Freitag, 26. November 2021

LUZERN: LE NOZZE DI FIGARO

da wird mit brüsten gewackelt und mit damenwäsche rumgefuchtelt, es knallen die türen und die ohrfeigen, und die herren sind auffällig oft mit ihren hosenschlitzen beschäftigt: rambazamba in einer baufälligen villa, der verputz bröckelt, nur die hausbar ist noch auf dem neusten stand. gerard jones` inszenierung von mozarts „le nozze di figaro“ in luzern ist frivolstes ohnsorg-theater. kann man machen. das neue, junge opernensemble – darstellerisch allesamt top – badet genüsslich in diesem intrigantenstadel, wo alle mit allen und jeder gegen jeden. solenn‘ lavanant linke macht den pagen cherubino als erotisch hochambitionierten spitzbuben zum höchst charmanten epizentrum dieses treibens, amor im matrosengwändli. so dick wie die regie auf der bühne aufträgt, so dick pinselt die britische dirigentin gabriella teychenné leider auch mit dem luzerner sinfonieorchester, das zudem bei unserer vorstellung (der siebten seit der première) suboptimal disponiert und konzentriert ist. frau teychenné kämpft sich mehr durch den abend als dass sie gestaltet, eine vorliebe für unterschiedliche lautstärken und tempi scheint ihr eher abzugehen, zu vieles kommt zu laut, vieles kommt verwackelt daher, goodbye mozart. kommt dazu, dass die klangfarben im ensemble (noch) nicht wirklich harmonieren: die herren (vladyslav tlushch als conte almaviva, sebastià peris als figaro) überzeugen mit warmen, elegant geführten stimmen, den damen (eyrún unnarsdóttir als contessa, tania lorenzo als susanna, marcela rahal als marzellina) gerät vieles allzu grell. doch wenn es nicht fein vibriert hinter den fassaden dieser figuren, wenn mozarts subtiler blick ins innere dieser menschen, der die seelischen scherbenhaufen offenbart, nicht hörbar wird, dann bleibt figaros hochzeit purer klamauk. 

Sonntag, 21. November 2021

MÜNCHEN: REGIME CHANGE AM #FSFMUC

oleg ist autist. der junge mann wohnt mit seinem älteren bruder in einem einsamen haus am rand der ränder. ivan kümmert sich liebevoll um oleg, badet mit ihm im tümpel neben dem haus, hilft ihm beim anziehen und organisiert, bevor er wegfährt, sein frühstück und per telefon seinen tagesablauf. die grosse bruderliebe, die grosse aufopferung. allein kann oleg nicht leben. doch ganz unmerklich entwickelt sich unter der oberfläche eine unruhe, eine stille aggression. denn ivan will seine eigenen bedürfnisse auch ausleben, er will zu freunden, er will zu frauen. und dann knallt´s, buchstäblich und im übertragenen sinn. „regime change“ heisst der 18minütige spielfilm von yana sad von der moscow school of new cinema, der jetzt am #fsfmuc (ausführlicher: 40. internationales festival der filmhochschulen in münchen) als bester film und mit 10´000 euro ausgezeichnet wurde. dieser preisträgerfilm ist in mehrfacher hinsicht repräsentativ für die diesjährige auswahl: er begleitet jugendliche (andere auch kinder) auf der suche nach ihrer identität, wandelt dabei zwischen traumwelt und wirklichkeit und lässt vieles offen, auch das ende, er zeichnet die figuren mit intensiven bildern und wenigen worten, er ist frei von hektischen schnitten, er ist geradezu spektakulär in seiner poesie. solche filme dreht sie, die neue generation von jungfilmerinnen und jungfilmern. während sieben tagen wurden am filmschoolfest 60 filme „from all over the world“ gezeigt, 42 davon habe ich gesehen. aber ja, danke, es geht mir gut. das war keinen moment lang erschöpfend, das war und ist reinste inspiration.

Samstag, 20. November 2021

KARLSRUHE/LINZ: FREIHEIT UND DUMMHEIT

„verstehe ich freiheit positiv, als gabe zur verantwortung? oder verstehe ich freiheit als freiheit von der zentrale, weil diese böse ist?“   michael blume, karlsruhe, religionswissenschaftler und antisemitismusbeauftragter von baden-württemberg, in der süddeutschen zeitung vom 19.11.2021 („im alpenraum gibt es ein impfproblem“)

