Samstag, 24. Oktober 2020

MÜNCHEN: MACBETH MIT ZWÖLF

„ich habe mit zwölf jahren bei meinem ersten ‚macbeth‘ regie geführt! die lady macbeth war neun.“ wer kann so was von sich behaupten? was für ein frühreifer kerl war da am werk? und vor allem: was aus dem wohl noch wird? oder geworden ist?
?
?
?
?
na?
25 jahre später beschäftigte er sich noch einmal mit „macbeth“. fürs festival in avignon entwarf er so grandios ausufernde und exzentrische kostüme, dass sie der mistral mitsamt ihren trägerinnen beinahe weggefegt hätte. ça, c’est thierry mugler, der mann der superlative. „couturissime“ heisst denn auch die schau in der kunsthalle münchen, die das lebenswerk des mittlerweile 72jährigen modeschöpfers jetzt aufs lustvollste ausbreitet und ausgiebig feiert: kleider aus plexiglas, kunstpelz, vinyl, latex und chrom, monströse kreationen, was lady gaga und kim kardashian halt so mögen, corsettagen mit rückspiegeln, revolutionär war das - und schräg bis zum abwinken. ist das noch mode? oder schon karosserie? auf jeden fall ganz grosse oper. und für mich wieder nix passendes dabei.

Donnerstag, 22. Oktober 2020

MÜNCHEN: JUROWSKI MIT WOZZECK

das also ist er. der neue. im herbst 2021 wird vladimir jurowski seine stelle als generalmusikdirektor an der bayerischen staatsoper antreten. und jetzt dirigiert der 48jährige russe hier eine serie von „wozzeck“-vorstellungen. nicht die erste visitenkarte, aber doch eine entscheidende. ausgesprochen zugewandt und elegant geht jurowski mit seinem künftigen orchester um, das coronabedingt reduziert ist und nicht im engen graben spielt, sondern mit viel platz und gut sichtbar zwischen parkett und bühne. äusserst präzis und plastisch führt er die musikerinnen und musiker durch die hochkomplexe ton-architektur alban bergs. das expressionistisch überzeichnete soziale und seelische drama vom gedemütigten anti-helden gewinnt glasklare, scharfe, oft unheimliche konturen. das korrespondiert hervorragend mit der doch bereits 12 jahre alten, bildstarken inszenierung von andreas kriegenburg, der wozzeck auf einer vollständig gefluteten bühne herumwaten lässt, als geschundene kreatur unter lauter gestalten wie aus einem grusel-stummfilm: „der mensch ist ein abgrund, es schwindelt einem. man könnte lust bekommen, sich aufzuhängen.“ der bariton simon keenlyside ist ein begnadeter sängerdarsteller, der diesem wozzeck, der zum mörder an seiner geliebten marie wird, alles nervöse, irritierte, verzweifelte, alles zutiefst menschliche gibt. auch anja kampe meistert ihr rollendebut als marie höchst überzeugend, in ihrer zerrissenheit zwischen den männern hoffnungslos gefangen. den heftigsten applaus allerdings gibt´s am schluss fürs orchester und den dirigenten. könnte also durchaus was werden mit jurowski. die liebe der münchnerinnen und münchner scheint bereits entfacht zu sein.

Montag, 19. Oktober 2020

LUZERN/MÜNCHEN: BRONCHIALBAD

eine meiner lieblingsbeschäftigungen: in der badewanne liegen, aus gegebenem anlass zum beispiel in einem bronchialbad mit ätherischen ölen, kein papier in der nähe, kein kugelschreiber, keine tastatur, und dann – drauflosbloggen! im kopf sätze erfinden, sätze zimmern, sätze umbauen und schliesslich das schwierigste, sie auch noch festhalten. auf dass sie dem hirn nicht entschwinden, bevor der mensch getrocknet und die tastatur wieder in griffnähe ist. so entstehen blogs, so entstehen posts. unter anderem. das war jetzt die erste homestory in der neuneinhalbjährigen geschichte von BRANDER LIVE. sorry, kommt so schnell nicht wieder vor. und apropos bronchialbad: die corona-inzidenz (positive fälle in einer woche pro 100´000 einwohnerinnen und einwohner, kritischer schwellenwert 50) liegt aktuell in münchen bei 72,4, in luzern bei 137,2. das sind für den luzern-münchen-pendler die harten fakten ausserhalb der badewanne.

