er
tänzelt, probiert ein paar schritte, zunächst ohne musik, unsicher und total
ausgestellt auf der leeren bühne, über der eine riesige discokugel schwebt. ein
mensch, ganz allein, verletzlich und verloren: steven scharf, der schauspieler
des jahres, als liliom, der jahrmarktbudenausrufer. sein leben läuft
beschissen: er verliert den job, macht seiner julie ein kind, für das kein geld
da ist, wird bei einem raubüberfall verhaftet, nimmt sich das leben. stephan
kimmig zeigt franz molnárs „vorstadtlegende in sieben bildern“ an den münchner
kammerspielen in einer hochkonzentrierten form (und bis in die letzte
nebenrolle exzellent besetzt). er verknappt die dialoge und setzt auf präzise
gestik und mimik, sozialdrama pur. liliom tänzelt, er tänzelt dem abgrund
entgegen, er schwitzt zunehmend, aus dem tänzeln wird ein taumeln, ein taumeln
zum tode. steven scharf ist kein grober hallodri, sondern ein zärtlicher
versager, einer, der dem leben schutz- und hilflos gegenübersteht. wenn er nach
16 jahren im himmel kurz runter darf, um ein einziges mal seine tochter zu
sehen, und ihr als stern von oben die riesige discokugel mitbringt, dann könnte
das in grenzenlosem kitsch enden. hier gerät dieser moment sehr berührend, weil
kein wort zu viel ist und keine bewegung aufgesetzt. und weil in lilioms
glänzenden augen kein falsches glück erwacht, sondern einzig die verzweiflung
für ein paar kurze sekunden verschwindet.
Mittwoch, 30. Juli 2014
Donnerstag, 24. Juli 2014
WIEN: DER TRAFIKANT
immer
mehr leute grüssten mit „heil hitler!“ und reckten dabei ihren arm in die höhe.
franz, dem das ein bisschen übertrieben vorkam, gewöhnte sich an, darauf mit
einem unverbindlichen: „danke, ihnen auch!“ zu antworten. – wien, 1938. ein
17jähriger bursche aus dem salzkammergut kommt zwecks lehre in einer
tabaktrafik (kiosk) in die hauptstadt, verliebt sich unsterblich und unglücklich
und versucht seinen liebeskummer in regelmässigen gesprächen mit seinem kunden,
prof. dr. sigmund freud, zu kurieren. „der trafikant“ von robert seethaler ist
die geschichte der freundschaft zweier ungleicher männer in schwierigen zeiten und eine
ferienlektüre, wie man sie sich nur wünschen kann: liebevoll und launig,
poetisch und politisch. und sprachlich überbordend, in der schilderung von franz´
träumen beispielsweise: „schweineblut tropfte von der decke direkt in das runde
fass, das sein schädel war, das bett schaukelte hoch und höher, bis in dieses
sonnenhelle juchzen hinaus, durch eine riesige, schwarze lücke hindurch und mit
einem blauen wägelchen in die ewige grottendunkelheit hinein. seine mutter
erschien und strich otto trsnjek mit dem handrücken übers bein, worüber sigmund
freud so herzhaft lachen musste, dass ihm der hut vom kopf flog und er seine
flügel ausbreitete und hoch über den votivkirchenspitzen der untergehenden
sonne hinterhersegelte.“ man müsste wieder mal nach wien. zu freud an die
berggasse 19. wie franz.
Samstag, 19. Juli 2014
GSTAAD: B-DUR
erster
tag, warmlaufen: vom col du pillon via arnensee nach feutersoey. zweiter tag,
noch mehr warmlaufen: von lauenen über die chrine zur höhi wispile. nach so
viel warmlaufen machen sich beim nicht eben bewanderten stadtkind muskelkater
und blasen bemerkbar. zur entspannung gibt’s nicht schwimmen, nicht sauna,
keine relax-cd – sondern das eröffnungskonzert des menuhin festival gstaad. in
der prachtvollen alten kirche von saanen setzt sich christian zacharias an den
flügel, spielt zunächst zwei mozart-sonaten und nach der pause franz schuberts
letzte, die klaviersonate nr. 21 in b-dur. ein werk voller todesahnung, die
musik einer gequälten seele, die um fassung ringt, die immer wieder nach
lichtblicken verlangt, die es nicht schafft, das dunkel zu verscheuchen. dur, permanent
von moll umzingelt. zacharias spielt das sehr innig, sehr plastisch: er kommt
schubert auf seiner letzten reise zwischen hoffnung und verzweiflung sehr nahe,
es gelingt ihm das intime porträt eines bald sterbenden. während dem zweiten,
dem stillen satz kippt ein zuhörer hinten im halbdunkel der kirche ohnmächtig und
krachend zwischen die bänke. diese musik und dieser zwischenfall führen zu
einer art kollektivem schauder. würden nicht die letzten sonnenstrahlen eines
prächtigen bergsommertages durch die kirchenfenster grüssen, verliesse man
diesen ort tieftraurig.
