Freitag, 31. Dezember 2021

BERN: DAS RHEINGOLD

das stadttheater bern galt bis anhin nicht gerade als top-adresse für wagner-pilger. das könnte sich ändern. dass die berner für den vierteiligen „ring des nibelungen“ die polnische starregisseurin ewelina marciniak verpflichteten, ist ein coup. die dame kommt vom schauspiel, doch schon mit dem „rheingold“, der pilotfolge quasi, schafft sie auf anhieb, woran andere opern-debutanten scheitern: ihre szenischen ideen atmen mit der musik; melodien, bilder und assoziationen fliessen kongruent. kleiner einschub: der bläsersektion des berner symphonieorchesters muss chefdirigent nicholas carter zwingend noch ein paar zusatzproben verordnen. aber sonst: eine wahre freude, ein hochkarätiges ensemble, ein kluges konzept. wagner hat im „ring“ seine kapitalismuskritik mit mythen verkleidet, marciniak geht schnurstracks aufs ganze und macht aus der jagd auf den magischen ring, der herrschaft und reichtum verspricht und doch nur fluch in sich trägt, wirtschaftskrimi und politdrama in einem. sie tut das mit schwung und augenzwinkern. wotan im pepita-blazer, alberich als emporkömmling im bodenlangen pelzmantel, die riesen fafner und fasolt als schmierige türsteher-typen, sie alle opfern der geldgier auch noch den kleinsten rest von menschlichkeit und liebe. tänzer verdeutlichen das üble intrigenspiel. anders die frauen. die wertet marciniak auf, macht aus den rheintöchtern, aus wotans frau fricka und aus urmutter erda emanzipierte botschafterinnen für mehr harmonie und mehr empathie. schön wär’s. doch da singt loge schon den cliffhanger zu den nächsten drei folgen: „ihrem ende eilen sie zu, die so stark im bestehen sich wähnen.“ wagner hat mit dem „ring“, so sagt man wohl, eine ziemlich geile serie geschrieben. ja, frau marciniak, wir sehen uns bei folge 2: „die walküre".

Mittwoch, 29. Dezember 2021

BERLIN: NECATI UND DIE WELT

die beste kurz-biografie seit langem, entdeckt auf der homepage des zürcher schauspielhauses, über den berliner theatermann necati öziri: „war stipendiat der heinrich-böll-stiftung und unterrichtete an der ruhr-universität bochum formale logik, bis er feststellte, dass logik die welt nicht besonders gut beschreibt.“ – dazu jetzt als soundtrack die kantate von johann sebastian bach, bwv 52: „falsche welt, dir trau ich nicht.“ 

Dienstag, 28. Dezember 2021

LUGANO: ROVINE BY NICOLAS PARTY

rovine. ruinen. die bilder von arnold böcklin haben den 41jährigen lausanner künstler nicolas party immer wieder fasziniert: steingebilde, mondschein, schatten, der verfall allgegenwärtig. für seine grosse, mit „rovine“ betitelte einzelausstellung im museo d’arte della svizzera italiana im lac in lugano hat sich party nun definitiv von böcklin inspirieren lassen und vier riesige, raumhohe ruinenmonster auf die wände gemalt („die arbeit auf einer grossen fläche ist wie ein tanz“, sagt er im video dazu). es sind neue interpretationen der werke aus dem 19. jahrhundert, bröckelnde villen, zerstörte kapellen, verschattete pinien, kein mensch, kein vogel, kein leben, alles in hartem schwarz und weiss, präzis im detail, wuchtig im auftritt, beinahe hypnotisch in ihrer wirkung. dass diese magischen metaphern für die vergänglichkeit nach dem ende der ausstellung im januar zerstört werden, ist – klar – teil des konzepts. doch wie wissen wir aus schillers „tell“: „neues leben blüht aus den ruinen.“ das ist auch partys motivation. in die mitte der monumentalen wandgemälde hängt er jeweils das bild einer körperpartie in feinstem pastell, eine brust, ein schwangerer bauch, ein muskulöser rücken. und in den nebenräumen tauchen grellbunte porträts auf und superknallige stilleben. die energie, die dem verfall folgen kann, die ungeahnten möglichkeiten, die sich auftun: selten wurden sie so kompakt und so sinnlich präsentiert. ruinen. neues leben. kein schlechtes thema zum jahreswechsel. ruinen. neues leben.

