Dienstag, 8. Oktober 2019
LUZERN: GEWÖHNT EUCH AN LEICHENSÄCKE
es kann kein zufall sein. drei theateraufführungen, in drei wochen, in drei ländern, und immer liegt ein leichensack auf der bühne. bei "how to get rid of a body" in münchen performt sich der tänzer léonard engel in einen leichensack (weiss) und wieder raus, beim "besuch der alten dame" in luzern liegt der leichensack (weiss) mit dem ermordeten alfred ill schon zur begrüssung vor dem publikum, bei "guillaume tell" in lyon wird der alte melchtal, brutal geblendet und erstochen, im leichensack (schwarz) von der bühne geschleppt. dann lese ich heute die kritik zu "geschichten aus dem wiener wald" am momentan sehr angesagten schauspielhaus bochum, und natürlich: "am anfang muss sie wie alle figuren (...) aus einem leichensack herausgeschält werden." der leichensack ist das requisit der stunde. wie zuvor, nicht für stunden, sondern für gefühlte 15 jahre, der monoblockstapelstuhl altea. ob euripides oder shakespeare oder sarah kane, ob castorf regie führte oder viebrock das bühnenbild entwarf - immer wurde so ein weisses unding, das wir zuvor nur aus nachbars wintergarten kannten, zuerst aggressiv herumgeschleudert und dann irgendwann publikumswirksam zerfetzt. immer! altea kostet fr. 5.35 bei lipo, für die theater war das eine budgetschonende investition. der hässliche plastiksessel ist endlich out, jetzt erobert der leichensack die bühnen, auch günstig, gibt's schon ab fr. 14.30. da müssen wir leidenschaftlichen theatergänger und -innen jetzt durch. leichensäcke werden unsere theaterabende pflastern. wetten? für monate? für jahre? und irgendwann in fernen tagen wird auch dieses requisit im leichensack der theatergeschichte entsorgt, ausser jener für rigolettos tochter gilda, der war bei verdi 1851 tatsächlich fester bestandteil der story, zu himmlischer musik.
Sonntag, 6. Oktober 2019
LYON: GUILLAUME TELL
die eigernordwand, so hoch wie die bühne und teilweise im nebel, davor ein grosses weisses podest - voilà, la suisse. auf dem podest tanzt ein junges paar zur hirtenidylle in rossinis ouverture einen eleganten pas de deux, eine cellistin begleitet die beiden. da taucht plötzlich ein droog aus "clockwork orange" auf, stört die tänzer, bedroht sie dann immer direkter und hackt schliesslich das cello mit dem baseballschläger zu kleinholz. angst, gewalt, entsetzen - darum geht es tobias kratzer in seiner inszenierung von "guillaume tell" an der opéra national in lyon. schwarze farbe rinnt über die eigernordwand, das volk ist irritiert und verunsichert, noch so ein zeichen. die andere geschichte, die er uns erzählen will, ist jene von der revolutionären kraft der musik (rossinis tell war eine der ersten risorgimento-opern): zum rütlischwur kommen streicher (unterwalden), holzbläser (schwyz) und blechbläser (uri) auf die bühne, instrumente statt mistgabeln und waffen, ein eindrückliches, ein utopisches bild. schade, dass dirigent daniele rustioni da nicht mithalten kann. zwischentöne sind seine sache nicht, er dirigiert routiniert-plakativ und (zu) oft galoppiert ihm der verzwickte rossini irgendwo zwischen orchestergraben und bühne davon. das schmälert nicht die leistung des hochkarätigen sängerensembles: vor allem nicola alaimo (tell), john osborn (arnold) und jane archibald (mathilde) zeichnen figuren von tiefer zerrissenheit, von tiefer menschlichkeit und formen aus dem gründungsmythos der schweiz eine zeitlose politische parabel. jemmy (walterli) verkriecht sich beim finalen freiheitsrausch unter den tisch, traumatisiert, er hat zu viel erlebt, er traut der sache nicht. begeisterter applaus für diese stringente lesart.
