Freitag, 30. November 2018

MÜNCHEN: ENDSPIEL

nur ein stuhl auf der grossen schwarzen bühne, ascheregen vom himmel, endzeit total. der blinde hamm hängt geschichten aus vergangenen zeiten nach, sein diener clov versucht einen floh aus der unterhose zu fischen. der eine will sein beruhigungsmittel, der andere guckt von der nicht vorhandenen leiter in die ferne. der eine brüllt seine aus der versenkung auftauchenden greisen eltern an, der andere spielt hund. der eine wartet auf das ende, der andere auch. anne lenk inszeniert das „endspiel“ von samuel beckett am residenztheater in münchen, sie liebt diese sprache, sie liebt einfache bilder, sie liebt diese figuren. es hat etwas rührendes, wie sich oliver nägele (61) als hamm und franz pätzold (29) als clov umspielen und die absurden dialoge wie ein ping-pong abschnurren. dass nägele immer wieder in einen exaltiert-schallenden staatsschauspieler-ton verfällt, macht die sache für den lakonischen pätzold gewiss nicht einfacher, aber bestimmt reizvoller. und er hält das durch, ein leiser, ein poetischer clown. sie kommen von einander nicht los, der eine ist auf hilfe angewiesen, der andere auf einen job („ergänzungs-krüppel“ nennt das georg hensels schauspielführer). also spielen sie sich dem ende entgegen, gemeinsam, herr und knecht vereint in ihrer perspektivlosigkeit. nur noch spielen hilft, wenn die menschen angesichts der katastrophen ohne antworten auskommen müssen. „ich möchte, dass in diesem stück viel gelacht wird“, sagte beckett einmal, als er selber inszenierte. er meinte die schauspieler, nicht das publikum. dieses entlässt anne lenk wie sie es begrüsste, im ascheregen.

Sonntag, 18. November 2018

MONTRICHER: DER FUCHS, DER RUSSE, DIE LITERATUR

en bois désert lautet die adresse, waldige wüste, wüster wald. irgendwo am rand der weiten wälder der waadt, wo die schweizer armee einsam und optimistisch den endkampf gegen die russen trainiert, liegt montricher. schade, dass man das in der deutschschweiz nicht kennt, denn am oberen dorfende, also dort, wo sich der fuchs und der sich anschleichende russe gute nacht sagen, en bois désert, befindet sich seit 2013 die maison de l’écriture der fondation jan michalski. und das ist keine maison, die das verlegerpaar vera und jan michalski hier hinzaubern liess, sondern ein riesiger palast, ganz der literatur und ihren liebhabern gewidmet. man erinnert sich sofort an den pavillon du mariage an der expo.02 in yverdon: ein dominantes, von vielen schlanken säulen getragenes flachdach, hier mit riesigen emmentaler-löchern. darunter platzierten die architekten vincent mangeat und pierre wahlen – mit viel kaltem sichtbeton aussen und viel warmem holz innen – ein auditorium, einen ausstellungssaal (wo man im moment lustvoll und ausführlich der graphic novel huldigt) und eine fünfstöckige öffentliche bibliothek, mit einem umwerfend reichen angebot, mit einladenden sitzecken und arbeitsnischen, die den blick bis in die savoyer alpen schweifen lassen und bestimmt die eine und den anderen immer wieder vom arbeiten abhalten. zusätzlich gibt’s unter dem grossen dach sieben frei hängende hütten, von unterschiedlichen architekten entworfen, die als residenz-appartements für autorinnen und autoren gedacht sind. das ganze ensemble wirkt trotz seiner grösse ausgesprochen verspielt und einladend. ein ort der ruhe, ein ort zum schmökern, ein ort der inspiration. mitten in der wüste.

Montag, 12. November 2018

VENEZIA: FREESPACE

„freespace“ lautet das motto der architekturbiennale in venedig. freiraum, freier raum, raum frei machen? was ist gemeint? alles. und noch mehr. die kuratorinnen yvonne farrell und shelley mcnamara denken in ihrem manifest auch an menschlichkeit und grosszügige möglichkeiten. der schweizer pavillon beim eingang ist ein idealer einstieg in die thematik: eine typische leere, weisse neubauwohnung, bei der aber sämtliche proportionen aus den fugen geraten, mal viel zu gross, mal viel zu klein, damit die standards hinterfragt und neu gedacht werden. genau dies zeichnet diese biennale aus: dass gesellschaftspolitische postulate durchaus spielerisch umgesetzt werden. die iren verweisen in ihrem pavillon auf das kommunikative potenzial von marktplätzen; tschechen und slowaken hoffen, dass auch in unesco-weltkulturerbe-städten wieder normales leben möglich wird; die australier füllen ihren raum mit prächtig dampfendem grünzeug; die letten zeigen selbstkritisch, was im wohnungsbau alles schief laufen kann; die russen entdecken ausgediente gleisfelder als neue stadtareale; die briten haben ihren pavillon leer geräumt und laden dafür zum tee aufs sonnendeck, pause oder neuanfang? der marathon durch diese biennale ist ein ausgesprochen sinnliches vergnügen, nicht nur für architektinnen und architekten. viele installationen könnten auch teil der kunstbiennale sein. und wie dort ist auch hier oft das einfache das bestechende: die albaner haben ein paar alte farbige holztüren in ihren raum gestellt, dazwischen und darüber baumeln hunderte von bildern mit ebenso farbigen alltagsszenen. gebt den leuten ihre freiräume, lautet die botschaft, sie werden sie kreativ zu nutzen wissen wie die albaner nach dem ende der diktatur. 

Samstag, 3. November 2018

LUZERN: ROMÉO ET JULIETTE

was für ein glücksfall für das luzerner theater, was für ein traumpaar: regula mühlemann und diego silva sind „roméo et juliette“. die international durchgestartete sopranistin aus luzern und der hier regelmässig gastierende mexikanische tenor geben ihre rollendebuts in gounods oper. beide jung, beide bildhübsch, beide mit facettenreichen stimmen. eine idealere besetzung kann man sich für die berühmteste und traurigste liebesgeschichte nicht wünschen. so zart, so glaubwürdig verkörpern sie diese tastende erste liebe zweier jugendlicher aus zwei in tiefstem hass verfeindeten familien. sie singen küssend, sie singen sich umgarnend, sie singen liegend, sie singen sterbend – und ihre seelen, das berührt zutiefst, singen mit. sie tun dies in einem grottenhässlichen bühnenbild von aurélie maestre, einem klaustrophobischen raum aus falschem beton und falschem marmor, museum und krematorium gleichermassen. die ahnen, wir ahnen es. regisseur vincent huguet will illustrieren, wie einengend und tödlich die zwänge und zwiste der älteren generation für die jüngere sein können. ein plausibler ansatz, der allerdings durch klamauk von präpotenten jungs und karikaturen von debilen senioren zunichte gemacht wird. kommt dazu, dass clemens heil und das luzerner sinfonieorchester den hochemotionalen gounod-klang selten finden, vieles gerät zu grell, zu forsch, und die ärgerlich langen umbaupausen sind dem musikalischen flow auch nicht eben zuträglich. was das ereignis der saison hätte werden können, endet als durchaus konventionelle, mitunter verunglückte veranstaltung. trotzdem gab’s bei der première eine standing ovation, für das tolle, junge sängerensemble immerhin absolut verdient.