Samstag, 15. Dezember 2018
ZÜRICH: MARTHALERS 44 HARMONIES
nach
zwei stunden giesst einer in aller seelenruhe den wald aus notenständern, der
über die ganze spielfläche verteilt ist. vier junge cellistinnen spielen dazu das
adagietto aus gustav mahlers fünfter sinfonie. alle anderen legen sich in den
riesigen sandkasten auf der vorderbühne, machen es sich bequem und schlafen
ein. ist das jetzt die totale harmonie? die komposition „44 harmonies from
apartment house 1776“ von john cage hat es christoph marthaler und seinem
ensemble dermassen angetan, dass sie im schiffbau des zürcher schauspielhauses
gleich einen ganzen abend daraus basteln. ein abend, der für marthalersche
verhältnisse extrem unklamaukig daherkommt. natürlich geht es in anna viebrocks
hellblau gestrichenem pfarreisaal nicht ganz ohne die bespassung von
telefonkabinen oder einen grotesken pas de deux mit stapelbaren stühlen. doch
im zentrum steht immer die klangwelt von john cage, der den harmonien auf die
schliche kommen wollte, indem er in bekannten hymnen bestimmte tonhöhen
eliminierte und diese lücken wirken liess, poetische pausen. dieser von den
vier cellistinnen betörend schön gespielten rätselreise durch fehlende töne
mengt marthaler noch exkursionen in die welt der pilze bei, da cage geradezu ein
pilznarr war. ihn faszinierten die unbestimmtheit und die anarchische harmonie
ihres lebenslänglichen und grösstenteils unsichtbaren wachsens. die beiden
marthaler-oldies ueli jäggi und graham valentine nehmen auch diese kurve
philosophisch-elegant: „neuere untersuchungen zeigen, dass wir nur 25 prozent
von dem fühlen, was wir fühlen sollten.“ wir haben von diesem abend vielleicht
nur 25 prozent verstanden, aber deutlich mehr gefühlt. „44 harmonies…“ ist
marthaler für fortgeschrittene.
Montag, 10. Dezember 2018
MÜNCHEN: LUST DER TÄUSCHUNG
klar, wir lassen uns ganz gerne
täuschen. wie war das doch gleich, als wir das mittlerweile unvermeidliche
cheminéefeuer auf dem flachbildschirm im hotelzimmer das erste mal gewärtigten?
eben. genau so ging es unseren lieben vorfahren im 18.jahrhundert, als sich der
hübsch drappierte salatkopf auf dem reich gedeckten tisch der gastgeber als
deckelterrine aus porzellan entpuppte. optische täuschungen gab es schon immer,
künstler und designerinnen machten und machen sich einen spass aus dem spiel mit unseren
sinnen. und wir lernen dabei sogar etwas: wahrnehmung ist relativ. unter dem
titel „lust der täuschung“ zeigt die kunsthalle münchen einen höchst amüsanten
parcours durch die jahrtausende, „von antiker kunst bis zur virtual reality“.
das reicht von kleinen sujets wie gefälschten traueranzeigen bis zu ganzen
räumen, die über ihre wirklichen masse hinaus vergrössert werden durch
perspektivische malereien oder bildtapeten. was ist echt und was ist falsch,
was fakt und was fiktion? in zeiten von fake news ist dieser befund nicht mehr
so einfach zu erheben. immerhin bietet diese ausstellung viele anreize, sich
dies bewusster zu machen und die sinne zu schärfen. so kann es eine kritik der
herrschenden verhältnisse sein oder aber durchaus auch deren fortführung mit
anderen mitteln, wenn philipp messner in seinem exponat die überwachungskameras
am münchner hauptbahnhof mit 3d-masken überlistet, die er sich überstülpt. lust
der täuschung? die lage ist ernst.
Samstag, 1. Dezember 2018
MÜNCHEN: DAS LIED VON DER ERDE
„still ist mein herz und harret
seiner stunde.“ es ging gustav mahler nicht gut, als er „das lied von der erde“
komponierte: tod der vierjährigen tochter, verlust der stelle als direktor der
wiener hofoper nach einer antisemitischen hetzkampagne, diagnose einer schweren
herzkrankheit. die letzten dinge beschäftigten ihn wie nie zuvor und so
entstand, basierend auf chinesischen gedichten, ein liedzyklus voller herbst
und voller schatten, abschied und ende. mehr november geht nicht. „ist das
überhaupt zum aushalten? werden sich die menschen nicht darnach umbringen?“
soll mahler seinen freund bruno walter gefragt haben. die kammeroper münchen unter
der leitung von nabil shehata führt das romantisch-melancholische werk jetzt in
der allerheiligen-hofkirche der münchner residenz auf, ein konzertraum von
grandioser schlichtheit, nur neobyzantinische bögen und backsteinmauern, die
vom lichtdesigner wolfgang förster in schwere farben getaucht werden. alexander
krampe schrieb ein arrangement für ein 15köpfiges kammerorchester, das
erstaunlich gut funktioniert, weil sich die musikerinnen und musiker immer dem
gesamtklang, dem grossen atem verpflichtet fühlen und solistische ambitionen
vornehm zurückstellen. die mezzosopranistin okka von der damerau und der tenor
dean power, beide ensemblemitglieder der bayerischen staatsoper, tauchen tief
ein in mahlers gefühlswelt, mit impulsiver eleganz in den aufbrausenden
momenten zu beginn, zart und innig dann in den phasen der trauer über
vergangenes und vergängliches: „ich weine viel in meinen einsamkeiten. der
herbst in meinem herzen währt zu lange.“ mehr november geht nicht.
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