Freitag, 26. Januar 2024

LUZERN: ICH KOMME

drei frauen, ein drama: die tochter kann nicht mit der mutter und umgekehrt, die mutter kann nicht mit der grossmutter und umgekehrt, die grossmutter vergöttert dafür die enkelin, sehr zum ärger der mutter. sehr unerfreulich, das alles, aber kommt vor. die drei frauen stehen im zentrum des romans „ich komme“ der französischen autorin emmanuelle bayamack-tam. ein kondensat dieses generationenkonflikts hat meret matter mit dem theater club 111 inszeniert und jetzt im kleintheater luzern gezeigt. „dir schrumpft die birne“, sagt die grossmutter, eine hochbetagte diva, ihrem immer dementeren gatten ins gesicht. das ist in etwa die tonlage, in der die drei frauen kommunizieren. das boulevardkomödienhafte dieses stücks passt über weite strecken nicht zu den ernsthaften, ja bitteren themen: die adoptierte tochter ist dunkelhäutig und übergewichtig, weshalb sie die adoptiveltern bei der ersten gelegenheit am liebsten retournieren würden. es geht um falsche hoffnungen, falsche erwartungen, hartnäckige illusionen, missratene lebenskonzepte – und endet für alle beteiligten in einem leben ohne liebe. sehr gerne schaut man rahel johanna jankowski als charonne zu, sie spielt die junge frau sehr autenthisch und sehr differenziert, mit unerschöpflicher energie in diesem vergifteten klima, sie geht ihren weg und den wird sie auch ohne mutter und grossmutter schaffen. die anderen figuren (die frauen spielen auch die nebenrollen selber, ehemänner, liebhaber, freundinnen) bewegen sich zu oft zwischen karikatur und klamauk, grenzwertig. dass heidi maria glössner (80), vor jahrzehnten luzerner publikumsliebling, in der rolle der eitlen grossmutter hierher zurückkehrt, ist zwar ein hübsches zückerchen, es rettet den zwiespältigen abend allerdings auch nicht.

Montag, 22. Januar 2024

BOCHUM: VOODOO WALTZ

der wahnsinn lauert um uns, der wahnsinn lauert in uns: sechs tänzerinnen (w/m/d) und drei schauspieler (w/m/d) zucken hochfrequent, jucken in die höhe, sie rotieren und rasen und verkrampfen sich, dauererregung, dauerpanik. "voodoo waltz for epileptics" ist ein fiebriger text der slowenischen autorin janja rakuš über menschen im amsterdamer rotlichtviertel, einsame, traumatisierte, abhängige, verzweifelte - und alle: epileptiker. zu sehr sinnlichen, meist sphärischen kompositionen von amos ben-tal entwickelt das holländische geschwister- und choreografenpaar imre und marne van opstal im schauspielhaus bochum daraus jetzt einen atemlosen reigen aus worten und bewegungen, aus ekstase und erschöpfung. "der schmerz ist ein lehrer", heisst es einmal, der schmerz dominiert alles. der eine will sich mit bibelpsalmen und der jesus-daily-app davon befreien, ein anderer mit sexarbeit bis zur besinnungslosigkeit, wieder eine im medikamenten- und drogenrausch. jede tanzsequenz eröffnet neue dimensionen dieser neurodiversität: überreizungen und grenzüberschreitungen finden ihre form in aufregenden und nie gesehenen bewegungsmustern, die körper als ihre eigenen schatten, als erinnerungen, als sehnsüchte. von diesen bildern geht eine schwindelerregende kraft aus und - das ist ihre grosse qualität - nie hat diese sehr private, intime choreografie etwas voyeuristisches oder peinliches. man fühlt sich diesen menschen plötzlich ganz nah, denn sie explodieren an dem, was bei uns anderen vielleicht auch explodieren möchte oder sollte: verdrängtes, vergessenes, verletzendes. "voodoo waltz" zeigt das leben als geheimnis und gefängnis. betroffenheit im publikum, und dann langer jubel.

