Samstag, 30. November 2019

EMMENBRÜCKE: 745, AUFFÄLLIG UNAUFFÄLLIG

was ist auffällig? und was ist nicht auffällig? völlig ungeplant tauchen diese fragen rund um die subjektive wahrnehmung auf bei der eröffnungsfeier der hochschule luzern / design und kunst in emmenbrücke. die direktorin der schule, gabriela christen, führt ein sofagespräch mit dem architekten des neubaus, harry gugger. christen freut sich sichtlich an dem „auffälligen gebäude“, gugger reagiert völlig überrumpelt: „auffällig? das ist jetzt fast eine beleidigung.“ gugger, ursprünglich werkzeugmechaniker, dann als architekt lange bei herzog & de meuron, schliesslich professor an der epfl in lausanne, wollte mit dem bau 745 in der viscosistadt eine visuelle sprache finden, die dem ort, diesem einstigen industriegelände von der grösse der luzerner altstadt, entspricht, seine architektonischen formen aufnimmt und sie weiterentwickelt, ohne sie zu verraten, gebäudehohe lisenen zum beispiel. das ist ihm toll gelungen: auffällig unauffällig! unbestritten auffällig sind die schulräume für die rund 800 studierenden im innern, fast fabrikhallen mit grossen fenstern, alles hoch, alles hell, eine absolut inspirierende werkstattatmosphäre durch und durch. sämtliche studiengänge der „kunsti“ sind jetzt an diesem einen ort vereint. man möchte hier studieren, inmitten dieser jungen leute und dieser jungen ideen, hier ist ein mekka für innovationstreiber am entstehen. „ideation space“ steht auf der türe 077, „nähen, bügeln“ bei 278a – das spektrum ist breit, auffällig breit.

Donnerstag, 21. November 2019

ROLLE: CALLAS - THE HOLOGRAM TOUR

1977 starb maria callas. und jetzt steht die primadonna assoluta des vergangenen jahrhunderts wieder leibhaftig vor uns und singt. auf dem podium der rosey concert hall in rolle am genfersee. begleitet vom orchestre de chambre de genève unter der leitung der irischen dirigentin eimear noone. callas live, back on stage – wie das? die technik macht’s möglich. auf den mehr als 50 jahre alten plattenaufnahmen konnte ihre stimme separiert und das orchester so weggefiltert werden, dass jetzt live-orchesterbegleitung dazu drappiert werden kann, höchstklassige begleitung der genfer notabene. und, das ist das wirklich sensationelle, dank modernster hologramm-technik bewegt sich die wiedererweckte sängerin neben der lebendigen dirigentin auf der bühne, dreidimensional, in einem eleganten, weit fallenden weissen seidenkleid, mit einem feuerroten schal, blitzende augen, charmante gesten. kein zweifel, das ist die callas, ihre stimme, ihre aura, die diva im strahlenden scheinwerferlicht, realistischer geht’s nicht. eineinhalb stunden singt sie ihre legendären arien, carmen, lady macbeth, la gioconda, la wally. wüsste man es nicht besser, man hätte eineinhalb stunden keinen zweifel an der authentizität dieses auftritts. als sie am schluss die grosse casta-diva-arie der druidenpriesterin norma anstimmt, mit ihrem abgrundtief dunklen timbre, mit ihrer nie wieder erreichten ausdrucksintensität, da bleibt dann – im vollen bewusstsein um die rundum künstlich-reproduzierte situation – definitiv nur noch gänsehaut. absolut echte gänsehaut. alles andere nur eine spielerei, gewiss, aber eine in ihrer perfektion verblüffende. und wir brauchen spiele, gerade in diesen dunklen zeiten.