Dienstag, 1. Oktober 2019
ASCONA: DIE BRÜSTE DER WAHRHEIT
intensiv duften die feigenbäume und der jasmin, in der
ferne ertönt fein der monotone gesang der kirchenglocken, zuerst von ascona her,
dann von losone. idylle am sonntagmorgen. und dann, zwischen zengarten und teepavillon,
rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrmm rrrrrrrrrrrrmm, ein laubbläser. hier, in diesem stillen,
verwunschenen park. ein laubbläser. das ist die stunde der wahrheit auf dem
monte verità. doch die ganzen magnetischen anomalien, die strahlungen der
ultrabasischen gesteine, die in dieser zone vorherrschen und die
anziehungskraft dieses ortes wesentlich ausmachen („diorite, gabbros,
peridotite, amphibolite“ – im guide eindruckheischend aufgelistet), sie alle
kommen dem laubbläser nicht bei. ein spezieller ort. und jetzt die gelegenheit,
endlich harald szeemanns legendäre ausstellung „le mammelle della verità“ (die
brüste der wahrheit) zu besichtigen, die 1978 hier startete, dann in halb
europa zu sehen war und seit zwei jahren, restauriert, wieder zugänglich ist. in
der casa anatta lässt eine geradezu berauschende fülle von exponaten die
geschichte des monte verità ab 1900 lebendig werden: wie sich zunächst die vegetarierinnen
und nudisten hier tummelten, dann immer mehr künstlerinnen, anarchisten,
intellektuelle (aus platzgründen hier kein namedropping). man taucht ein und glaubt
zu spüren, wie die magische atmosphäre sie alle in aufbruchstimmung versetzte
und zu alternativen lebensentwürfen inspirierte. ein ort als droge, ein
faszinierender hügel der utopien. 600 personen mit 600 verschiedenen
paradiesvorstellungen machte szeemann aus. wo trifft sich die europäische
intelligenz eigentlich heute?
Samstag, 28. September 2019
LUZERN: DER BESUCH DER ALTEN DAME
der leichensack mit dem toten alfred ill liegt gleich am anfang schon vor uns. claire zachanassian, der dürrenmattsche racheengel, hat ihr ziel erreicht. sie lässt das ergebnis noch filmisch dokumentieren, und dann weg mit ihm. "der besuch der alten dame" beginnt am luzerner theater mit seinem ende: güllen bekommt seine milliarde, die alte ihren toten peiniger. das griechische regie-duo angeliki papoulia und christos passalis hat in der vergangenen saison mit einer wunderbar geheimnisvollen und bildstarken "alkestis" sein flair für schwere stoffe, für menschliche abgründe bewiesen. na dann lassen wir die zwei doch aus der güllen-komödie eine griechische tragödie basteln, mag man sich im theater gesagt haben. das war keine gute idee. die griechen erzählen die geschichte retour, inspiriert vom film noir, rückblende auf rückblende, was dem spannungsbogen nur abträglich ist, vieles gerät lähmend langatmig. güllen ist hier eine art treib- und triebhaus, hinter plastikfolien wird intrigiert, hinter plastikfolien wird gemetzelt, hinter plastikfolien wird das intrigieren und das metzeln gefilmt - und ja, zwischendurch verirren sich auch mal ein paar nach vorne auf die bühne, wo sie dann viel in megaphone brüllen, lärm, chaos. die verführbarkeit der masse bleibt so reine behauptung, nachvollziehbar ist sie nicht. flach auch die hauptfiguren: tatort-kommissarin delia mayer geht als zachanassian jede durchtriebenheit und kälte ab, christian baus als bürgermeister kommt über klischees kaum hinaus. da wird zum glück noch der echte luzerner stadtpräsident eingeblendet, der über den zunehmenden gemeinschaftshemmenden individualismus sinnieren darf. auch kein hammer, aber wenigstens authentisch.
