Sonntag, 31. Dezember 2023

MÜNCHEN: EINE ENTDECKUNGSREISE

kleines rätsel zu silvester: welcher begriff wird hier umschrieben? „das gleichgültige, das trostlose, das ungefähre, das ungewisse, das unentschiedene, das unbestimmte, das in die länge gezogene, das immergleiche, das eindimensionale, das tendenzlose, das irrelevante, das amorphe, das nichtssagende, das bedeckte, das nebelhafte, das monotone, das zweifelhafte, das mehrdeutige, das leicht widerwärtige, das in ferner vorzeit versunkene, das von spinnweben bedeckte, das aschenfarbige, das archivarische, das novembrige, das februarische – es ist nicht wenig, was unter dem gleichen fahlen segel über die gewässer der alltäglichkeit fährt.“ diese zeilen stammen vom philosophen und publizisten peter sloterdijk. er fasst hier zusammen, was ihm zur farbe grau einfällt. negativ? nicht nur. wir sollten mehr über das grau meditieren. in den usa trump am horizont, in deutschland die afd auf dem vormarsch – wir sind umgeben von schwarz-weiss-malern. doch „grau ist auch eine farbe“ (gerhard richter, post vom 22. september 2023). lernen wir dieses ungewisse, dieses amorphe, dieses mehrdeutige schätzen, wieder schätzen, immer wieder neu entdecken: den grautönen die zukunft.

Samstag, 30. Dezember 2023

MÜNCHEN: DER STURM / DAS DÄMMERN DER WELT

ein rostiges schiffswrack steht auf der leeren bühne der münchner kammerspiele. nur ein schiffswrack bleibt übrig. doch übrig wovon? zurück auf feld eins: william shakespeare schrieb „der sturm“ über den verbannten herzog prospero, der sich mit zaubermitteln an seinen missetätern rächen will. schauplatz: eine insel. der filmemacher werner herzog schrieb den roman „das dämmern der welt“ über den (realen) japanischen leutnant hiroo onoda, der den zweiten weltkrieg um 29 jahre verlängerte, weil er dessen ende für fake hielt. schauplatz: eine insel. jan-christoph gockel, hausregisseur an den kammerspielen, vermengt die beiden stoffe zu einem dreistündigen abend, befreit sie restlos von den eh schon spärlichen zuversichtlichen elementen und reichert sie an mit hundert assoziationen und – wie immer – michael pietschs ausdrucksstarken marionetten, diesmal allesamt verkrüppelte kriegsopfer, illustrationen einer grenzenlosen dystopie. der in jeder rolle grossartige thomas schmauser spielt prospero und onoda als liebenswürdige verzweifelte, bernardo arias porras kostet die selbstverliebtheit werner herzogs voll aus (wer, wenn nicht ich, muss diesen film machen?) und zählt in der mitte des abends alle kriegs- und konfliktherde seit 1945 auf, minutenlang, wirklich alle. krieg ist der normalzustand und in der „bar zum ewigen frieden“ bei der ewig rauchenden katharina bach schaut dann auch immanuel kant noch vorbei. von shakespeares insel zu herzogs insel zu gockels insel wird man getrieben, ja gejagt. der sturm wird zum sturm im kopf. was bleibt, ist ein rostiges schiffswrack und null hoffnung. ein völlig überbordendes, streckenweise sehr kluges und also ziemlich forderndes insel-hüpfen.