„das zentrale merkmal von dummen leuten ist, dass sie ausschliesslich die eigene position priorisieren und alles andere ignorieren. (…) die dummheit hat aufgehört, sich zu schämen (…) bei diesen menschen sind immer andere schuld. sie sind nie dafür verantwortlich, wenn irgendwas schief geht. sie stellen sich selber nicht infrage. (…) man spart sich mühe, ärger und zeit, mit menschen zu diskutieren, die das recht auf eine eigene meinung mit dem recht auf eigene fakten verwechseln.“   heidi kastner, linz, fachärztin für psychiatrie und neurologie, chefärztin der forensischen abteilung des kepler-universitätsklinikums, in der süddeutschen zeitung vom 20.11.2021 („dummheit hat hochkonjunktur!“) 

und jetzt, als nächstes, unbedingt "herscht 07769" lesen, den neuen roman des ungarn lászló krasznahorkai. 409 seiten, ein einziger (!!) langer satz über trostlosigkeit und freiheitsdrang, dummheit und dumpfheit in einer kleinen stadt in thüringen. um das alles vielleicht doch oder noch besser zu verstehen.

Freitag, 19. November 2021

MÜNCHEN: AGNES BERNAUER

sie zuckt am ganzen leib, diese agnes bernauer, im blossen unterhemd steht sie da, schwach ist sie und schwanger, der schwiegervater brüllt sie in grund und boden, die schwiegermutter schmiert ihr brei ins gesicht, ihr mann heult nur und ist zu nichts fähig. antonia münchow spielt diese agnes bernauer am cuvilliéstheater in münchen als zunächst selbstbewusste, entschiedene frau, deren verletzliche und verletzte seite immer deutlicher zutage tritt. aus finanziellen gründen hat sie in diese unternehmerfamilie eingeheiratet, sich schnell mit dem sozialen aufstieg identifiziert und ihr gutes herz dabei nicht verloren. doch alle ihre versuche, zwischen oben und unten zu vermitteln, das geld gerechter zu verteilen, im unternehmen der schwiegereltern wie in der welt, das alles läuft ins leere. „die gutheit lohnt sich nicht“, sagt ihr ein mann aus dem dorf. franz xaver kroetz wollte mitleid als politische kategorie verstanden wissen, als er friedrich hebbels „agnes bernauer“ 1977 in die gegenwart übertrug – und er war stark beeinflusst vom italienischen neorealismo. realistisch und subtil gezeichnet wird in dieser residenztheater-inszenierung von nora schlocker nur die hauptfigur, alles andere ist revue: auf einer drehbühne aus schwerer bayrischer eiche, die sowohl salon kann wie auch jahrmarkt und rosenkranz-manufaktur, ist agnes umgeben von lauter karikaturen, massiv überzeichneten und witzig kostümierten, die viel herumschreien und ihre gefühle vor allem gymnastisch ausdrücken. ganz offensichtlich will die regisseurin jeden sozialkitsch umgehen, sie scheint dem stück nicht wirklich zu trauen. vier live-musiker steuern hübsche walzer und melancholische weisen bei, ein wohltuender kontrast in dieser grellen show, wo sich die einzelnen perspektiven und stimmungen nicht zusammenfügen wollen und deren dringlichkeit dadurch ähnlich ins leere läuft wie agnes´ empathie.

Montag, 15. November 2021

MÜNCHEN: DER SELBSTMÖRDER

er will sich umbringen. er liest „hamlet“, reclam-ausgabe. er will sich umbringen, nächste eskalationsstufe: er liest „werther“, reclam-ausgabe. sind ja auch so günstig, diese reclam-hefte. eigentlich müsste man den verlag wegen beihilfe zum jugendselbstmord… aber lassen wir das. semjon semjonowitsch podsekalnikow, der protagonist in nikolai erdmans bald hundertjähriger komödie „der selbstmörder“, ist ohne arbeit, ohne perspektive, ohne energie. lorenz hochhuth spielt ihn am münchner volkstheater als verwirrten, verspielten, liebenswürdigen kerl. mit seinem freitod will er endlich bedeutung erlangen, der welt eine lektion erteilen: „wenn man schon etwas hinterlassen soll, warum nicht ein schlechtes gewissen?“ die junge schweizer regisseurin claudia bossard zerrt den alten text ins heute und macht daraus eine rasante show, das schräge steigert sie ins absurde, das absurde ins groteske. semjons freundinnen und freunde erschrecken, als sie seine pläne ahnen. doch dann versprechen sie sich persönlichen gewinn von seinem tod und helfen ihm, die passende todesart zu finden (wie wär´s am wannsee, variante kleist?). schliesslich reagieren sie genervt, weil er nicht vorwärts macht. aber eben, ist halt komplex, so ein selbstmörder ohne energie, der schon mal kabelschlingen ausprobiert und mit einer pistole vor dem gesicht rumfuchtelt, aber sich partout nicht entscheiden kann, wie und ob oder vielleicht doch nicht. ein alter bmw vor einem ultrakitschigen landschaftsprospekt ist das epizentrum dieses aberwitzigen spiels, das – begleitet und gefördert durch coole songs und kammermusikalische intermezzi – zu todernsten gedanken führt: die kunst des beendens ist keine einfache kunst. wie schrieb schon der schweizer schriftsteller und selbstmörder hermann burger, der im programmheft abgedruckt ist: „es ist unbedingt unsere aufgabe, unserem abgang stilistisch gewachsen zu sein.“ semjon schafft das nicht ganz.

