Montag, 21. Oktober 2019

WIEN: DIE EDDA

die riesige bühne des wiener burgtheaters ist verschneit und vernebelt. eine warme frauenstimme füllt den kalten raum, elma stefania agustsdottir rezitiert auf isländisch den beginn des edda-mythos, die weissagung der seherin über das ende der welt. dorothee hartinger spricht die deutsche übersetzung, die beiden stimmen vermischen sich, man versteht nur fetzen – und immer wieder die frage: „wisst ihr, was das bedeutet?“ ein unspektakulärer start in einen spektakulären abend. denn „die edda“ bedeutet alles. alles, was für die menschheit wichtig ist. und regisseur thorleifur örn arnarsson und autor mikael torfason zeigen auch (fast) alles: in der verschneiten landschaft entsteht ein jahrmarkt voller götter- und heldengeschichten, mit nornen und stofftieren und einem pianisten, alles bruchstückhaft, nichts linear, eine reizvolle herausforderung für uns linear denkenden menschen. dietmar könig als witziger erklärbär hilft uns immer wieder auf die sprünge. anhand der alten sagen verhandelt das fulminante ensemble die grossen fragen: wo ist mein platz in dieser welt? was hat das mit mir zu tun, wenn die einen verzweifelt einen hammer suchen (krieg!) und die anderen ein goldenes haar (wohlstand!) und wieder andere eine mauer bauen, um riesen abzuhalten? über allem hängt die weltesche yggdrasil inmitten von 156 schwebenden neonröhren, ein zauberhaftes bild. dieser abend ist poetisch, politisch, philosophisch. den roten faden im zweiten teil bildet die geschichte von co-autor torfason und seinem vater, der als zeuge jehovas den weltuntergang erwartete: eine geschichte über verletzte und verheilte gefühle, eine geschichte voller empathie, die das grosse ganze und das individuelle verwebt. sie wird immer wieder unterbrochen, durch rasende musik, durch tanzende menschen, durch abstecher ins 13. jahrhundert. chaotisch wie die welt. faszinierend wie die welt.

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