Montag, 18. November 2019

MÜNCHEN: KÖNIG LEAR

zwei riesige cyber-monster stehen zur linken und zur rechten des bühnenportals. „heute wird´s heftig“, sagt die ältere dame hinter mir zu ihrer nachbarin – und freut sich. in der tat: aus shakespeares düsterem märchen vom „könig lear“, der sein reich verteilen und von seinen drei töchtern deshalb wissen will, welche ihn denn am meisten liebt, machen die münchner kammerspiele eine brutale endzeit-phantasie, für die thomas melle das original kraftvoll-frisch neu übersetzt und klug weitergedacht hat. ein hammertext, der umso heftiger wirkt, weil regisseur stefan pucher ihn in einer vordergründig bunten szenerie vor rosa wolken spielen lässt und in kostümen, die jeden dolce-gabbana-kitsch locker übertreffen. „the end“ hängt in knalliger leuchtschrift über allem, nicht erst am ende, sondern die ganzen zweieinhalb stunden, das ende lauert überall. das ensemble (ja, sie sind höchst verdient zum „theater des jahres“ geworden) ist einmal mehr schlicht umwerfend in diesem temporeichen kampf der generationen und geschlechter, diesem marathon gegenseitiger herabwürdigungen, der zu einer radikalen umkehrung der machtverhältnisse führen soll, einem wechsel „von der warte der schwachen aus regiert“. das resultat: jeder gegen jeden, spaltung total – und viel blut. „wer ist das, die schwachen?“ fragt lear, bevor er begleitet von bowies major tom über die legendäre heide in den wahnsinn wankt. thomas schmauser at his finest. der alte weisse mann dankt ab, oder besser: zuckt weg. umkehrung der machtverhältnisse, ja. hoffnungsfrohe perspektiven, nein. es ist das alte spiel mit neuem personal. möchten wir da wirklich komplizinnen sein?

Sonntag, 17. November 2019

MÜNCHEN: TOSCA

alles schwarz, die wände, die groben balken auf der bühne, die luxuriösen messgewänder beim te deum, die uniformen der spitzel, der tisch im palazzo, alles schwarz. in diesem nachtschattenreich siedelt stefano poda, der regisseur, bühnenbildner und lichtdesigner in einem ist, im staatstheater am gärtnerplatz den brutalsten krimi der operngeschichte an, die „tosca“ von giacomo puccini. weiss sind einzig die lilien, die tosca im ersten akt in die kirche trägt, und weiss ist der kleine hirtenjunge, der im dritten akt am tiber-ufer eine traurige weise anstimmt: nur sehr wenig ist hier übrig von der unschuld der welt. wie geister bewegen sich die figuren durch die von gegenlicht und zwielicht geworfenen schatten, gesteuert und choreografiert durch die sadistischen gelüste des macht- und sexbesessenen polizeichefs scarpia, der die sängerin tosca vergewaltigen will und ihre grosse liebe, den maler cavaradossi, aus politischen gründen hinrichten lässt. der bariton noel bouley lässt das niederträchtige und demütigende dieses scarpia mit jedem ton und jeder geste wie gift in diese schwarze welt tropfen. oksana sekerina als tosca verzehrt sich vor leidenschaft und eifersucht, singt manchmal liegend, krümmt sich vor schmerz, triumphiert bei ihrem tödlichen messerstich für scarpia, ein grandioses rollenporträt von höchster dramatik und tiefster verzweiflung, beklemmende bilder. artem golubev als cavaradossi schliesslich zeichnet ein differenziertes bild eines zu unrecht gequälten und gefolterten, auch stimmlich brillant, obwohl sein heller tenor im orchester-fortissimo gelegentlich unterzugehen droht. chefdirigent anthony bramall arbeitet die rasanten stimmungswechsel mit maximaler hingabe und schärfe heraus und macht bewusst, wie sehr „tosca“ der definitive abschied vom belcanto und die mutter aller krimi-soundtracks ist. mit diesem schattenstück spielt sich das gärtnerplatztheater aus dem schatten der bayerischen staatsoper.

