeder geht anders um mit seiner rolle zwischen resignation und aggression. rund um die zentrale frage von schuld und mitschuld spinnen sie ein immer komplexeres, dichteres netz. am ende entfachen sie ein kleines feuer in der bahn, sie frieren. das feuer wärmt, sie rücken näher, gelöst ist nichts, aber immerhin endlich alles gesagt. „love hurts“, liebe tut weh, liebe reisst narben – ein intensiver, berührender abend.

Samstag, 25. November 2023

GISWIL: HEIDI OHNE HEIDI

war natürlich höchste zeit, dass sich der bergkanton obwalden endlich mal des heidi-mythos annimmt. und zwar, wie man das von obwalden auch sonst hinreichend kennt: anders!!! in einem charmant hergerichteten hinterhaus in giswil („unterwaldner kleinsttheater“) spielen die ausgewiesenen heidi-experten beppi baggenstos und eggi gabriel „heidi ohne heidi“. was für ein vielversprechender titel. und so saftig wie sie das spielen, wird es bereits auf ihrer homepage angekündigt. keine künstliche intelligenz kann es besser beschreiben. und kein blogger. deshalb hier das original: „der eggi und der sepp spielen heidi ohne heidi. weil wir bergbauern nebeninen noch etwas arbeiten müssen, haben wir einen flugplatz und grad nebendran ein heidiland gebastelt. da landen die flieger und besuchen den peter und den alpöhi. wir zeigen den reisenden, die nichts zu tun haben, wie hart das leben auf der heidialp mit den geissen ist und der schafseckel von wolf alles zuderobsi macht. das heidi ist aber dann nicht da, weil es schulungen im teutschen ussen machen muss. da gefällt es ihm aber gar nicht. drum machen wir uns mit den kampfschafen auf den weg ins tiitsche und befreien sie. hoffentlich. müsst halt gogen luugen.“ genau. zuerst wird dem publikum ein exzellenter mehrgänger serviert, dann futtert der alpöhi magic mushrooms, schliesslich gibt´s die kampfschafe im generalangriff. kurz, der abend lässt keine wünsche offen, dieses heidi ist jetzt schon kult: 36 vorstellungen waren ursprünglich geplant, wegen anhaltendem erfolg werden´s am schluss über 50 sein.

Mittwoch, 22. November 2023

VIGNOLA: PASTA DEL GIORNO

lange kein rezept mehr hier? stimmt. der mensch lebt nicht von kultur allein, er muss auch mal was essen. heute also esskultur und heute was einfaches: kein sardisches rezept (sondern das ergebnis eines münchner kühlschranks, der geleert werden will), doch durchaus sardisch inspiriert….. nennen wir es „pasta del giorno a vignola“, etwa so: ein bund petersilie, grob hacken; eine handvoll datteltomaten, vierteln; 100 gramm trockenfleisch (bünderfleisch oder bresaola oder mostbröckli), in dünne streifen schneiden; schale einer bio-zitrone, fein raspeln. alles mischen und beiseite stellen. pasta (idealerweise natürlich fregola sarda) kochen, dem kochwasser gleich zu beginn eine geviertelte knoblauchzehe beigeben. wasser abgiessen. die pasta und die vorbereiteten zutaten mischen und mit reichlich olivenöl noch kurz anbraten. vor dem servieren viel pecorino sardo und pfeffer drüber. fehlt nur noch der cannonau dazu. salute e buon appetito.

Montag, 20. November 2023

MÜNCHEN: ONCE UPON A MATTRESS

es war einmal eine matratze? zugegeben, die deutsche übersetzung tönt nicht eben sexy, doch „once upon a mattress“ hat’s in sich: 1959 verwandelte die komponistin mary rodgers das märchen von der prinzessin auf der erbse in ein erfolgreiches broadway-musical, dem zwar die ultimativen ohrwürmer fehlen, das aber besticht durch viel charme, rhythmus und liebevollste details – und reichlich futter bietet für hungrige darstellerinnen und darsteller. unter der leitung von philipp moschitz (regie) und andreas kowalewitz (dirigent) lassen 24 studierende der bayerischen theaterakademie august everding diese matratze jetzt funkeln. und zwar nicht auf irgendeiner studiobühne am stadtrand, sondern im prinzregententheater: erste adresse, 1050 plätze, sieben vorstellungen, mutig! doch keineswegs zu mutig: dem hochmotivierten und -talentierten nachwuchs gelingt auf der riesigen bühne eine hochprofessionelle produktion. junge energie total, das kleine orchester liefert den grossen sound dazu, alles sitzt. das epizentrum dieser geschichte von misstrauen, freundschaft und kampfgeist ist der erst 23jährige tim morsbach als bösartige königin, eine trans-diva mit hinreissender und abendfüllender ausstrahlung. doch auch in seinem/ihrem schatten wird hier noch das kleinste nümmerchen ein bijou, das übelste klischee zeitgemäss aufpoliert und jede noch so kleine nebenrolle mit slapstick ausgarniert. weil zum beispiel der könig durch einen fluch stumm bleibt, haben sich alle intensiv mit gebärdensprache beschäftigt, womit ausgesprochen witzige einlagen und noch nie gesehene tänzerische effekte erzielt werden. musical, neu gedacht also und frisch serviert, ein richtiger kleiner kracher. gross und klein sind hingerissen, standing ovations.