 

Sonntag, 18. Oktober 2020

MÜNCHEN: BACH, MESSIAEN, ZAWADKE

die herz-jesu-kirche im münchner westen ist eine aussergewöhnliche kirche, aussen ein glaskubus, innen wände aus über 2000 schmalen holzlamellen, die wärme vermitteln und je nach sonneneinstrahlung ganz unterschiedliche stimmungen schaffen. eine vielfalt von stimmungen gelang jetzt auch der organistin elisabeth zawadke mit ihrem sonntagnachmittagskonzert. beginnen wir für einmal am ende: beim schlussapplaus bedankt sich zawadke von der empore zunächst beim publikum, dann dreht sie sich um und verneigt sich vor der grossen woehl-orgel. diese orgel ist so aussergewöhnlich wie die ganze kirche, mit 60 registern, ganz ohne gehäuse, steht sie wie eine moderne skulptur aus pfeifen im raum. zawadke, während vielen jahren professorin für orgel an der luzerner musikhochschule und hauptorganistin an der dortigen jesuitenkirche, kombiniert auf der woehl-orgel sechs werke von johann sebastian bach und sechs werke von olivier messiaen und spielt sie alternierend, werke aus bachs orgelbüchlein, dann unter anderem „la source de vie“ und „la resurrection“ von messiaen. dumpfe, tiefe herzschläge bringen den ganzen raum zum vibrieren, man glaubt nebelhörner zu hören, die in einer undurchsichtigen welt orientierung und sicherheit zu schaffen versuchen. es braust, mal harmonisch, mal dissonant, immer aufwühlender, immer stürmischer. liefert der tiefgläubige katholik messiaen hier eine ekstase der spiritualität oder eine ekstase der verzweiflung? auf jeden fall ersetzt die intensität dieser musikalischen attacken 100 gottesdienste. diese musik, sagte die pastoralreferentin zu beginn, berühre das herz. und wie sie das tut. unmittelbar und nachhaltig.

 

Samstag, 17. Oktober 2020

MÜNCHEN: EINE JUGEND IN DEUTSCHLAND

der schauspieler martin weigel sammelt die kriegsopfer zusammen. überall liegen sie, weit verstreut. weigel hängt sie sich über die schultern, bindet sie sich an arme und beine, schleppt sie mit sich herum. die toten sind hüfthohe holzpuppen von michael pietsch, und weigel ist ernst toller, er leidet unter dieser last, diesem leichenberg, bricht beinahe zusammen, physisch und psychisch. ein starkes, ein unheimliches bild. „eine jugend in deutschland“ heisst die autobiographie von ernst toller (1893-1939): kindheit im bürgerlichen elternhaus, zuerst fasziniert, dann traumatisiert vom ersten weltkrieg, linkssozialistischer revolutionär und grandios gescheitert mit dem versuch einer räterepublik. dieses leben als poet, politiker und phantast („von allem zu viel“) zeigt regisseur jan-christoph gockel an den münchner kammerspielen in form einer sechsteiligen serie, die toller immer wieder nach seiner dringlichkeit für heute abklopft: „wo ist die jugend europas?“ fragt er - ohne echo. die geschichte tollers und seiner generation bekommt hier ein gesicht, viele gesichter. ja, von allem zu viel, das gilt leider auch für diese inszenierung. leicht hektisch werden wir durch sämtliche genres gejagt, doku, napoleon-parodie, aktuelle statements und eine peinlich-zähflüssige nazi-soap, alles in allem eine wild mäandernde revue, die ihre legitimation aus tollers spiel mit verschiedenen stilen zu beziehen scheint. dabei ist regisseur gockel absolut spitze, wenn er seinen stillen, grossen ideen vertraut. wenn zum beispiel der schauspieler walter hess, der 1939 geboren wurde, im gleichen jahr wie sich toller das leben nahm, auf der bühne kauert, um der grandios gefertigten toller-marionette auf augenhöhe und geradezu zärtlich zu begegnen: krieg? demokratie? was haben wir dazugelernt? fragt dieser moment. ganz ohne worte.

