Montag, 26. August 2019

LUZERN: IGOR LEVIT GEHT AUFS GANZE

alle mögen igor levit. weil er erstens ein sympathischer kerl ist, dem die leicht diabolischen züge der anderen jungen russischstämmigen piano-berserker abgehen. und weil er zweitens eine meinung hat, eine haltung, weil er nicht schweigt zu dingen jenseits der kunst. auch deshalb passt levit bestens zum diesjährigen lucerne festival mit dem generalthema „macht“. frage im programmheft: „könnten sie sich vorstellen, eine politische bewegung mit allen ihnen zur verfügung stehenden mitteln zu unterstützen?“ antwort levit: „auf jeden fall. zum teufel mit der künstlerischen neutralität! (…) doch natürlich muss ich die möglichkeit haben, auch wieder abstand zu nehmen, wenn mir das gebaren der mächtigen missfällt.“ als zugabe nach seinem zweiten rezital in luzern spielt levit paul dessaus „guernica“, eine bedrückende meditation über sinnlose zerstörung, inspiriert durch picassos gemälde, mit dem sich dieser gegen künstlerische gleichgültigkeit wehrte, wenn die höchsten werte der humanität und zivilisation auf dem spiel stehen. das ist ein signal, das ist levit. der mann geht aufs ganze, auch künstlerisch: alle 32 klaviersonaten von ludwig van beethoven spielt er dieses und nächstes jahr in luzern, ein kraftakt. doch es geht levit nicht um den effekt, er nimmt die töne in sich auf, hört ihnen nach, bringt den ganzen reichtum dieser klavierwerke zum klingen: verspieltes, verzehrendes, versehrtes, verwundertes, verklärtes. fünf sonaten sind‘s diesmal, von der aufmüpfigen in fis-dur (op. 78) bis zur melancholischen in es-dur („les adieux“, op. 81a). levits interpretation erbringt den beweis, wie viel intimität der grosse konzertsaal im kkl durchaus auch bieten kann, wie viel zartheit hier möglich ist. man wähnt sich bei igor im salon.

Freitag, 16. August 2019

AVIGNON: UN AUTRE MONDE

was für ein zauber, was für eine eleganz, was für eine sinnlichkeit. im fensterlosen dachboden der collection lambert in avignon trifft der besucher auf eine rote neonröhre. sie windet sich durch mehrere hintereinanderliegende kammern, wirkt schwebend, weil sie auf fast unsichtbaren plexiröhrchen ruht, wirkt endlos, weil eine nebelmaschine die konturen des langen raumes verschwinden lässt, wirkt magisch, weil gedimmte bassklänge durch den nebel wummern. eine rote, gewundene neonröhre. ist es eine grenze, eine flüchtlingsroute, eine lebenslinie, eine börsenkurve, die da im nichts verschwindet? ist dieses nichts der anfang oder das ziel? was verbindet diese linie, was trennt sie? «j’ai rêvé d’un autre monde» nennt der künstler claude lévêque das werk, das er für diesen ort geschaffen hat. eine rote neonröhre, die auf anhieb gefangen nimmt, fasziniert und zur kontemplation nicht nur einlädt, sondern geradezu verführt. man steht oder sitzt gebannt vor dieser schönheit und dieser schlichtheit und kann sich nicht sattsehen. un autre monde ist auch das museum an und für sich: die private collection lambert durfte sich mit staatlicher unterstützung in zwei prächtigen stadtpalästen einrichten, im innenhof ein von platanen beschattetes museumscafé. eine seitengasse nur von den grossen strömen der papstpalast-pilgerer entfernt findet sich hier eine ruhige insel der kunst, ein kraftort für geist und seele, un autre monde.