Sonntag, 31. März 2019

BASEL: MADAMA BUTTERFLY

das erfreuliche zuerst: talise trevigne (butterfly), otar jorjikia (pinkerton), domen krizaj (sharpless) und kristina stanek (suzuki) verfügen alle über brillante stimmen. das theater basel hat für puccinis „madama butterfly“ ein sensationelles ensemble verpflichtet, das in den klangfarben grandios harmoniert. dirigent antonello allemandi und das sinfonieorchester sind akkurate begleiter, nicht das schwelgerisch-exotische der musik hervorstreichend, sondern das zartbittere und herbe. es lässt allerdings wenig gutes erahnen, dass der russische regisseur vasily barkhatov die butterfly ihre auftrittsarie in ihrem chicen nagasaki-pavillon hinter einer scheibe singen lässt, smart-glass, das prompt im falschesten moment in den milchglas-modus kippt und auch den restlichen abend amok läuft. so arbeitet barkhatov: viel oberflächlicher und ärgerlicher schnickschnack, wenig gespür für die intentionen des komponisten. pinkerton, der amerikanische offizier, der sich ein japanisches püppchen aussucht, schwängert, abreist und sie so zur verzweiflung und in den suizid treibt, wird zum touri-trottel degradiert, kurze hosen, schuhe auf den tisch, er äfft die japanischen zeremonien nach und fuchtelt pausenlos mit der selfiestange durch die gegend. man ist fassungslos und fragt sich, woher da die echte, tiefe zuneigung einer sensiblen geisha kommen soll. das liebesduett am ende des ersten aktes, ein höhepunkt der oper, wirkt nach diesem setting nur unglaubwürdig, sternenhimmel hin oder her. erst gegen ende, wenn pinkerton nach drei jahren samt us-ehefrau zurückkehrt und sein kind abholen will, gelingen einige wirklich starke bilder: wie schachfiguren bewegen sich die protagonisten in dieser konfliktsituation, kammerspielartig konzentriert, endlich fern aller klischees und nahe an der musik. zu spät.

Montag, 25. März 2019

HAMBURG: NABUCCO, FERNGESTEUERT

seit august 2017 steht der russische regisseur kirill serebrennikov wegen zum teil absurden vorhaltungen unter hausarrest. doch er lässt sich von der willkür der russischen justiz nicht unterkriegen und inszeniert weiter. im abwesenheitsverfahren. ein akt des widerstands, den serebrennikov mutig und konsequent durchzieht: die ideen und konzepte aus moskau werden von hin und her reisenden assistenten und dramaturgen umgesetzt. nach „hänsel und gretel“ in stuttgart und „così fan tutte“ in zürich kam auf diese ungewöhnliche weise jetzt in hamburg verdis „nabucco“ auf die bühne, zum ersten mal also ein hochpolitischer stoff. die geschichte der jüdischen gefangenen in assyrien wird hier ins heute weitergedacht, schauplatz ist der sitzungssaal des sicherheitsrats der vereinten nationen, einziges traktandum die weltweite flüchtlingskrise. die macht- und liebesspiele der protagonisten bilden nur das gerüst (was auch angesichts der sehr unterschiedlichen qualität im ensemble kein verlust ist), ins zentrum wird dominant das schicksal der migrantinnen und migranten gerückt, mit news-videos, demonstrationen, led-schlagzeilen und grossformatigen porträts. das ist teilweise völlig überladen, aber immer ein klares statement. ganz in schwarz und frontal ins publikum singt der von paolo carignani dirigierte chor der staatsoper das „va pensiero“, während sich von allen seiten echte flüchtlinge mit ihren farbigen kleidern und zerfetzten zelten stumm unter die sängerinnen und sänger mischen und die freiheitshymne später selber intonieren – eine version des gefangenenchores, die man so schnell nicht vergessen wird. und zwischen den akten stimmen hana alkourbah und abed harsony mit seiner oud klagelieder aus syrien an. verdis themen sind auch serebrennikovs themen, so entsteht eine tiefschürfende und unbequeme meditation über heimat, freiheit und krieg. 

Samstag, 23. März 2019

HAMBURG: MIT IVAN KRPAN IN DIE HÖLLE

lächeln ist nicht seine sache. der junge mann trägt einen grauen anzug und wirkt irgendwie steif darin, er blickt ins publikum als ob es ihn blenden würde, nicht sympathien heischend, eher kühl distanziert. der junge mann kommt aus kroatien, ist 21 und heisst ivan krpan. er setzt sich im kleinen saal der elbphilharmonie an den flügel und läuft sich mit zwei beethoven-sonaten warm, hoch konzentriert, hoch virtuos, elegant und warm. und dann langt er richtig hin. mit ferruccio busonis rastloser sonatina seconda, mit "pensée des morts" und "après une lecture de dante" von franz liszt zieht er uns mit in dunkle abgründe, mit seinen gefühlten 40 fingern zielt er, hämmernd und federnd, direkt in die hölle. wer die augen schliesst, muss zur überzeugung gelangen, dass da mindestens sechs klavierberserker oder -innen an mindestens drei flügeln am werk sind. ein junger mann veranstaltet einen akustischen orkan, wild und laut und raumfüllend. nicht mehr kühl distanziert wirkt er jetzt, sondern völlig entfesselt. den namen ivan krpan wird man noch oft hören. beim schlussapplaus lächelt er dann doch noch oder deutet es zumindest an, irgendwie erlöst, der hölle noch einmal ganz knapp entronnen zu sein.

Freitag, 22. März 2019

HAMBURG: DIE STADT DER BLINDEN

ein verlassenes irrenhaus dreht sich auf der riesigen bühne des hamburger schauspielhauses, morbide stimmung, dann werden hier blinde interniert, zunächst nur ein paar wenige, dann immer mehr, die blindheit breitet sich epidemisch aus, also quarantäne, brutal autoritär kontrolliert. josé saramago hat mit "die stadt der blinden" (1995) einen beklemmenden roman geschrieben über eskalation, chaos und den verlust von würde in einer ausnahmesituation. einen essay über die blindheit der herzen. regisseur kay voges macht daraus ein von pessimismus und aggression triefendes theater-video-performance-gesamtkunstwerk mit viel kotze und kacke, ausbeutung und erniedrigung, vergewaltigung und mord. diese menschen ersparen sich in ihrer enge und ihrer verzweiflung gar nichts. frauen lassen sich zu sex erpressen, weil sie und ihre männer sonst nichts mehr zu essen kriegen. die inszenierung ist ein drastisches konzentrat von metaphern für eine kaputte welt. eine bewusst provozierende grenzerfahrung, selbst für geübte theatergänger. saramagos roman besticht auch durch die präzise zeichnung der total unterschiedlichen reaktionen und strategien der einzelnen figuren. diese differenziertheit bringt das enorm geforderte riesenensemble (23 leute!) allen blut- und fäkalexzessen zum trotz hervorragend auf die bühne. die einzige sehende (sandra gerling, herausragend) beginnt in diesem desaster, folgerichtig, zunehmend zu pendeln zwischen retterin und rächerin. theater ist live-kunst und berührt wie keine andere kunstform auch physisch. dieses elend und diese widerwärtigkeiten landen ungebremst im kopf und im bauch. die apokalyptischen bilder brennen sich auf unserer netzhaut ein, nicht nur während der finalen 20-minütigen stroboskop-orgie, sondern weit darüber hinaus. wie blind sind wir in dieser welt?