Donnerstag, 16. Juni 2022

MÜNCHEN: MÄKELÄ, 26

sein name ist mäkelä, klaus mäkelä. vor ein paar tagen wurde bekannt, dass der finne das erbe von dirigenten wie bernard haitink, riccardo chailly und mariss jansons antritt – als chefdirigent des amsterdamer concertgebouw-orchesters. das aussergewöhnliche: im gegensatz zu seinen illustren vorgängern an dieser position ist mäkelä gerade mal 26 jahre alt. diese woche nun, zufall, dirigiert er die münchner philharmoniker. nein, er dirigiert sie nicht, er reisst sie mit, er entzündet sie. zuerst bei der sich bis zur raserei steigernden „batteria“ seines nur unwesentlich älteren landsmanns sauli zinovjev, dann im düsteren violinkonzert nr. 1 von dmitrij schostakowitsch mit der phänomenalen lisa batiashvili, die mit der teuflisch schwierigen kadenz im dritten satz für begeisterungsstürme sorgt, schliesslich in der ersten symphonie von gustav mahler, die oft abgetan wird als gemischtwarenladen, banal und beliebig. mäkelä holt da mehr heraus, er schwelgt wie frisch verliebt, wenn die wiener wirtshausmusik durchklingt, er federt und zuckt in den stürmischen, geradezu aggressiven phasen und ja, er scheint jede und jeden einzelnen im orchester zu elektrisieren. auch wer schon länger zum inventar dieses orchesters gehört, wird sicht- und hörbar angesteckt von der explosiven energie des jungen finnen. wann hat man das schon gesehen, dass orchestermusiker mitten in einem hochkomplexen satz den dirigenten anstrahlen oder sich gegenseitig, von cello zu cello zum beispiel, mit begeisterten blicken befeuern? in seinem slimfit-anzug und mit den nach hinten gekämmten haaren erinnert der schlanke, wendige mäkelä – achtung, abteilung unfaire vergleiche – stark an den österreichischen kurz-kanzler sebastian kurz. die karriere des dirigenten mäkelä wird gewiss länger dauern als die des politikers kurz.

Samstag, 4. Juni 2022

MÜNCHEN: FINSTERNIS

auf lampedusa sagte ein fischer zu mir: „weisst du, was für fische wir hier neuerdings wieder haben? seebarsche.“ er zündete sich eine zigarette an und verfiel in ein tiefes schweigen. „und weisst du, warum die seebarsche zurückgekommen sind? weisst du, wovon sie sich ernähren? genau.“ – mit „schiffbruch vor lampedusa“ schrieb der sizilianer davide enia einen roman/monolog, der ins scheinwerferlicht rückt, was wir allzu gerne vergessen oder verdrängen. er klagt nicht an, er beschreibt: die flüchtlinge, tote und überlebende, die rettungstaucher, die hilfe leisten bis zur selbstaufgabe, und don vincenzo, der die toten ungeachtet ihrer konfession auf dem katholischen friedhof bestattet. enia nahm seinen vater mit auf diese reportagereise, einen pensionierten kardiologen, der sein herz nicht öffnen kann, ein feldversuch gewissermassen. unter dem titel „finsternis“ hat nora schlocker am münchner residenztheater jetzt eine bühnenfassung des romans inszeniert. der grossartige robert dölle ist davide enia: ganz sizilianer kocht er orangenmarmelade in seiner küche, setzt sich zwischendurch an seinen laptop, spricht den beklemmenden monolog, wendet seinen blick ab und zu ins publikum, auch mal mit tränen in den augen. nein, es darf einfach alles nicht wahr sein, ist immer wieder der reflex beim zuhören. „finsternis“ ist ein weckruf, sich seiner verantwortung wieder bewusst zu werden. so wie dölle den text vorträgt, die schilderungen der ertrinkenden, die annäherung an den verschlossenen vater, den kontakt zum sterbenden onkel, wird daraus ein starkes plädoyer für empathie. auf dem programmheft ist der titel des stücks so gedruckt, dass „stern“ als zentraler bestandteil des wortes „finsternis“ erkenntlich wird. was für ein wunderbares detail.