Montag, 27. Dezember 2021

MANNHEIM: MUTTER!

frauen, jeweils eine stunde, einen tag und eine woche nach der geburt ihres kindes: glücklich, müde, kämpferisch, erschöpft, entstellt, euphorisch, verzweifelt, eine zeigt der fotografin den stinkefinger. die bildserie der holländerin rineke dijkstra zeigt schonungslos die ersten momente des mutterseins. und in der begehbaren installation von laure prouvost – ein abgedunkelter raum mit saugnäpfen und brüsten aus glas und röhren und schläuchen und glucksenden geräuschen – fühlt man sich selber in den mutterleib zurückversetzt, gar nicht unangenehm, by the way. über 150 exponate umfasst die grosse schau zum thema „mutter!“ in der kunsthalle mannheim. in der lichtdurchfluteten zentralen halle dieses tollen museums können besucherinnen und besucher ihre eigenen mutter-bilder und -erinnerungen auf zetteln an die wand pinnen. viele liebesbekundungen hängen da, aber auch dies: „du warst so böse zu uns.“ madonna und medea - die ausstellung umfasst das ganze spektrum, vom gebären bis zum sterben, von der liebevollen, fürsorglichen mutter bis zur widerwilligen, sie zeigt von egon schiele bis yoko ono und von rené magritte bis tracey emin, wie sich der blick kunstschaffender auf mütter verändert hat, sie dokumentiert so auch den gesellschaftlichen wandel, die veränderung der mutterrolle durch den kampf der frauenbewegung etwa. gegen ende des rundgangs hängen sechs fotografien mit sechs schwarzen, nein, nicht müttern, sondern männern, die ihre kinder in tüchern durch die strassen tragen, ebenso kunst- wie liebevoll eingewickelt.

Donnerstag, 23. Dezember 2021

FRANKFURT: NORMA

bevor norma in einer heiligen zeremonie die göttin bittet, die kampfeswut ihrer leute zu besänftigen, schreitet sie deren reihen ab. den einen blickt die anführerin tief in die augen, andere umarmt sie, einigen steckt sie einen mistelzweig zu, bevor sie dann das „casta diva“ anstimmt. ich brauche euch im widerstand gegen die besatzungsmacht, heisst das, und ihr braucht mich, wir schaffen das nur gemeinsam. dass norma mit dem chef der besatzer zwei kinder hat, weiss niemand, und dass ihre gefährtin adalgisa den selben mann liebt, weiss auch norma lange nicht. es ist dieser widerspruch zwischen öffentlicher funktion und privatem glück, der vincenzo bellini 1831 zu einem ebenso ekstatischen wie berührenden melodienrausch inspirierte, hinreissende musik. regisseur christof loy ist ein meister sorgfältigster personenführung und mit dieser „norma“ gelingt ihm an der oper frankfurt, unterstützt von erik nielsen am dirigentenpult, eine perfekte psychologische studie: karger raum, schlichte kostüme – was hier zählt, ist nicht opernpomp, sondern das zwischenmenschliche, das unterbewusste, das komplexe. jedes detail ist gearbeitet, jeder blick, jede geste lädt diese dreiecksbeziehung auf bis zur explosion. ambur braid als norma verfügt nicht nur über einen hochdramatischen sopran, sie ist auch eine phänomenale darstellerin: wenn sie sich gemeinsam mit adalgisa (bianca andrew, kongenial) an die glücklichen tage ihrer liebe erinnert, wenn sie aus rache am ex (stefano la colla, solider belcanto) ihre beiden kinder umbringen will, wenn sie zum finalen kampf aufruft, kommt zur musikalischen immer auch eine physische dimension, oft sind es fieberkrämpfe, die ihren körper durchzucken. diese frau ist nahe am wahnsinn gebaut. ist es das eingeständnis einer schuld, wenn norma sich schliesslich für den scheiterhaufen entscheidet, oder ist es tiefstes unglück? am ende steht ein fragezeichen, kein ausrufezeichen. besser kann oper nicht sein. anregend, packend, sensationell.