Sonntag, 19. November 2023

MÜNCHEN: DIE GOLDBERG-VARIATIONEN

"sartre glaubte, es werde den antisemitismus geben, solange nur ein jude am leben sei. (…) unsere ängste sind real, sie sitzen in unseren eingeweiden.“ der aufsatz von george tabori aus dem jahr 1981, der im programmheft zu seinen „goldberg-variationen“ am münchner volkstheater abgedruckt ist, ist das eindrücklichste an diesem abend. kein schlechter abend, aber auch kein volltreffer. nun, komödien waren noch nie meine grösste leidenschaft und also auch nicht mein spezialgebiet. „die goldberg-variationen“ sind eine theater-im-theater-story, bei der ein autoritärer regisseur das alte testament zur grossen show aufmotzen will, doch so wie gott mit der schöpfung scheitert, scheitert dieser regiegott an einem renitenten ensemble. die vertreibung aus dem paradies, der auszug aus ägypten, die zehn gebote – und das alles mit nur vier schauspielern, das muss schief gehen und es geht schief, im stück absichtlich, in der inszenierung unbeabsichtigt: viel witz, wenig tempo, viel lärm, wenig tiefgang. volkstheater-intendant christian stückl feiert erfolge als regisseur der passionsspiele in seiner heimat oberammergau, seine inszenierung hier ist eher unterammergau. taboris bitterböser jüdischer humor („was sagte jesus nach dem abendmahl?“ – „einer von euch wird mich verraten.“ – „nein! getrennte rechnungen bitte…..“) kommt hier oft aufgesetzt, absehbar, zähflüssig daher. nur eben, wie sagt der junge regieassistent goldberg während diesen probensequenzen einmal: „wer kann, der kann. und wer nicht kann, wird kritiker.“ das lassen wir jetzt hier einfach mal so stehen.

Dienstag, 14. November 2023

MÜNCHEN: THE BOY (POSTHUM)

yahav winner drehte einen film an der grenze zum gazastreifen, vor einigen monaten, vor dem krieg also. „the boy“ ist die geschichte von barak, einem jungen mann, der mit seinem vater die felder des kibbuz bewirtschaftet. immer wieder nimmt er während der arbeit den feldstecher zur hand und schaut auf die andere seite des grenzzauns. barak (nimrod peleg) versteht das alles nicht, diesen permanenten konflikt, diesen stacheldraht, diese linie zwischen menschen. sein vater (yoram toledano) schafft es, das grauen im alltag irgendwie wegzufiltern. der zaun zieht barak magisch an, er geht da joggen und einmal bricht er mitten in der nacht trotz schüssen und detonationen zu einem spaziergang in dessen nähe auf. er ist fixiert auf diese grenze, er ist traumatisiert, er hält das nicht aus, er bricht zusammen. sein vater und sein bruder finden ihn im dreck, verwirrt und erschöpft. sein vater drückt ihm einen tranquilizer in den mund. barak wehrt sich, er schluckt ihn nur widerwillig. auf fürsorgliche fragen des vaters murmelt er, kaum verständlich: „ich bin müde, ich will nicht aufwachen.“ nie mehr aufwachen? der vater umarmt seinen erwachsenen sohn, den er nicht immer versteht. er umarmt ihn und fährt ihm durch die haare, lange, sehr lange. the power of believing in hope, sagt jemand nach dem film. – regisseur yahav winner ist bei der internationalen première seines films im rahmen des 42. filmschoolfests munich nicht dabei. er ist tot. er war zur falschen zeit am falschen ort. yahav winner (37) wurde am 7. oktober in seinem kibbuz opfer des hamas-massakers. „the boy“, der den feldstecher immer wieder auf die andere seite richtet, um zu verstehen, ist sein vermächtnis.

