Freitag, 23. September 2022

SOLOTHURN: KAFKA IN FARBE

welche farbe fällt ihnen ein, wenn sie „kafka“ hören? genau! doch das theater biel solothurn spielt kafka jetzt nicht schwarz, nicht einmal grau, nein, es spielt „kafka in farbe“. hinter dem düsteren, grüblerischen, pessimistischen in seinem schmalen werk suchen max merker, aaron hitz, janna mohr und milva stark den anderen kafka, den es auch gab. zu beginn liegt er schwitzend und röchelnd auf seinem totenbett in einer wiener klinik. doch aus diesem bett purzelt fünf viertelstunden lang das pralle leben: der zu lachanfällen neigende kafka, der turnende, der tanzende, der schelmisch-melancholische kafka. alles haben sie in seinen erzählungen und briefen gefunden und daraus ein temporeiches pasticcio gemacht. viel slapstick, viele gags (von denen einige etwas gar oft wiederholt werden) – und immer der durchaus liebevolle umgang mit seinen texten. keine veralberung geschieht hier also, sondern eine erweiterung unserer wahrnehmung des mannes, den wir aufgrund des berühmten schwarz-weiss-porträts immer so ernst vor augen haben. „vorläufig stört mich alles“, schreibt er einmal an eine freundin. kein wunder: eine riesige banane rennt durch den mit – natürlich – mordsmässigen käfern tapezierten raum, worauf sich die vier kafkas auf der bühne in einen streit steigern, ob´s denn zu kafkas zeiten schon bananen gab. eine wahrlich kafkaeske szene, möchte man denken, doch dann kommt prompt die ultimative abrechnung mit dem inflationären gebrauch, der permanenten überstrapazierung des begriffs „kafkaesk“. in einer literaturclub-parodie brüllen sie sich das wort vorwurfsvoll um die ohren, nur ein überkandidelter professor bewahrt die fassung und bemerkt seelenruhig, ihm persönlich scheine dann doch „kafkaös“ treffender. brausender applaus bei der première in solothurn.  

Samstag, 17. September 2022

ZÜRICH: BORDER

zürich! nur wer von aussen kommt, stellt noch fragen. zürich? maja (maja beckmann) ist deutsche und will weg von zürich, weil sie hier keinen anschluss gefunden hat und sich einsam fühlt. tina (wiebke mollenhauer) ist deutsche und ist nach zürich gezogen, weil sie gerne allein ist. zürich, die stadt der einsamen. beziehungen? kommunikation? schwierig! basierend auf dem film „gräns“ (border, 2018) von ali abbasi entwickelt christopher rüping im schiffbau des zürcher schauspielhauses mit angenehmer ruhe und teils anstrengender redundanz ein modernes märchen: eine einsamkeits-saga made in zurich. maja wundert sich, woher ihre nachbarin tina, die als zollbeamtin am flughafen arbeitet, ihren instinkt für schmuggler, gauner, schräge figuren und elefantenstosszähne aus tansania hat. die antwort: tina liebt den nahen wald, beobachtet dort spuren, tiere, pflanzen, stimmungen, das schärft die sinne. dann steigt sie mit einem nackten, tendenziell männlichen wesen (benjamin lillie) in einen teich, und der outet sie: tina ist eine trollin, ein unberechenbares fabelwesen. hat also tina majas baby geklaut und in den wald entführt, der im schiffbau eine magische landschaft aus vertikalen brettern und horizontalen holzschnitzelbeeten, aus licht und schatten ist (bühnenbild peter baur)? die drei auf der riesigen bühne verstehen es meisterhaft, die grenzen zwischen realität und fiktion zu verwischen. ein baby verschwindet, das es vielleicht gar nie gab….. und dafür tauchen auf dem helvetiaplatz plötzlich 1000 rehe auf….. ist die natur sehnsucht für uns stadtmenschen? oder flucht? oder fluch? jede und jeder sieht und hört dieses märchen anders. das macht die einen stark und die anderen einsam.

Montag, 12. September 2022

STANS: TAG FÜR TAG

silva-bücher – da kommen gleich erinnerungen an die kindheit hoch. silva-bücher – die konnte man mit bons erwerben, die man von schokolade- und waschmittel- und müesliverpackungen ausschneiden und einsenden musste; dann gab’s einen grossformatigen band und, separat in einem couvert, die bilder dazu zum einkleben. silva-bücher – das waren reisen in bedeutende museen und in ferne länder, lange bevor’s tv-doks und „geo“ und instagram gab. die zürcher künstlerin corinne güdemann erinnert sich vor allem an die enthauptung von märtyrern und nackte, aufgespiesste leiber, die durch eine schlucht auf ein dornengestrüpp geworfen wurden: die frührenaissance aus louvre und prado als horror für ein kleines mädchen. als ihre mutter jahrzehnte später bei einem umzug diese silva-bücher entsorgte, löste güdemann die reproduktionen heraus und kombinierte sie mit fotos, die ihr als vorlage für ihre gemalten bilder dienten. so entstanden ganz wunderliche collagen, von denen – nebst anderen werken der künstlerin – zwölf jetzt als grosse installation in der galerie stans zu sehen sind. aus bestehendem bildmaterial hat sich corinne güdemann ihre welt neu zusammengesetzt, individuell, lustvoll, absurd: kardinäle treffen auf marmorstatuen, theaterfiguren auf uniformierte, madonnen auf männliche models. güdemann sucht „tag für tag“ (so der titel der ausstellung) das poetische potential in der alltäglichen wahrnehmung: „unerwartete schönheit, eine berührende stimmung, aber auch verstörendes und irritierendes.“ das eintauchen in diese bilderwelten ist spass und anregung in einem. eine hinreissende entdeckungsreise – wie einst an den sonntagnachmittagen mit den silva-büchern.  

Donnerstag, 8. September 2022

LEIPZIG: KIEWER KINDERTRÄUME

kinder leben gerne in traumwelten. träume, geschichten, phantasien, wünsche..... was wünschen sich kinder? und was wünschen sich kinder in kiew? der fotograf taras gegelskiy (*1980 in kiew) hat kinder aus seiner stadt gebeten, ihre träume und wünsche mit kreide auf einer schiefertafel zu skizzieren, und sie dann damit abgelichtet. seine porträts sind jetzt im museum der bildenden künste in leipzig zu sehen, im rahmen des projekts ЗУСТРІЧ ("treff/raum für geflüchtete kulturarbeiter*innen"). man sieht zwölf verschiedene gesichter, fröhliche und fragende, und die zwölf kreideskizzen ihrer wünsche. dass der papa aus dem krieg zurückkommt? dass der bombenalarm aufhört? dass sie die oma endlich wieder mal besuchen können? nein. die kiewer kinder wünschen sich rollerskates, eine insel mit palmen, eine geburtstagsparty mit toller mega-torte, ein fahrrad, die goldmedaille im judo. sie wünschen sich das, was sich kinder überall wünschen. eine imperative botschaft, die die kleinen kiewerinnen und kiewer da aussenden: sie möchten so leben wie die kinder anderswo. nichts mehr als dies. nur einer hat mit kreide ein einfaches haus gekritzelt. er braucht ein dach. in der ukraine herrscht krieg. die zukunft dieser kinder ist in gefahr.