Sonntag, 19. Dezember 2021

NIEDERRICKENBACH: ALBIN BRUN TRIO

eine kleine frau verschwindet beinahe hinter ihrem grossen akkordeon und drei männer geraten ins schaufelrad eines dampfschiffs und ein rabenschwarzes pferd zieht ziellos einen leeren schlitten durch eine vollmondnacht und eine kecke pariserin führt ihr rosa seidenkleid auf der terrasse eines luftkurorts spazieren und ein bassist zupft versonnen an seinem instrument und schmunzelt ihm hin und wieder verschwörerisch zu und ein paar freche mädchen lesen äpfel vom boden auf und machen aus dem fallobst wurfobst und ein mann bläst mit inbrunst seine ganze lunge und beinahe auch noch seine augen in sein saxophon hinein und eine zahnradbahn rast völlig entfesselt den berg hoch und wunderliche sagengestalten trippeln leichtfüssig durch eine unwegsame höhle und ein komisches kamel bespasst touristinnen in einem ägyptischen fake-dorf und und und und und dann kündigt der mann mit der hyperaktiven lunge und den hyperaktiven augen das nächste stück an, es heisst „jetzt aber“. – das alles sieht und/oder hört und/oder phantasiert man, wenn das albin brun trio in der kirche niederrickenbach aufspielt. albin brun (sopransaxophon und schwyzerörgeli), patricia draeger (akkordeon) und claudio strebel (kontrabass) jonglieren aufs vergnüglichste mit stilen und rhythmen, wandern von der volksmusik zum jazz und wieder zurück, mal laut und mal lyrisch, fidel und funny. fortsetzung folgt: „a-horn“ heisst die sympathische konzertreihe in niederrickenbach, die ein paar zugezogene um thomas buchmann aufgegleist haben und die eine art booster sein will für das verschlafene klosterdorf. jetzt aber. 

Freitag, 17. Dezember 2021

MÜNCHEN: FACING THE BALKANS

im hintergrund eine tankstelle mit nigelnagelneuen mercedes-kleinbussen, im vordergrund schiebt ein junger mann ein bis auf die knochen abgemagertes pferd vor sein fuhrwerk: luxus und armut, tradition und moderne. dieses bild ist eines von fast hunderten in der ausstellung „facing the balkans“ in der bayerischen staatsbibliothek in münchen. harald schmitt, früher mehr als 30 jahre lang fotoreporter für den „stern“, ist mit seiner frau fünf mal durch die elf länder zwischen adria und schwarzem meer gereist, um seine eigenen balkan-bilder und -vorurteile zu hinterfragen. entstanden sind faszinierende aufnahmen, die ein höchst vielschichtiges und differenziertes panorama dieser region liefern, die in den vergangenen 30 jahren immer wieder heftig durchgeschüttelt wurde: krieg, religion, politik, tradition, migration, aufbruch, tourismus. man sieht wäschestücke, die zum trocknen am stacheldraht hängen. man sieht ein von der albanischen regierung konfisziertes spionageflugzeug, das als mahnmal über der stadt gjirokastra thront und rostet. man sieht menschen, die es sich für viel geld in einem high-end-slow-food-restaurant gut gehen lassen. man sieht einen jungen, der ziegen hütet und wie durch den betrachter hindurch nachdenklich in seine zukunft blickt. man sieht den eingang zu einem 75 kilometer langen stollen in moldawien, von dem 40 kilometer als weinkeller genutzt werden. man sieht und staunt immer wieder und überlegt und teilt die erfahrungen von harald schmitt: das spektrum ist enorm, balkan ist nicht einfach balkan.

Sonntag, 12. Dezember 2021

LUZERN: INGLIN 2021

und bereits wieder zentralschweizer literatur… „was macht den kerl so interessant, dass er nicht verschwindet?“ fragte peter von matt einmal. der kerl war der schwyzer meinrad inglin, der als realschüler mit 14 beschloss, schriftsteller zu werden, ein leben lang fast ausschliesslich und hart daran arbeitete („mir rutscht nur wenig so in die feder, wie ich es endgültig gesagt haben möchte“) und zu dessen 50. todestag jetzt eine musikalisch umrahmte lesung durch die gegend tourt: „inglin 2021 – der unbekannte bekannte“. man kennt seine romane dem titel nach, gelesen haben sie die wenigsten. es sei denn, man habe zum beispiel – wie ich – als gymnasiast für den deutschunterricht einen vortrag zu inglins „urwang“ verfasst (oder verfassen müssen?), den 1954 erschienenen ersten schweizer öko-roman, oder als junger radio-redaktor – wie abermals ich - eine sendung zu seinem 100. geburtstag 1993. viele, die ihn nicht gelesen haben, halten inglin für trocken und lassen ihn beiseite. mit ihrer lesung von erzählungen und gedichten beweisen die schauspieler sigi arnold, andri schenardi, karin wirthner, peter zimmermann und die cellistin fatima dunn jetzt höchst abwechslungsreich und kurzweilig, dass die vorurteile nicht stimmen, dass meinrad inglin farbigste figuren zu zeichnen vermochte und die humorfreie zone durchaus immer wieder verliess. im „begräbnis eines schirmflickers“ etwa, wo die behörden zweier nachbargemeinden einen erfrorenen armen schlucker über die verschneite grenze heimlich hin und her schieben, um sich nicht um ihn kümmern zu müssen – bis in seinem kittel plötzlich ein couvert mit einem testament auftaucht. das ist satire und präziseste beobachtung liederlicher lokalpolitiker. das macht den kerl so interessant, peter von matt gab sich die antwort selber: „ein eminent sinnlicher, plastisch schildernder autor.“

