Montag, 28. Februar 2022

MILANO: ROLE PLAY

chi sono? wer bin ich? wer möchte ich sein? wie sehen mich die anderen? die von melissa harris kuratierte ausstellung „role play“ in mailand beschäftigt sich mit identität, authentizität, diversität. das komplexe thema erfährt im osservatorio der fondazione prada durch ein rundes dutzend künstlerinnen und künstler eine durchaus spielerische umsetzung. begrüsst wird die besucherin, der besucher vom video „cosplayers“ von cao fei (guangzhou), in welchem sich chinesische jugendliche in ihren traumverkleidungen inszenieren und so – mit sensen, ritterrüstungen oder schwarzen luftballons – leben an tote orte bringen, unter autobahnbrücken, in betonruinen, auf hochhausdächer: ein crash zwischen irrer phantasie und brutaler wirklichkeit. das spiel mit rollen prägt eine biografie, ein alter ego kann den ehrgeiz anstacheln, ein avatar die empathie fördern. bogosi sekhukhuni (johannesburg) holt sich mit hilfe moderner technologie seinen vater, der ihm weitgehend abhanden gekommen ist, in die nähe: auf einem bildschirm ein computeranimiertes bild des sohnes, auf einem zweiten vis-à-vis jenes des vaters, roboterstimmen vertonen einen echten facebook-dialog der beiden, sekhukhuni realisiert die ersehnte begegnung als interaktion der künstlichen stellvertreter. ebenso einfach wie eindrücklich dann die arbeit von haruka sakaguchi und griselda san martin (new york), die schauspielerinnen und schauspieler in den rollen ablichten, für die sie am häufigsten gecastet werden – und dann in jenen, die sie gerne spielen würden (die house maid lieber eine ceo, der best friend lieber einen gotteskrieger). als besucher bin ich eingeladen, dieses spiel weiterzuspielen: in welche rolle möchte ich eintauchen? für kurz oder lang? um mich zu finden oder um mich mir zu entfremden?

Samstag, 26. Februar 2022

GENOVA: ANNA BOLENA

ich war gewarnt und, ja, jetzt kann ich es selbst bezeugen: das teatro carlo felice in genua, erbaut 1991 von aldo rossi, ist das mit abstand hässlichste opernhaus der welt. die aufgänge erinnern an osteuropäische metrostationen, zu viel weisser marmor, zu viel messing, das foyer wirkt mit seinen scheusslichen ölgemälden und überdimensionierten neureichen skulpturen mehr aus- als einladend und im zuschauerraum weiss man nicht, ob er von einem fischerstädtchen oder einem adventskalender inspiriert ist, anstelle der logen fensterchen mit grünen fensterläden (!!), ein bisschen holzkitsch da, ein bisschen roter samt dort, dazu als bühnenvorhang eine monströse kubismus-imitation. nix passt zu nix, krieg der stile, es ist der olymp der geschmacklosigkeit. absolut passend dazu dann die inszenierung von donizettis "anna bolena", auch hier von allem etwas. weil regisseur alfonso antoniozzi die zeitlosigkeit des stoffes unterstreichen will (warum eigentlich?), gibt es tudorkragen und charlestonkleider, fascho-uniformen und ritterrüstungen, der könig trägt einen rübezahl-mantel, alles kreuz und quer. die konfliktreichen konstellationen in der tragischen geschichte der zweiten der sechs ehefrauen von heinrich VIII. interessieren den regisseur dagegen kaum: gesungen, resp. geschmettert wird mehrheitlich an der rampe, die personenführung beschränkt sich auf die drei handelsüblichsten operngesten. und bei der verkündung des todesurteils gegen anna stehen die männer des herrenchors mit cocktailgläsern rum, keine aufregung, kein mitgefühl, alle ungerührt wie auf einer langweiligen party. man fragt sich immer wieder, ob der regisseur bei den proben überhaupt dabei war.