Dienstag, 13. Oktober 2020

MILANO: AIDA, IN FORMA DI CONCERTO

mal keine pyramiden, keine palmen, keine elefanten, keine fackeln. das ganze brimborium, mit dem die bühnen „aida“ häufig aufpeppen, als hätte verdi den soundtrack zu einem hollywood-brüller geschrieben - für einmal, corona sei dank, alles weg. kein bombastisches ägypten macht sich auf der bühne breit, sondern schlicht das orchester: die mailänder scala zeigt „aida“ in konzertanter version. verdi pur, was für eine chance! man hört diese oper ganz neu, man hört zahllose zarte, lyrische passagen, die in der visuellen reizüberflutung sonst flöten gehen. riccardo chailly dirigiert (drei stunden mit maske!) eine geradezu intime sicht auf die ausweglose dreiecksgeschichte; sie wird hier durch bewusstes gestalten hochdramatisch, nicht durch lautstärke. als besonderen leckerbissen präsentiert chailly den anfang des dritten aktes erstmals in der erst vor drei jahren in einem reisekoffer verdis entdeckten ersten version: der chor der priester am nil mehrstimmig, aus der ferne, eindringlicher als in der heute gängigen fassung. warum verdi von diesen 108 takten abrückte (und sie dann allerdings für sein requiem recycelte) ist unklar. erfreulich immerhin, dass ein traditionshaus wie die scala auch solche neuen fussnoten der musikgeschichte zu gehör bringt. und dann dieser cast: man sitzt in der vierten reihe und hat die ganze aktuelle weltklasse der verdi-interpreten unmittelbar vor sich, aus italien francesco meli als radamès, aus südkorea jongmin park als ramfis, aus der mongolei amartuvshin enkhbat als amonasro, aus spanien saioa hernández als aida und aus georgien anita rachvelishvili als amneris. vor allem diese beiden frauen, die den selben mann begehren, sind hier in ihrer intensiven, verzweifelten, eiskalten rivalität schlicht atemberaubend. theater in corona-zeiten – das sind nicht einfach notlösungen, das können auch absolute highlights sein.

Samstag, 10. Oktober 2020

MÜNCHEN: HABITAT (PANDEMIC VERSION)

nach 45 minuten die erste umarmung. herzlich und heftig. und dann noch eine und noch eine. nach 45 minuten erst und von kopf bis fuss eingepackt in einen plastikanzug. zuvor sind die sieben tänzerinnen und die fünf tänzer alle nackt in der grossen halle. nackt, mit schutzmaske, jede und jeder für sich allein. das publikum – coronabedingt ganze 32 – sitzt im zwei-meter-abstand den vier wänden entlang. „habitat (pandemic version)“ nennt die österreichische choreografin doris uhlich diese laborsituation, dieses quadrat, auf dem sie mit ihrem ensemble nach neuen formen der bewegung und begegnung sucht, nach kollektiver energie: in absoluter stille winden sich die zwölf schamfrei am boden, sie leiden, sie kriechen, sie wahren die distanz und wirken oft wie gefangen in ihren körpern, schlagen ihre schenkel auf den holzboden, um dann plötzlich zu harten techno-beats ihre sämtlichen glieder und weichteile wild zu schütteln, wie unter strom, zu schwitzen und zu strampeln, die einen ganz und gar lustvoll, andere mechanisch wie roboter. ja, das hat energie, viel energie – doch der dominante eindruck bleibt die verletzlichkeit und die verlorenheit dieser körper in dieser welt, in diesem grossen raum im probengebäude der münchner kammerspiele. der hiess mal spielhalle, dann kammer 2 und die neue intendantin barbara mundel hat ihn jetzt in therese-giehse-halle umbenannt, weil sie die weibliche tradition der kammerspiele verstärkt in den fokus rücken will. „ich bin auch ein sehr verschiedener mensch“, sagte therese giehse – oder: „von mir aus können wir auch ganz anders.“ passt. passt bestens zu diesem habitat: den eigenen körper intensiver wahrnehmen, wenn man die anderen nicht mehr spüren darf, kann ja durchaus ein gewinn sein. bin auch ich ein sehr verschiedener mensch?