Montag, 23. September 2019
MÜNCHEN: HOW TO GET RID OF A BODY
cool sieht er aus. a touch of spiderman. léonard engel hat
sich ein ganzkörpertrikot mit zebramuster übergezogen. jetzt wälzt sich der
choreograf und performer, der früher acht jahre im bayerischen staatsballett
tanzte, auf dem boden, streckt arme und beine von sich, zieht sich zusammen,
verknotet sich und bewegt sich robbend auf eine ecke der bühne hin, wo ein
teppich mit zebramuster liegt. zebra auf zebra: solange er sich nicht bewegt,
wird der tänzer jetzt quasi unsichtbar, sobald er sich bewegt, setzen die
irritationen beim zuschauer ein. wölbt sich jetzt der teppich? oder der tänzer
drauf? ist er überhaupt noch da? strategien der täuschung und verfremdung sind
léonard engels leidenschaft. „how to get rid of a body. a magic manual“ heisst
der abend im theater hochx in der münchner au. engel versucht sich – das warum
bleibt er uns schuldig – auch noch in einem leichensack zum verschwinden zu
bringen und in einem wurzelgestrüpp. alles sehr experimentierfreudig und langsam
und beschaulich, alles auch ein wenig selbstverliebt. fürs publikum ist diese
sehschule mal amüsante, mal anstrengende herausforderung. anstrengend vor allem
dann, wenn nicht nur die sehnerven gefordert sind, sondern der komponist korhan
erel von der hinterbühne aus mit arg krassen live electronics auch noch die
hörnerven attackiert. dann wird einem die erklärte botschaft des abends doppelt
bewusst: man kann seinem eigenen körper nicht entkommen. er bleibt uns, hartnäckig,
allen attacken und transformationen zum trotz.
Sonntag, 22. September 2019
MÜNCHEN: MY FAIR LADY
was leichtes, beschwingtes zum oktoberfest-auftakt.
das war die idee. vorglühen mit musical-melodien. also ab ins staatstheater am
gärtnerplatz, zu „my fair lady“. das musical von alan jay lerner und frederick
loewe hat es in sich: „es grünt so grün, wenn spaniens blüten blüh’n“, „ich
hätt‘ getanzt heut‘ nacht“, „mit ‚nem kleinen stückchen glück“ – das sind nicht
einfach hits, das sind ziemlich geniale ohrwürmer. oleg ptashnikov dirigiert
sie mit viel witz und charme und tempo. dass der sänger stefan bischoff alle englischen unterschicht-dialektpassagen zudem ins hardcore-bayrische übertragen hat,
ist ein vergnügen für sich, a mordsgaudi. ziel also schon fast erreicht. die inszenierung
von gärtnerplatz-intendant josef e. köpplinger allerdings hat etwas derart hausbackenes,
dass man trotzdem nicht wirklich froh werden mag. mit viel schmissiger
choreografie wird der mangel an neuen ideen nur dürftig verdeckt. der
strassenmarkt vor der covent garden opera; das haus, wo professor higgins dem
blumenmädchen eliza sprache und stil beizubringen versucht; die pferderennbahn
in ascot – auch diese bühnenbilder von rainer sinell sehen genau so bieder-spiessig
aus wie in inszenierungen von 1962 oder 1974 oder 1993. und was für die
dekoration gilt, gilt leider auch für den humor: kübelweise verstaubte und plumpe
pointen aus dem letzten jahrtausend, die zudem die grenzen zum
frauenfeindlichen teilweise massiv überschreiten. herr köpplinger, über die
bücher, wir haben 2019!
Mittwoch, 18. September 2019
NÜRNBERG: JOANA MALLWITZ PROBT DON CARLOS
durchs
band euphorisch wird joana mallwitz von leuten beschrieben, die mit ihr
zusammenarbeiten oder schon eines ihrer dirigate erlebt haben. superlative noch
und noch. und bereits auch vergleiche mit karajan oder petrenko. dabei ist die
generalmusikdirektorin am staatstheater nürnberg gerade mal 33 jahre alt. man
darf also gespannt sein – und nutzt deshalb gerne die gelegenheit, im rahmen
einer öffentlichen probe im opernhaus zu besichtigen, wie frau mallwitz
arbeitet. was als erstes auffällt: sie fällt zunächst gar nicht auf, keine allüren,
nix, die schlanke frau mit den kurzen blonden haaren und den langen armen
könnte auch die violinistin aus der dritten reihe sein. was als zweites
auffällt, wenn sie dann loslegt: ihr körpereinsatz, voller körpereinsatz,
totaler körpereinsatz. sie dirigiert nicht nur mit den händen, den armen, den
augen, sie ist dermassen in bewegung, tanzend, springend, dass das podest
beinahe zu klein wird. auch dieser körpereinsatz ist weder allüre noch
show, nein, joana mallwitz nimmt das orchester und die solisten auf diese weise
mit, hinein in einen strudel, das ist kein musiktheoretischer ansatz, das ist
ihre form von kommunikation, das ist physische aktion, das ist energie pur, die funken schlägt. wir
sind bei verdi, „don carlos“, vierter akt, ein dunkler moment: zwei bässe sind
auf der bühne, der einsame spanische könig philipp (nicolai karnolsky) und der
eiskalte grossinquisitor (taras konoshchenko), der ihm rät, seinen sohn carlos
aus dem weg zu räumen. was bei anderen dirigenten oft zu wohligem schaudern
führt, gestaltet die mallwitz mit ihrer körpersprache zu einem ebenso düsteren
wie explosiven polit-krimi. atemberaubend.