Samstag, 20. Januar 2024

DORTMUND: LA MONTAGNE NOIRE

erotik total. nur in einen leichten schleier gehüllt und mit verführerischer, dunkel timbrierter stimme tanzt die französische mezzosopranistin aude extrémo als türkin yamina in den bergen von montenegro, im feindesland. den bäuerinnen will sie zeigen, was es heisst, eine freie, selbstbewusste frau zu sein, und mirko, dem als held aus dem kampf gegen die türken zurückgekehrten, verwirrt sie nachhaltig sämtliche sinne und moralischen koordinaten. "la montagne noire" wurde 1895 in paris uraufgeführt - und das war's. die oper wurde quasi entsorgt, denn erstens komponierte - mon dieu - eine frau dieses grosse spätromantische tableau und zweitens erlaubte sich diese augusta holmès mit ihrer yamina eine scharfe kritik an den patriarchalen rollenzuweisungen plus die dekonstruktion falscher heldenmythen, eine art carmen vor politischem hintergrund. die oper dortmund holt "la montagne noire" jetzt aus der vergessenheit. was für eine entdeckung! augusta holmès komponierte opulentesten breitleinwandsound, bevor es die breitleinwand gab, ausladende melodienbögen, eingängige motive, ein sängerfest (das motonori kobayashi leider im dauer-forte dirigiert). emily hehl inszeniert mit effektvoll stilisierter balkan-folklore und ein paar griffen in die tiefenpsychologische trickkiste. nach dem gewaltsamen tod der helden verfärben sich die verspielt aus dem bühnenhimmel rieselnden schneeflocken blutrot - und die gusla-spielerin bojana peković, die zu beginn mit inbrunst traditionelle heldenlieder darbot, zieht desillusioniert von dannen. diese oper verdient es, nicht gleich wieder in der versenkung zu verschwinden.

Samstag, 6. Januar 2024

LUZERN: DINGE, DIE ICH SICHER WEISS

das schicksal hat´s streng bei familie price. die eine tochter wird auf dem europa-trip brutal sitzengelassen, die andere verlässt hals über kopf mann und kinder, der eine sohn zweigt am arbeitsplatz 250´000 dollar ab für drogen und statussymbole, der andere fühlt sich im falschen körper und will zur frau werden. die volle ladung family life. mama will alles mit ihren ratschlägen plätten, papa flieht meistens in den garten. mit „dinge, die ich sicher weiss“ hat der australier andrew bovell 2016 ein packendes stück geschrieben über das beziehungsnetz, das uns allen am nächsten ist, lebenslänglich. und reto ambauen macht mit dem theater nawal daraus jetzt einen bewegenden, ja beklemmenden abend. sechs ganz unterschiedliche stühle stehen um einen tisch und sechs sowohl darstellerisch wie sprachlich schlicht famose laien spielen die sechs so ganz verschiedenen figuren, dass es funkt: zuneigung, wut, verzweiflung, hassliebe, auch humor – alles drin in diesem hin und her zwischen den kleinen alltagsproblemen und den ganz grossen themen. zwei stunden lang werden die familienstrukturen aufs präziseste seziert, im steten wechsel von heftigen, temporeichen ensembleszenen einerseits und sehr intimen, leisen monologen anderseits. dieser permanente rhythmuswechsel unterstreicht: diese sechs können nicht ohne einander und sie können nicht miteinander, familie eben. das publikum im voralpentheater schaut familie price durch einen riesigen holzraster zu, der ein glashaus andeuten könnte oder ein gefängnis, ein schlichtes bild für die fragilen konstellationen und leidenschaftlichen konfrontationen. wann beginnt das richtige leben? was ist liebe? rosie, die jüngste, versucht´s mal mit einer liste über die „dinge, die ich sicher weiss“. die liste bleibt erschreckend kurz. am schluss stirbt mama, erschöpft, bei einem selbstunfall auf der autobahn. alle jagen nach dem glück, doch das schicksal ist immer schneller.