Freitag, 9. Oktober 2020

MÜNCHEN: TOUCH - ABER WIE?

wuchtiger auftakt zur intendanz von barbara mundel an den münchner kammerspielen: toxisches mintgrün erleuchtet die szene, hinten eine riesige diodenwand, davor treiben schmelzende eisschollen; bühnenbildnerin katrin hoffmann wirft einen kühlen blick in die zukunft. unter dem titel „touch“ packt der neue hausregisseur falk richter alles, was grad scheisse läuft, in einen hochmoralischen und (jelinek nicht unähnlich) hochredundanten text: rassismus, sexismus, nationalismus, massentierhaltung, billigarbeiter, klimakatastrophe, pandemie – ja, ziemlich happig und ziemlich viel auf einmal. doch die schwächen des autors falk richter überdeckt der regisseur falk richter mit seinen stärken. gemeinsam mit der choreografin anouk van dijk und einem in jeder beziehung diversen und auf anhieb phänomenalen ensemble entwickelt er eine universale untergangsshow - viel sinnlicher und differenzierter als der text dies vermuten liesse. aus der zukunft blicken sie wie in einem museum auf unsere gegenwart zurück, auf hypernervöse, von angstimpulsen getriebene menschen. die suchen nach worten für das unsagbare, zucken mit abstandswahn aneinander vorbei, küssen sich durch plexiglaswände, tanzen pas de deux und pas de trois in vollkörperplastikanzügen und immer und überall sehnen sie sich nach berührung, vor allem aber nach sozialer nähe. fluoreszierende farben und stroboskop-effekte verstärken diese vision einer berührungslosen gesellschaft, es ist eine geballte ladung pandemischer tänze. immer wieder reissen sie ihre hemden, blusen und t-shirts hoch und recken dem publikum ihre pochenden herzen entgegen: ja, da ist noch was, und ja, es geht weiter, es muss weitergehen, irgendwie, wie, wie, wie, wie?

Sonntag, 4. Oktober 2020

SUSCH: MUZEUM MIT Z

42 totenschädel, immer der gleiche, sorgfältig gebettet auf 42 halstüchern, alle quadratisch und alle anders bunt. diese 42 grossformatigen fotografien der polnischen künstlerin zofia kulik hängen, eng an eng und praktisch raumfüllend, im dachstock des muzeums in susch. inspiriert wurde kulik durch die kriegsgräuel in serbien einerseits und die weinenden witwen in ihren schals anderseits. auch wer das nicht weiss, wird hier von gefühlen und gedanken überwältigt. die 42 bilder machen den fensterlosen raum mit seinen groben dachbalken und dem schönen holzboden zu einer art modernem beinhaus. ein ort der kontemplation. genau dies – und nicht bloss ein weiterer pilgerort für kulturtouristinnen – schwebte der zeitweise im unterengadin lebenden polnischen unternehmerin und kunstsammlerin grazyna kulczyk vor, als sie die ehemaligen kloster- und brauereiräumlichkeiten am inn umbauen liess. die architekten schmidlin&voellmy bauten ihr aus verliesartigen kellerlöchern kunsträume, sprengten felsen weg, um mehr platz für grössere hallen zu gewinnen, liessen wände blendend weiss streichen und tageslicht aus dachluken darauf fallen, ein bistro und eine bibliothek laden mit viel warmem holz ein. das riesige raumlabyrinth in den alten gemäuern gewann so eine völlig neue, sagenhafte ausstrahlung. im januar 2019 konnte kulczyk ihr muzeum (polnisch mit z) eröffnen, es ist eine entdeckung und eine freude. neben den ortsspezifischen installationen (unter anderem ein marmorturm von not vital) will die mäzenin hier mit wechselausstellungen verstärkt kunst von frauen präsentieren und sich werken widmen, die zu wenig beachtung fanden oder falsch interpretiert wurden. immer wieder neue gründe also, um immer wieder mal nach susch zu fahren.