Dienstag, 22. Februar 2022

ZÜRICH: DER RING DES NIBELUNGEN

labor, mal wieder: auf der sonst leeren bühne des zürcher schauspielhauses viel elektronik und eine art kerzen-manufaktur. autor necati öziri und regisseur christopher rüping verhandeln hier den „ring des nibelungen“. von richard wagners tetralogie über jugend, macht, geld und sex bleibt ausser ein paar takten rheingold-ouverture und einer veralberung des walkürenritts erwartungsgemäss nicht viel übrig. stattdessen: elektronische baselines von black cracker und dazu freies assoziieren und monologisieren über das ring-personal und wagners weltbild (das so einseitig sexistisch und rassistisch, wie hier unterstellt wird, wohl nicht war). maja beckmann als wotans vernachlässigte fricka macht sich gedanken über partnerschaft im würgegriff der zeit, die fähigkeit zu fühlen, die auch im alter nicht nachlässt, und wie schön es wäre, mit göttervater wotan wenigstens noch partners of crime zu sein. nils kahnwald als proletarier alberich verwickelt das publikum in eine meditation über attraktivität, über das runtergemacht-werden und die einsamkeit der ungeliebten. matthias neukirch als wotan darf noch einmal richtig wüten über die ihm undankbare welt, bevor er zum sekt ins foyer lädt; keiner geht mit, götterdämmerung halt. undsoweiter. „die ganze welt wird brennen.“ öziri hat durchaus kluge texte geschrieben, die wagner-kennern neue perspektiven auf die figuren erschliessen und ring-anfängerinnen entweder lust auf mehr machen oder auch ganz losgelöst funktionieren: ein essay über erbe, identität und emanzipation. am ende des abends, dem es zuvor an interaktion mangelt, will der waldvogel, anders als bei wagner, vom drachen wissen, wie das wirklich war mit dem goldschatz, ob er ihn vor dieben bewachte oder die welt vor weiterem unheil bewahren wollte. dann gibt’s vom ensemble für alle eine kerze – mit der aufforderung, sich von einem drachen im eigenen umfeld, dem man noch nie wirklich zugehört hat, sein leben erzählen zu lassen. theaterpädagogik für erwachsene. geht in ordnung.

Mittwoch, 16. Februar 2022

MÜNCHEN: 50 JAHRE OLYMPIAPARK

weltausstellungen, olympische spiele – über sinn oder unsinn solcher monsterveranstaltungen kann man streiten. oder eben eigentlich nicht mehr. doch unbestritten ist, was diese grossanlässe über ihre kurze dauer hinaus in den jeweiligen städten ausgelöst haben. mailand beispielsweise ist dank der expo 2015 eine andere stadt geworden: attraktive, qualitativ ausserordentliche hochhäuser, darunter die berühmten begrünten (bosco verticale), enorme fussgängeranlagen quer durch die innenstadt, eine völlig neue lebensqualität. oder, jahrzehnte früher bereits, münchen: das referat für stadtplanung zeigt jetzt im rathaus die ausstellung „50 jahre olympiapark – impulse für münchens zukunft“, anhand derer sich im detail studieren lässt, welche bereiche einer grossstadt geboostert werden, wenn auf nachhaltigkeit bedachte planer am werk sind. die ikonischen, transparenten stadiondächer von günter behnisch, die für die olympischen spiele 1972 auf trümmern des zweiten weltkriegs errichtet wurden, und ringsum der riesige park mit seinen weichen formen waren herz und symbol einer breitangelegten stadtentwicklung, ein gesellschaftlicher und politischer wandel kam in gang, visionen waren kein schimpfwort mehr. das u- und s-bahn-netz entstand, zusammenhängende fussgängerzonen rund um den marienplatz, tausende von studentenapartments (umnutzung des olympiadorfes), neue quartiere wurden geplant als „entlastungsstädte“. die devise lautete nicht einfach „münchen für olympia“, sondern „olympia für münchen“. zum 50-jahr-jubiläum soll der olympiapark jetzt zum unesco-weltkulturerbe geadelt werden. also bummelt man wieder einmal durch diesen park mit der unverwechselbaren silhouette der weit ausgreifenden zeltdächer, mit den stillen teichen und den sanften hügeln – und freut sich, wie modern eine gut gedachte und gut gemachte anlage auch nach 50 jahren noch wirkt, wie wohl man sich hier fühlt. zeitlos.