Donnerstag, 7. November 2019

WIEN: MIT TOKARCZUK IM NARRENTURM

vor drei wochen wollten wir in wien ins pathologisch-anatomische bundesmuseum, vulgo narrenturm. empfehlung von freunden. klappte nicht, pech gehabt, geschlossen, falscher wochentag. nun allerdings werde ich von literaturnobelpreisträgerin olga tokarczuk aufs trefflichste entschädigt. in ihrem roman „unrast“, der eigentlich kein roman ist, sondern ein ausuferndes, überschäumendes reisetagebuch, nimmt sie mich bereits auf den ersten seiten mit – in eben jenen narrenturm. geleitet von ihrem „perseverativen detoxifikationssyndrom“ (toll, nicht?) fühlt sie sich angezogen von allem, was unvollkommen oder defekt ist. „mich interessiert das unansehnliche, irrtümer der schöpfung, sackgassen. (…) ich bin der unbeirrbaren und irritierenden überzeugung, dass genau darin das wahre sein zum vorschein kommt und seine natur offenbart. (…) deshalb unternehme ich meine geduldigen reisen, auf denen ich die fehler und reinfälle der schöpfung aufspüre.“ also narrenturm. und da sieht und beschreibt sie liebevoll dinge und details, die sich mir wohl kaum auf anhieb erschlossen hätten. einer verborgenen ordnung auf der spur? doch dieses buch ist nicht einfach ein pathologisch-philosophischer blick auf die gegenwart und ihre vergangenheit, es ist vor allem eine einladung, immer wieder aufzubrechen und immer wieder abzuschweifen zu anderen geschichten, anderen menschen, anderen zeiten und perspektiven. tokarczuks sprachwucht und -eleganz hat nur einen erheblichen nachteil: nie wieder, denkt man angesichts dieser meisterschaft, nie wieder werde ich kümmerling auch nur eine einzige zeile schreiben mögen.
ach ja, und übrigens: #readmorewomen

Mittwoch, 6. November 2019

ZÜRICH: GEBROCHENES LICHT

silvesterparty in damaskus. ein mädchen und ein junge wetten, wann die nächste bombe einschlagen wird. wenn er richtig tippt, will er sie küssen dürfen. die bombe schlägt ein. und dann noch eine. der alltag in einer kriegsversehrten welt beschäftigt die in zürich lebende syrische autorin lubna abou kheir, die arabisch denkt und deutsch schreibt. es sind episoden wie der silvesterkuss, die sie in ihrem stück „gebrochenes licht“, das jetzt am theater neumarkt in zürich uraufgeführt wurde, aneinanderreiht. geschichten einer jungen frau aus dem nahen osten, die in zürich gelandet ist, ihrer mutter, die über istanbul nicht hinauskommt, geschichten eines taxifahrers aus damakus, der mehr sein will als schlepper, und eines unfreiwilligen rekruten, der in der syrischen wüste verzweifelt eine telefonverbindung sucht. regisseurin ivna žic (als autorin von „die nachkommende“ jetzt für den schweizer buchpreis nominiert) verteilt die vier figuren im langen neumarkt-saal, verloren zwischen grossen steinen und einem leeren boot. wie der text spielt auch diese einfache bühne mit unseren assoziationen. hier sprechen menschen miteinander, die in verschiedenen ländern leben, auf verschiedenen kontinenten, übers vergessen-wollen, über hoffnung, über echte und luxuriöse probleme in einem land, wo niemand auf jemanden wartet. oft ist es mehr deklamation als dialog. so künstlich diese situation ist, alle in einem raum, so eindringlich führt sie das vakuum vor augen, das die kommunikation im globalen dorf hinterlassen kann. matija schellander hat dazu einen vibrierenden sound komponiert, der das im titel angetönte thema ebenfalls aufnimmt: das zersplittern des lichts in verschiedene farben. sind es orientalische tänze? sind es kriegsgeräusche? traumsequenzen? es ist, wie der ganze abend, ein kraftvoller regenbogen zwischen leben und tod.