Montag, 25. Mai 2020

CHUR: ERICA PEDRETTI, FREMD GENUG

im februar wurde sie 90 jahre alt, die schriftstellerin und bildende künstlerin erica pedretti, die in nordmähren geboren wurde und heute in celerina lebt. das bündner kunstmuseum feiert ihren geburtstag mit einem grossen, repräsentativen überblick über ihr schaffen als objektkünstlerin und hat sich dafür die hellen, grosszügigen räume im untergeschoss des neubaus vom architekten lukas furrer ganz neu inszenieren lassen: er hat dunkle balken schräg in die räume montiert und moderne, schlichte baldachine aufgestellt, die es ermöglichen, pedrettis filigrane, luftige wesen überall im raum schweben zu lassen. aus draht und gips, ton und stoff, karton und schilf hat sie vögel und vogelskelette, fliegende fische und lädierte engel gefertigt. flügel in allen variationen ziehen sich durch dieses werk, flügel, die licht reflektieren und schatten geben, flügel, die beschwingen und beschützen, flügel, die forttragen. daneben liegt auf langen, niederen holztischen das zeichnerische werk pedrettis, mal abstrakt, mal konkret, und immer genauso verspielt wie die luftdinger überall im raum. „fremd genug“ lautet der titel der ausstellung, in anlehnung an eines ihrer bücher. fremd genug? ein rätsel. verfremdet die künstlerin ihre eigenen ideen, um uns anders sehen zu lassen? oder ist sie sich selber mittlerweile fremd genug geworden nach den vielen und ganz unterschiedlichen stationen in ihrem langen leben? man verlässt diese ausstellung nicht grübelnd, nicht schwer, sondern heiter, beschwingt, optimistisch gestimmt, mit lust auf fremdes, neues.  


Samstag, 23. Mai 2020

SILS MARIA: ZEIT OHNE ZIEL

hier sass ich, wartend, wartend, - doch auf nichts,
jenseits von gut und böse, bald des lichts
geniessend, bald des schattens, ganz nur spiel,
ganz see, ganz mittag, ganz zeit ohne ziel.
da, plötzlich, freundin ! wurde eins zu zwei -
- und zarathustra ging an mir vorbei ...
nietzsche hat's uns vorgemacht.

Mittwoch, 20. Mai 2020

MÜNCHEN: GEGEN DIE THEATER-DEPRESSION

„wir lassen die wirklichkeit nicht in ruhe, sie lässt uns ja auch nicht in ruhe.“  ein programmatischer satz. er steht über der ersten spielzeit, die barbara mundel und ihr team für die münchner kammerspiele planen. sie tun einem schon irgendwie leid. jetzt, ausgerechnet jetzt starten müssen, mit angezogener handbremse, in einem theater, das normalerweise ganz, ganz vorne fährt. doch sie ziehen es durch, sie geben nicht auf, sie sind voll motiviert, sie stellen sich der wirklichkeit. voller elan, wie die spielplan-präsentation gezeigt hat, geradezu ansteckend und also ideal gegen die theater-depression der vergangenen wochen. man darf sich freuen, weil das mundel-team allen corona-unwägbarkeiten zum trotz schon jetzt volle 26 produktionen im kopf und im köcher hat. man darf sich freuen, weil die kammerspiele noch mehr als bisher zum labor für zukünftige formen des zusammenlebens werden wollen. man darf sich freuen, weil vermehrt frauen dem theater ihren stempel aufdrücken werden. man darf sich freuen, weil das ensemble grösser und heterogener und diverser wird. man darf sich freuen, weil 12 ganz tolle leute aus dem lilienthal-ensemble auch künftig dazugehören. man darf sich freuen auf provokation und inspiration, auf ärger und lust. „die wirklichkeit nicht in ruhe lassen“ – was für ein versprechen, was für spannende zeiten.

Sonntag, 10. Mai 2020

LUZERN: THEATER FEHLT MIR

theater fehlt mir.

seit dem start dieses blogs bis zur corona-pandemie habe ich mir 288 inszenierungen auf 72 bühnen in 29 städten angeschaut, einige davon mehrmals.

theater ist action, ist aktuell, ambitioniert, amüsant, anregend, anrührend, ärgerlich, beglückend, bestechend, brillant, bunt, dialektisch, emotional, energiegeladen, engagiert, erfrischend, erotisch, exhibitionistisch, existentiell, faszinierend, fiebernd, frech, furios, grotesk, hartnäckig, heiter, herzzerreissend, hochkonzentriert, intellektuell, intim, kämpferisch, knallhart, kompliziert, krass, kreativ, kurzweilig, mehrstimmig, moralisch, öffentlich, poetisch, politisch, pompös, präsent, provozierend, radikal, rastlos, schwermütig, schwierig, subtil, suggestiv, überbordend, überladen, universell, verspielt, verstörend, vieldeutig, waghalsig, wild, witzig, zeitlos.

„wenn theater schon nicht als systemrelevant eingestuft wird, dann doch bitte als demokratierelevant“, fordert yvonne büdenhölzer, die leiterin des berliner theatertreffens.

theater hinterfragt. theater nervt. theater verunsichert. theater verändert.

theater ist live.

theater fehlt mir.