Dienstag, 15. Februar 2022

LUZERN: SIMONE FELBERS IHEIMISCH

was man bei einem konzert mit dem titel „iheimisch“ nicht unbedingt erwarten würde: prominent in der mitte der bühne ein indisches gebetsharmonium. sieht ähnlich aus wie diese alten holz-radios bei unseren grosseltern, ist transportfähig und einfach in der handhabung: die rechte hand spielt auf ein paar wenigen tasten, die linke bedient einen klappbalg. englische missionare brachten diese harmonien in der kolonialzeit nach indien, damit die musik auf ihren weiten reisen nicht zu kurz kam. deshalb heissen die dinger auch „missionarsorgel“. zum tönen bringt die sängerin simone felber (die von der klassik kommt) dieses instrument zusammen mit diversen schwyzerörgeli von adrian würsch (der von der volksmusik kommt) und dem kontrabass von pirmin huber (der vom jazz kommt) – und mit ihrer grandios vielseitigen mezzo-stimme. das ergibt eine kombination, bei der die post abgeht und die das publikum auch im luzerner kleintheater restlos begeistert hat. die drei, die sich an der musikhochschule luzern kennenlernten und sichtlich spass haben zusammen, beginnen oft ganz unverfänglich in folkloristischen gefilden, schmützli, büebli, „ha ame ne ort es blüemeli gseh“, steigern dann rhythmus und volumen, jodeln und klimpern und zupfen wild drauflos und entwickeln einen groove und eine energie jenseits aller musikalischen kategorien. wann wird heimisches fremd und wann wird fremdes heimisch? das ist die frage, die die drei interessiert – und wie sie beim experimentieren die grenzen zwischen vertrautem und exotischem verwischen, ist hohe schule. wenn simone felber die geschichte einer hexe aus dem luzerner hinterland singt, quietschend, kichernd, kreischend, dann ist das kein lied mehr, kein konzert, sondern eine grosse und witzige performance – zum thema „iheimisch“.

Freitag, 11. Februar 2022

LUZERN: ZUR SCHÖNEN AUSSICHT

ödön von horváth war ein äusserst präziser menschenbeobachter und -beschreiber. die realen figuren, die ihm als vorbilder für das personal seiner stücke dienten und reichlich o-ton lieferten, fand er beispielsweise in den gaststätten seiner wahlheimat murnau in oberbayern. schauplatz in „zur schönen aussicht“ (1926) ist eine heruntergekommene pension, wo ein paar heruntergekommene herren ihr verpasstes oder verpatztes leben dem finalen desaster entgegensteuern, als direktor, kellner oder chauffeur. wobei es nur noch einen einzigen gast zu bespassen gibt, eine ebenfalls völlig perspektivenlose baronin, die sich mit sex und suff am leben festklammert. als eine junge dame auftaucht, die von einem der herren ein kind hat und ihn zur verantwortung ziehen will, gerät die männerbande in aufruhr, die baronin ins abseits und die ordnung, so es noch eine gab, völlig durcheinander. „zur schönen aussicht“ bietet das rundum-panorama einer dekadenten gesellschaft, ein europäisches sittenbild. regisseur martin schulze unterstreicht das in der box des luzerner theaters mit einer flächendeckenden alten europa-karte, die den boden der pension bildet, hübsche idee. im übrigen hat er horváth einigermassen falsch verstanden und inszeniert diese trostlose endzeitkomödie als wär’s eine sitcom von charles lewinsky: verfolgungsjagden zwischen topfpflanzen, vulgär gespreizte beine allenthalben, auf den tisch geknallte speisekarten – und es wird geschrien, geschrien, geschrien. schulze zeigt karikaturen statt figuren, klamauk statt finesse. vielleicht hätte er das programmheft zu seiner inszenierung besser studieren sollen, wo horváths „todsünden der regie“ abgedruckt sind, beispielsweise: „es darf auch niemand als karikatur gespielt werden.“