Sonntag, 14. November 2021

MÜNCHEN: EURE PALÄSTE SIND LEER

trump-comeback, covid-ohne-ende, klima – es mangelt derzeit nicht an versatzstücken für die ultimative dystopie. der österreichische autor thomas köck hat seine apokalyptischen visionen zu einem grandiosen text gebündelt, dessen uraufführung an den münchner kammerspielen jetzt mit langem, begeistertem, verdientem applaus belohnt wurde: „eure paläste sind leer (all we ever wanted)“ ist ein hammer! auf der bühne erblickt man das abbild des jugendstil-zuschauerraums, zerstört, zerfallen, aus den kammerspielen ist ein düsteres parkhaus geworden, in dem ein alter vw polo rumgeschubst wird. hier begegnen sich die gespenster aus vergangenheit und gegenwart: die menschenverachtenden eroberer lateinamerikas, die eroberer der globalen finanzmärkte, die verlogenen hüter einer verlogenen moral und der blinde seher teiresias, der alles schon immer geahnt hat und nichts unternimmt. aus köcks dichtem und hochpoetischem text macht regisseur jan-christoph gockel mit schauspielerinnen und schauspielern, musikern und holzpuppen mit zutiefst menschlichen zügen (michael pietsch) eine divina commedia, sinnlich und schrill, laut und verstörend. im polo, im bühnenhimmel, in den logen: ausbeutung, ausgrenzung, exzesse und massaker so weit das auge reicht, redundant bis zur reizschwelle. der kleine prinz, auch eine dieser eindrücklichen holzpuppen, ist zum todtraurigen jungen im blauen sweatshirt geworden, der sein laken über die bühne zieht und die toten damit bedeckt, nachdem er sie geküsst hat. „what we learn from history is that we don´t learn from history” knackt es durch die lautsprecher. gegen ende, üppig unterlegt mit wagners wogen, taucht der nächste ersehnte erlöser auf, auch er bloss ein gespenst. erlösung gibt es nicht, es gäbe nur verantwortung. gäbe. „follow me in den nächsten kreis der hölle.“

Donnerstag, 11. November 2021

MÜNCHEN: ICH BIN´S FRANK

sie singt edelkitsch-schlager und schreit und tanzt und flirtet charmant mit dem publikum und rappt und legt sich hin und weint und singt wieder und schwitzt und animiert zum mitsingen und wippt lustvoll mit ihren dicken oberschenkeln und und und. julia häusermann ist, man kann es nicht anders sagen, eine rampensau, eine absolut liebenswürdige obendrein. die münchner kammerspiele überlassen ihr (und ihrer regisseurin nele jahnke) die grosse bühne für eine one-woman-performance, inclusive das ganz grosse technik-besteck, light-show, video-animation, dj-sound. es ist eine performance der besonderen art. denn julia häusermann hat trisomie 21. „ich bin´s frank“ heisst ihre show, nach frank levinsky in ihrer lieblings-high-society-soap „verbotene liebe“. all ihre gefühle und die von frank teilt sie mit dem publikum, freude, traurigkeit, euphorie, lust. sie redet über ihre biographie und über ihren körper („ein körper mit zukunft“) und lädt uns dadurch ein, über norm und abweichung nachzudenken, wo die grenze dazwischen verläuft und wer sie definiert. eine sehr subjektive zurschaustellung, die sehr subjektive reaktionen auslösen kann: freude über diese offenheit, mitleid, hinterfragen von vorurteilen und gesellschaftlichen anforderungen, bewunderung. bewegen wir uns da unversehens in der grauzone zwischen ehrlicher empathie und verstecktem voyeurismus? das dürften hier die falschen, weil überholten kategorien sein. was einzig zählt, ist, wie tief das berührt, wenn julia häusermann da vorne steht und mit fester stimme ihren monolog ins mikrophon spricht: „stark geboren, falsch geboren, als sturm geboren“.