Montag, 13. November 2023

MÜNCHEN: KOFFLERS SCHICKSAL

atonal, aggressiv, aufgewühlt – diese musik eines jüdischen komponisten hört sich an wie ein tief betroffener kommentar zu den aktuellen news und bildern aus dem nahen osten. sein streichtrio op. 10 hat józef koffler allerdings 1928 vollendet, zwölftontechnik, doch nicht verkopft, sondern hochemotional. kofflers vielversprechende karriere in polen wurde durch den nationalsozialismus vorzeitig beendet, er wurde zusammen mit seiner frau und seinem sohn ermordet, er ging vergessen. das jewish chamber orchestra munich unter daniel grossmann widmete ihm an den münchner kammerspielen jetzt einen abend, im rahmen des projekts „erinnerung als arbeit an der gegenwart“. dieses projekt, schon länger geplant, scheint angesichts der in deutschland eskalierenden polarisierung in der israel/palästina-frage drängender denn je: erinnerung als arbeit an der gegenwart, ein plädoyer für verständnis und versöhnung, für empathie und engagement. neben dem streichtrio gelangen bachs goldberg-variationen zur aufführung, in kofflers bearbeitung für kammerorchester. immer wieder wird die musik jäh unterbrochen durch textfragmente der deutsch-jüdischen dramatikerin stella leder, die kofflers schicksal aus dem heute reflektieren, vorgetragen von der schauspielerin und jazzsängerin jelena kuljić. es sind texte über menschliche und kulturelle zerstörung, über das verstummen. hoffnung? „vielleicht hat koffler manchmal mit seinem sohn gesungen. ein komponist singt doch mit seinem kind“, sagt kuljić und blinzelt dem mann am kontrabass zu. zusammen beginnen sie zu improvisieren, kein text, nur helle silben, wie ein kind, federleicht.

Sonntag, 12. November 2023

MÜNCHEN: ANNE-MARIE DIE SCHÖNHEIT

anne-marie lässt ihr leben revue passieren. 80 minuten lang. anne-marie war eine einigermassen erfolglose schauspielerin aus der französischen provinz, jetzt ist sie alt. ihre freundin und ihr mann sind tot, ihren sohn mag sie nicht. sie redet und redet. zu sich selbst? zu uns? yasmina reza hat das offen gelassen, hingegen hat sie gewünscht, dass ihr monolog „anne-marie die schönheit“ (2020) von einem mann interpretiert wird; das soll die universalität der angeschnittenen themen unterstreichen – und tut es auch. in der inszenierung von nora schlocker am münchner residenztheater spielt robert dölle diese alte frau – graue hose, farbige bluse, platinblonder bob – und er spielt sie brillant. 80 minuten allein auf der bühne, 80 minuten solo vor vollem haus. dölle hat eine wunderbar wandelbare stimme, der man gerne und zunehmend gebannt zuhört. und: er spricht auch mit den augen, die manchmal funkeln und manchmal stechen, mal voller sentimentalität und mal ganz leer sind. dieser schauspieler elektrisiert, er zieht uns voll und ganz hinein in anne-maries leben. so wie er die paar versatzstücke auf der vorbühne (eine türe, ein spiegel) ab und zu wendet oder auch liebkost, so schiebt er die versatzstücke aus anne-maries lebensphasen umher, ein spiel mit erinnerungen. nicht verbittert blickt dölles anne-marie zurück, nein, sie folgt ihren eigenen spuren mit liebe, offenheit und humor. mit vielen rhythmischen wechseln vermengt dieser monolog banalitäten und existenzielles, von den keksen in ihrer jugend landet anne-marie unvermittelt bei ihrer urne: höhenflüge, tiefschläge, vergänglichkeit – anne-marie hält uns allen (m/w/d) einen spiegel vor. man bekommt sie lieb, diese schrullige schauspielerin, man wünscht sich, so entspannt und reflektiert und heiter zu altern.

Montag, 6. November 2023

LAUSANNE: IMMERSION. LES ORIGINES.

ein grosser, dunkler raum. in der mitte ein labyrinth aus transparenten folien. alles spiegelt, alles bewegt sich. zwischendurch ein scheinwerferflash, gelb, violett, stroboskopeffekte, wieder dunkel. da! bin das ich? ein spiegelbild? sehe ich anders aus? oder ist es ein anderer, der mir hinter den nächsten beiden folien entgegenkommt? ist da eben ein kind vorbeigehuscht? oder war das eine projektion? wer bin ich? wo bin ich? wer sind die anderen? die dreidimensionale installation von marinella pirelli (1925-2009), die unser wahrnehmungssystem herausfordert, belebt jetzt das musée cantonale des beaux arts in lausanne. die bezaubernde ausstellung „immersion. les origines.“ zeigt mit 14 installationen, wie vor allem mailänder kunstschaffende zwischen 1949 und 1969 mit immersiver kunst zu experimentieren begannen. die betrachterin, der betrachter steht nicht mehr vor dem kunstwerk, sondern wird teil davon, taucht ein – der ursprung von virtual und augmented reality. „eine schärfung der sinne und eine intensivierung der wahrnehmung“ war damals das durchaus löbliche ziel. in einem voll verspiegelten raum (christian megert) wirkt die kleine gruppe, die mich umgibt, wie eine riesige horde, die orientierungslos rumkrabbelt. in weiteren räumen wecken berge aus kleinsten styroporkügelchen (fabio mauri) oder wild aufgewirbelten gänsefedern (judy chicago) winterillusionen und winterlüste. diese ausstellung ist ein fest für alle sinne, man wird physisch an der kunst beteiligt. immer wieder: wer bin ich? wo bin ich? die vielen kinder, die am eröffnungswochenende begeistert im museum herumwuseln, helfen zusätzlich, die welt – und sich selbst – wieder einmal spielerischer zu sehen. eine wohltat.