Sonntag, 24. Dezember 2023

BERN: MACBETH

immer wieder tauchen sie auf. sie tauchen auf am rand der riesigen runden scheibe, auf der sich alles abspielt. mal strecken sie eine blutige hand in die höhe, mal packen sie sich ein bein, im halbdunkel rappen sie sich durch ihre düsteren vorahnungen oder springen wie wilde teufel auf die spielfläche, sie umgarnen und umschmeicheln ihn, sie packen und sie würgen ihn - ihn, macbeth, den ehrgeizling und massenmörder. die drei hexen werden in der inszenierung des berner schauspielchefs roger vontobel zu hauptfiguren. lucia kotikova, kilian land und linus schütz sind nicht einfach drei irre schwestern, die mit ihren prophezeiungen ab und zu das spiel vorantreiben, nein, permanent schleichen sie umher, vontobel arrangiert sie superb zu einer choreografie des unterbewusstseins: in diesen furchterregenden figuren begegnet sich macbeth immer selbst. werner wölbern halluziniert, sein macbeth ist kein siegesgewisser machtmensch, sondern zutiefst verunsichert, unruhig, von ängsten und zweifeln getrieben (gespielt wird die fulminante fassung der shakespeare-expertin elisabeth bronfen). die leichen, die seinen weg säumen und sich vor seinen augen plötzlich blutig wieder zu bewegen beginnen, sind ihm keine trophäen, sondern müll, den er möglichst schnell aus dem kopf haben will. lady macbeth, die ihren mann anstachelt, in ihrem machthunger viel selbstsicherer, bösartiger und rücksichtsloser als er, rückt in diesem setting in den hintergrund. susanne-marie wrage zeigt sie nicht als treibende kraft, eher als sidekick, eine gemeine einflüsterin. so bleibt hier alles konsequent fokussiert auf werner wölberns widerlichen wicht, der unbedingt könig werden will und dabei nicht nur endloses chaos anrichtet, sondern selber ein bemitleidenswertes chaos ist: „mein hirn ist voll von skorpionen.“ die hölle, live.

 

Mittwoch, 20. Dezember 2023

LA MARSA: NICHTS SOLLEN, NICHTS WOLLEN

wenn man ans meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den letzten grashalmen
soll man den faden verlieren
und den salzschaum
und das scharfe zischen des windes einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen
wenn man den sand sägen hört
und das schlurfen der kleinen steine
in langen wellen
soll man aufhören zu sollen
und nichts mehr wollen nur meer
nur meer
(erich fried)

Montag, 18. Dezember 2023

TUNIS: MOMENTS LYRIQUES

ganz ohne klassische musik kann ich auch in afrika nicht sein. "moments lyriques" heisst das programm, zu dem das carthage symphony orchestra unter hafedh makni ins théâtre municipal in tunis lädt. das kleine orchester und der riesige, 120köpfige chor liefern, schlag auf schlag, die ultimativen wunschkonzert-knaller, ein pausenloser vivaldi-rossini-verdi-puccini-marathon, der gängige opern-mainstream halt. meryem khazzan, mutig mit schulterfreiem kleid im ungeheizten saal, singt mit grosser leidenschaft sopranarien aus traviata/trovatore/bohème und als echten höhepunkt "casta diva" aus bellinis norma. das wärmt. im orchester spielen überraschend viele junge, attraktive, zu höchstleistungen motivierte musikerinnen und musiker - und ein bedauernswerter älterer trompeter, der beim triumphmarsch aus verdis aida ganz allein stemmen muss, was normalerweise auf sechs seinesgleichen verteilt ist. er schafft es knapp, doch bei der zugabe versagen lippen und lunge ihren dienst. moments lyriques also durchaus, moments magiques diesmal eher nicht. das théâtre municipal ist ein absolutes bijou, das an der avenue habib bourguiba, dem prachtsboulevard von tunis, mit seiner jugendstilfassade sofort den blick auf sich zieht. dieses theater wollte ich unbedingt auch von innen sehen. hat dank dem carthage symphony orchestra prima geklappt.

Sonntag, 17. Dezember 2023

SIDI BOU SAÏD: DIE FARBE HAT MICH

hier also geschah es. hier hatte paul klee sein erweckungserlebnis. klee, der bis dahin vor allem als grafiker aufgefallen war, mit skizzen und radierungen, viel schwarz-weiss, viel tusche, reiste 1914 gemeinsam mit august macke und louis moilliet nach tunesien und war regelrecht berauscht von der pracht und der intensität der farben. der besuch in sidi bou saïd, dem prächtig gelegenen dorf auf der markanten felsnase am eingang der bucht von tunis, wurde zu einem wendepunkt in seinem künstlerischen schaffen: "die farbe hat mich. ich brauche nicht nach ihr zu haschen. sie hat mich für immer, ich weiss das. das ist der glücklichen stunden sinn: ich und die farbe sind eins. ich bin maler." ohne sidi bou saïd gäbe es bilder wie "südliche gärten" (1919), "burg und sonne" (1928), "ad parnassum" (1932) mit ihrer überbordenden und differenzierten farbigkeit nicht. dieser aufenthalt ging in die kunstgeschichte ein. und der rote fisch im "unterwassergarten" (1939) war im gymi der ausgangspunkt meiner beschäftigung mit selbiger. heute erinnert eine farbige tafel auf einer weiss getünchten hausmauer an die folgenschwere tunesienreise der drei künstlerfreunde. sidi bou saïd ist mittlerweile ein touristen-hotspot, der den ursprünglichen charakter im kern allerdings zu wahren wusste, durchaus sympathisch und immer noch sehr farbig. man kann klee verstehen.