Montag, 8. November 2021

MÜNCHEN: TATORT ISARPHILHARMONIE

wenn da nur nicht dieser „tatort“ gewesen wäre am vorabend: „hast du gewusst, dass orchestermusiker den selben stress-level haben wie formel-1-piloten?“ fragt der eine kommissar den anderen angesichts der brutalen, blutigen rivalitäten unter den jungen orchester-aspirantinnen in der gasteig-philharmonie. wenn nicht dieser „tatort“ gewesen wäre, könnte man sich jetzt tags darauf einfach nur freuen an den 82 jungen musikerinnen und musikern des symphonieorchesters der hochschule für musik und theater beim benefizkonzert von yehudi menuhins stiftung live music now in der isarphilharmonie. 82 mal pure motivation, pure energie – aber eben vielleicht auch knallharte konkurrenz um den nächsten und besten orchesterposten? und dann rennt auch noch, mitten im dritten satz von schumanns cellokonzert, eine kontrabassistin vom podium – exakt wie der junge oboist im „tatort“ nach der brechmittel-attacke. themenwechsel: die isarphilharmonie ist ein provisorium, das ausweichquartier während der gasteig-totalrenovation, für 43 millionen hingezaubert von gerkan, marg und partner (architekten) und yasuhisa toyota (akustik). „willkommen im süden“ heisst der offizielle slogan, die lage der isarphilharmonie neben dem fernheizkraftwerk und weit ab vom zentrum ist gewöhnungsbedürftig. doch dann: begeisterung – und absolute übereinstimmung mit allen, die in dem monat seit der eröffung schon hier waren und aus dem schwärmen gar nicht mehr rauskommen. elegant wirkt dieser konzertsaal und dank dem anthrazitfarbenen holz trotz seinen 1900 plätzen durchaus auch intim, mit einer warmen und im gegensatz zum gasteig transparenten akustik, die die 82 jungen musikerinnen und musiker unter der leitung von marcus bosch vor allem in bruckners siebter prächtig zur geltung bringen. die münchner klassik-szene hat einen tollen neuen tatort.

Freitag, 5. November 2021

BAYREUTH: HÖR AUF

er: „wie die musik ankommt, wissen sie, die kommt so wie… wie ein wasser angeflossen und sie erholt sich immer wieder…“
sie: „die erholt sich ned…“

er: „und kommt immer wieder, und baut sich diese musik dann einfach nach oben auf, ich meine…“

sie: „hör auf, hör auf…“

alles gesagt über richard wagner!

das metzger-ehepaar ulrike und georg rauch, das bayreuth mit wurst versorgt und während den festspielen seine zimmer vermietet, in axel brüggemanns höchst amüsantem dok-film „wagner, bayreuth und der rest der welt“. und in venedig, wo der komponist 1883 gestorben ist, fasst eine gepflegte ältere dame den wagner-hype around the world so zusammen: „wir wagnerianer sind das heavy-metal-ende der klassik.“

Mittwoch, 3. November 2021

MÜNCHEN: EDWARD II.

weit, weit nach hinten rennen sie auf der bühne des nigelnagelneuen münchner volkstheaters, als müssten sie bis wolfratshausen. und auch die auftritte kommen, gefühlt, aus diesem wolfratshausener nichts. vorne dreht sich die drehbühne und dreht und dreht. das also schafft intendant christian stückl mit seiner eröffnungsinszenierung von christopher marlowes „edward II.“ (1591/92) schon einmal perfekt: die luxuriösen verhältnisse und dimensionen seines neuen hauses vorzuführen. liegt ja auch was drin für 131 millionen euro. auf der einen seite der drehbühne steht ein thron (symbol der macht), auf der anderen seite eine badewanne (symbol der lust). im üppigen schaum dieser wanne vergnügen sich der englische könig edward II. und sein französischer lover gaveston, den er verküsst und vergöttert. alexandros koutsoulis gibt gaveston als grandiosen vor- resp. wiedergänger von frank´n´furter aus der rocky horror picture show, jan meeno jürgens seinen edward als unverkennbare kopie ludwigs II. gegen ende liegen die leichen dann sowohl neben dem thron als auch in der wanne: einiges schief gelaufen zu hofe – adel, politik und kirche konnten sich nicht erwärmen für die präferenzen des königs. natürlich taucht stückl alles, kulissen und kostüme, in sattes pink, denn seine inszenierung will ein grelles statement sein gegen die latente homophobie unserer tage. und die, die´s nicht glauben wollen, dass diese homophobie trotz ehe für alle noch existiert, bekommen´s im programmheft penetrant unter die nase gerieben. so weit alles klar. die grosse irritation an diesem abend ist eine andere: durchschnittsalter des publikums wohl 65, vielleicht sogar 70. wer sitzt in ein paar jahren in diesem neuen, tollen, teuren theater?