Donnerstag, 9. Dezember 2021

STANS: KÖNIG LEAR IM STÄDERRIED

„unser knabe“ heisst der protagonist in jakob wyrschs erzählung „könig lear im städerried“. unser knabe ist wyrsch höchstpersönlich, der autor als jüngling. als grossvater schrieb er 1960 nieder, wie er, nicht mehr kind und noch nicht mann, zu beginn des vergangenen jahrhunderts mit zug und dampfschiff von stans zur familienweihnacht nach sarnen fuhr und auf dieser reise, vor allem bei einem unplanmässig langen aufenthalt in alpnachstad, die reclam-ausgabe von shakespeares „könig lear“ verschlang, buchstäblich hineingerissen wurde in all diese zweifel an der gültigkeit der ordnung, den lear dann plötzlich auch im städerried bei der aa-mündung sah und nachts als schatten in der einsamen schlafkammer in sarnen. realität und phantasie begannen sich im kopf des jungen erst zu befeuern, dann allmählich zu verschmelzen. „könig lear im städerried“ ist eine menschlich anrührende und sprachlich hinreissende schilderung, heute würde man von einer coming-of-age-geschichte sprechen. der stanser jakob wyrsch (1892-1980) war psychiater, international bekannter schizophrenieforscher, oberarzt in der waldau, direktor in st.urban und der erste professor für gerichtspsychiatrie an der universität bern. er kannte die menschen und er konnte schreiben. brigitt flüeler und buschi luginbühl haben es sich zur aufgabe gemacht, diese verborgenen oder vergessenen literarischen schätze jetzt wieder zu entdecken. ein glück. dieser lear ist eine trouvaille, als text und - jetzt mit einem schauspieler, einer sängerin, einer pianistin und einem cellisten im culinarium alpinum in stans dargeboten – eben auch als performance der wechselnden wahrnehmungen. wie heisst es bei lear passend: „mein herz beginnt zu schwärmen.“

Donnerstag, 2. Dezember 2021

MÜNCHEN: HEIDI BUCHERS METAMORPHOSEN

wie verdreckte nasse leintücher hängen heidi buchers skulpturen in den grossen sälen im münchner haus der kunst. gäbe es zugluft, würden sie vielleicht tanzen. doch der erste blick täuscht. das sind keine tücher, das sind riesige und schwere latex-gebilde, beim genaueren hinsehen entdeckt man türschwellen, parkettmuster, fensterrähmen, holzmaserungen. ganze räume schweben in der luft. heidi bucher, die 1926 in winterthur geboren wurde und 1993 in brunnen starb, übergoss ihre vergangenheit mit flüssigem kautschuk, zum beispiel das „herrenzimmer“ in ihrem elternhaus, das den männern der familie vorbehalten war. dann löste sie diese kautschukflächen mit enormer kraftanstrengung von wänden und böden ab, eine häutung, eine emanzipation vom häuslichen patriarchat. in den begleitenden filmen, die die künstlerin bei der arbeit zeigen, scheint es oft, als würde sie sich in diese abgelösten flächen einwickeln wie in einen viel zu grossen mantel. dann wieder schiebt sie die ungetüme energisch von sich. zunehmend machte sie sich mit latex auch an öffentlichen orten zu schaffen, im grande albergo brissago etwa, wo thomas mann und kurt tucholsky gegen den faschismus anschrieben und das später zu einem interniertenheim wurde und dann verlotterte. heidi bucher wollte raum schaffen für „das verdrängte, vernachlässigte, verschwendete, verpasste, versunkene, verflachte, verödete, verkehrte, verwässerte, vergessene, verfolgte, verwundete“. so werden ihre architekturhäutungen zu einem reinigenden akt. für sie. und für die betrachterin und den betrachter zu einer spektakulären einladung, eigene erlebnisse und emotionen aus der vergangenheit abzulösen, diese befreiungsprozesse aktiv und bewusst anzugehen. dem haus der kunst ist zu danken, dass es diese grosse künstlerin und ihre „metamorphosen“ vor dem vergessenwerden rettet.