Donnerstag, 14. Dezember 2023

TUNIS: DIE FRAUEN VON AL-BASSATÎN

„lächle – du bist in tunesien!“ wie ein roter faden zieht sich der slogan von den werbetafeln durch habib selmis roman „die frauen von al-bassatîn“. „lächle – du bist in tunesien!“ an jeder ecke, auf flughäfen, auf riesigen brandmauern in den innenstädten, in shopping-malls. das sympathische leitmotiv wird dann allerdings seite für seite konterkariert. der ich-erzähler wanderte vor jahren nach frankreich aus, ist dort verheiratet und unterrichtet an einem gymnasium. sein blick auf die heimat erfolgt aus distanz, nicht verklärend, doch viele entwicklungen entziehen sich diesem blick, das bild ist unvollständig, verschoben, verzerrt. lächle? als er für einen längeren urlaub zurückkehrt nach tunesien, warnt ihn sein jugendfreund nadschîb vor allem, was hinter der fassade lauert: „einem besucher wie dir mag tunesien als ein progressives land erscheinen. alles ist so ruhig. ein friedliches volk, eine aufgeschlossene gesellschaft. und in den cafés lauter frauen. aber dieses bild trügt! tunesien ist die hölle für jemanden, der hier leben muss. wir haben eine konfuse, verwirrte, eine verlorene gesellschaft, die nicht weiss, welche richtung sie einschlagen soll.“ selmi schrieb „die frauen von al-bassatîn“ 2010. wie ein seismograf registrierte er bevorstehende erschütterungen: noch im selben jahr verbrannte sich der gemüsehändler muhammed bouazizi aus protest gegen behördenwillkür, es folgte ein volksaufstand, der beginn der arabischen revolution, autokraten wurden weggefegt. doch die unruhe blieb. 2015 folgten terroranschläge auf touristenhotspots. „lächle – du bist in tunesien!“ dieses land ist zerrissen zwischen tradition und moderne, man reist, selmis roman im gepäck, mit ambivalenten gefühlen ein.

 

Montag, 4. Dezember 2023

GENÈVE: ILS NOUS ONT OUBLIÉS

könnte „tatort schwarzwald“ sein: ein paar trostlose fichten, irgendwo im halbdunkel ein hirsch, der schäbige wohnraum in schummrigem licht, ein chaotischer keller, das schlagzeug hämmert, tauben und eine krähe flattern durch die szenerie – alles bedeutungsschwanger, alles bedrückend. in diesem setting zeigt séverine chavrier an der comédie de genève ihre version von thomas bernhards sehr dunklem roman „das kalkwerk“ (1970). frau chavrier ist die neue direktorin des immer noch sehr neuen schauspielhauses. das theaterinteressierte genf war also gespannt auf ihre inszenierung, die vor eineinhalb jahren am teatre nacional in barcelona entstand. „ils nous ont oubliés“, wie chavriers fassung heisst, ist die geschichte einer verzweifelten paarbeziehung, eine fallstudie aus der mitte der gesellschaft. er ein erfolgloser intellektueller, sie auf den rollstuhl angewiesen, er terrorisiert sie mit seinen experimenten, sie terrorisiert ihn mit ihrer hilflosigkeit, er quält sie mit kropotkin, sie ihn mit novalis, er bringt sie schliesslich um. chavrier ist auf der höhe der theaterkunst, sie nutzt die riesige bühne der comédie geschickt und nicht überbordend für immer neue effekte, arbeitet mit viel sound, mit live-video, mit sich überlagernden projektionen – und mit zwei hervorragenden darstellern, marijke pinoy und laurent papot. mit marathon-energie absolvieren die beiden dieses kammerspiel der psychischen grausamkeiten, das thomas bernhard mäandern lässt zwischen bitterböser farce und brutaler tragödie, im zentrum immer der hass und das nicht-voneinander-lassen-können, das den menschen zum monster macht. dieser „cauchemar“ ist in den ersten beiden akten von packender intensität, verliert sich im dritten teil allerdings in einer oft etwas banalen beliebigkeit. die luft ist draussen. kein wunder, wer hält schon dreieinhalb stunden ehehölle aus?