Dienstag, 15. Juli 2014
LAUENEN: HEITERE BESESSENHEIT
„gelassenheit
– was wir gewinnen, wenn wir älter werden“ heisst das buch von wilhelm schmid,
das auf der sachbuch-bestsellerliste des „spiegel“ unangefochten die spitze hält. überhaupt
hat der ruf nach mehr gelassenheit gerade mal wieder hochkonjunktur. brauchen
wir das, gelassenheit? wer „mehr gelassenheit“ fordert, meint meist
mensch-ärgere-dich-nicht, meint weniger stress für sich oder den, der ihn
gerade nervt. in wirklichkeit ist gelassenheit also für sehr, sehr viele menschen nur
eine positiv parfümierte entschuldigung fürs abkoppeln, wegtreten, durchhängen,
aufgeben. fürs sich-nicht-mehr-engagieren. kann da stolz sein, wer sich seiner
endlich gewonnenen gelassenheit rühmt? gelassenheit ist die schwester der
bequemlichkeit und müsste eigentlich ein schimpfwort sein. um mit den
hartnäckigen und unerfreulichen seiten des alltags (oder berufslebens) fertig
zu werden, brauchen wir nicht gelassenheit, sondern „heitere besessenheit“.
diesen begriff hat der organisations- und managementberater klaus doppler
geprägt. ihm geht es darum, sich einzusetzen für eine sache, zu kämpfen, das
ziel nicht aus den augen zu verlieren und vor allem: das ziel höher zu gewichten
als die ärgerlichen lappalien am oder im weg. dranbleiben, dranbleiben, konsequent,
aber eben nicht verbissen und nicht verkrampft, das meint doppler:
leidenschaftlich und locker. passt. mehr
heitere besessenheit also.
Montag, 7. Juli 2014
GISWIL: VERS LE CIEL
"obwald", das sympathische festival in der waldlichtung bei giswil, strahlt bereits weit über die grenzen: dieses jahr wurden auf dem parkplatz selbst nummernschilder aus norddeutschland gesichtet. doch auch wenn man das volkskulturfest definitiv nicht mehr als geheimtipp handeln kann, seinen ausserordentlichen charme hat es auch bei der neunten auflage bewahrt. für einmal fehlten im programm zwar die spektakulären highlights, vielleicht entwickelte sich aber gerade deshalb eine besonders herzliche, familiäre atmosphäre zwischen den beteiligten formationen. eines verband sie alle ganz besonders: glockenhelle stimmen voller wärme und energie, die sich immer wieder "vers le ciel" schwingen, wie es in einer liedzeile der gäste aus dem kanton freiburg einmal hiess. die guardianes de la huasteca aus mexiko nutzten diese stimmen für witzige balz- und andere freudengesänge, der einheimische jodlerklub fruttklänge berührte mit dem steimandli-jodel auch manch durch und durch urbanes herz, und als der choeur des armaillis de la gruyère dann spätabends zu "lyoba" ansetzte und die vielen hundert menschen unter dem zeltdach allesamt herzergreifend in dieses ranz des vaches einstimmten, da war es wieder da, dieses ganz spezielle "obwald"-gefühl, das sich subtil an der grenze zwischen festfreude und andacht bewegt.
Dienstag, 1. Juli 2014
BASEL: DAS WEISSE VOM EI
französische komödien leben von
türen, die sich im falschen moment öffnen, von den falschen menschen, die durch
diese türen treten, von sprachwitz, von anzüglichkeiten und vor allem von einem
teuflischen tempo. christoph marthaler gönnt sich am theater basel ein
spässchen damit, er riskiert eine paradoxe intervention. er packt sich die farcen "la
poudre aux yeux" und "un mouton à l'entresol" von eugène
labiche, garniert sie mit jelinek, carroll, jonke und meyrinck, nennt das ganze
"das weisse vom ei", lässt in der comme en france schrecklichen
kulisse die comme en france schrägen vögel auftreten - aber: keine spur von
tempo, das stück wird bis zur unkenntlichkeit entschleunigt, die bürgerliche
gesellschaft in ihre einzelteile zerlegt. man bekommt noch knapp mit, dass sich
emmeline und frédéric zugetan sind und dass sie beide in einem hochkomplexen
verhältnis zu ihren jeweiligen eltern stehen, die sich gegenseitig aufs übelste
beschnuppern. diese handlung allerdings wird zur blossen folie, auf der sich
marthaler austobt, indem er zum beispiel die unsitte des à-part-sprechens
(ans publikum gerichtete vertraulichkeiten) ad absurdum treibt oder
indem er seinen fulminanten protagonisten kollektives nasenbluten verordnet
oder indem er ausgestopfte vögel in die harfe und hirschgeweihe zwischen
oberschenkel klemmen lässt. nur, sehr viele spässchen ergeben nicht zwingend
einen spass. auf der bühne darf einer reichlich und redundant schnarchen.
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