alle mögen
igor levit. weil er erstens ein sympathischer kerl ist, dem die leicht
diabolischen züge der anderen jungen russischstämmigen piano-berserker abgehen.
und weil er zweitens eine meinung hat, eine haltung, weil er nicht schweigt zu
dingen jenseits der kunst. auch deshalb passt levit bestens zum diesjährigen
lucerne festival mit dem generalthema „macht“. frage im programmheft: „könnten
sie sich vorstellen, eine politische bewegung mit allen ihnen zur verfügung
stehenden mitteln zu unterstützen?“ antwort levit: „auf jeden fall. zum teufel
mit der künstlerischen neutralität! (…) doch natürlich muss ich die möglichkeit
haben, auch wieder abstand zu nehmen, wenn mir das gebaren der mächtigen
missfällt.“ als zugabe nach seinem zweiten rezital in luzern spielt levit paul
dessaus „guernica“, eine bedrückende meditation über sinnlose zerstörung,
inspiriert durch picassos gemälde, mit dem sich dieser gegen künstlerische
gleichgültigkeit wehrte, wenn die höchsten werte der humanität und zivilisation
auf dem spiel stehen. das ist ein signal, das ist levit. der mann geht aufs
ganze, auch künstlerisch: alle 32 klaviersonaten von ludwig van beethoven
spielt er dieses und nächstes jahr in luzern, ein kraftakt. doch es geht levit
nicht um den effekt, er nimmt die töne in sich auf, hört ihnen nach, bringt den
ganzen reichtum dieser klavierwerke zum klingen: verspieltes, verzehrendes,
versehrtes, verwundertes, verklärtes. fünf sonaten sind‘s diesmal, von der
aufmüpfigen in fis-dur (op. 78) bis zur melancholischen in es-dur („les adieux“,
op. 81a). levits interpretation erbringt den beweis, wie viel intimität der
grosse konzertsaal im kkl durchaus auch bieten kann, wie viel zartheit hier
möglich ist. man wähnt sich bei igor im salon.
Montag, 26. August 2019
Freitag, 16. August 2019
AVIGNON: UN AUTRE MONDE
was für ein zauber, was für eine
eleganz, was für eine sinnlichkeit. im fensterlosen dachboden der collection
lambert in avignon trifft der besucher auf eine rote neonröhre. sie windet sich
durch mehrere hintereinanderliegende kammern, wirkt schwebend, weil sie auf
fast unsichtbaren plexiröhrchen ruht, wirkt endlos, weil eine nebelmaschine die
konturen des langen raumes verschwinden lässt, wirkt magisch, weil gedimmte
bassklänge durch den nebel wummern. eine rote, gewundene neonröhre. ist es eine
grenze, eine flüchtlingsroute, eine lebenslinie, eine börsenkurve, die da im nichts verschwindet?
ist dieses nichts der anfang oder das ziel? was verbindet diese linie, was trennt
sie? «j’ai rêvé d’un autre monde» nennt der künstler claude lévêque das werk,
das er für diesen ort geschaffen hat. eine rote neonröhre, die auf anhieb
gefangen nimmt, fasziniert und zur kontemplation nicht nur einlädt, sondern geradezu verführt. man steht oder sitzt gebannt vor dieser schönheit und dieser
schlichtheit und kann sich nicht sattsehen. un autre monde ist auch das museum
an und für sich: die private collection lambert durfte sich mit staatlicher
unterstützung in zwei prächtigen stadtpalästen einrichten, im innenhof ein von
platanen beschattetes museumscafé. eine seitengasse nur von den grossen strömen
der papstpalast-pilgerer entfernt findet sich hier eine ruhige insel der kunst,
ein kraftort für geist und seele, un autre monde.
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