(einen tag nach diesem post wurde joana mallwitz in der kritikerumfrage des fachmagazins "opernwelt" zur DIRIGENTIN DES JAHRES gewählt)
(einen tag nach diesem post wurde joana mallwitz in der kritikerumfrage des fachmagazins "opernwelt" zur DIRIGENTIN DES JAHRES gewählt)
Montag, 16. September 2019
MÜNCHEN: AIDA IM ÄGYPTISCHEN MUSEUM
am
ende, nach ihrem liebestod im felsengrab, stehen aida und radamès je in einer vitrine,
einbandagiert und konserviert für die ewigkeit. opera incognita zeigt giuseppe verdis
„aida“ im staatlichen museum ägyptischer kunst in münchen. in der kühlen
sichtbetonhalle, die sonst für wechselausstellungen verwendet wird, sind diese
gläsernen schaukästen die einzigen bühnenelemente. auch verdi selbst wird mal
in einer vitrine vorbeigerollt, oder eine altägyptische sitzgelegenheit, oder
ein dolch aus dem italienischen risorgimento (der entstehungszeit der oper),
oder die legendäre schaufel aus hans neuenfels´ skandal-inszenierung von „aida“
1981 in frankfurt, die als grundstein moderner musiktheaterregie gilt.
mit viel augenzwinkern also verfolgt regisseur andreas wiedermann hier william
faulkners berühmten ansatz: „es ereignet sich nichts neues. es sind immer
dieselben alten geschichten, die von immer neuen menschen erlebt werden.“ was
eignet sich da besser als die geschichte der äthiopischen sklavin und des
ägyptischen feldherrn, deren liebe alle grenzen, schichten und konventionen
hinter sich lässt? mit zweidimensionalen gebärden bewegen sich protagonisten
und chöre – originell und überzeugend – der endlosen betonwand entlang, wie auf
alten vasen oder steinernen vliesen. ganz schön mehrdimensional dafür die
musik: der musikalische leiter ernst bartmann hat für das bloss 13köpfige
orchester eine fassung geschrieben, die weder die triumphale wucht noch die
feinheiten des originals vermissen lässt. was auch für die solisten gilt: kristin
ebner (aida), anton klotzner (radamès), robson bueno tavares (ramfis) und
torsten petsch (amonasro) verfügen alle über phantastisches stimmmaterial.
grosse oper im museum – die alten geschichten, immer wieder neu.
Freitag, 6. September 2019
LUZERN: TRISTAN UND ISOLDE, FRAGMENT
das war nun nicht wirklich festival-würdig: die
amerikanische sopranistin christine goerke kämpft mit dem permanent
runterrutschenden notenständer, im zwei-minuten-takt hebt sie ihn wieder hoch;
der australische tenor stuart skelton kämpft mit einer – kein witz –
runterrutschenden hose, im zwei-minuten-takt klammert sich seine linke hand
daran fest, um ein malheur zu vermeiden. das ist erstens ärgerlich und zweitens
weder der konzentration des publikums noch jener der protagonisten förderlich.
und die sollten hier beim lucerne festival doch immerhin den zweiten aufzug von
richard wagners „tristan und isolde“ stemmen, ein musikalischer und stimmlicher
kraftakt sondergleichen, gerade wenn er nur konzertant dargeboten wird. die
ersten rund 30 minuten kämpfen tristan und isolde zudem auch noch mit dem royal
concertgebouw orchestra, das von daniel harding zu nicht eben
sängerfreundlicher lautstärke hochgepeitscht wird, und da die solisten hinter
dem orchester platziert sind, bleiben sie oft schlicht chancenlos. erst zum „o
sink hernieder, nacht der liebe“ pegelt sich das alles ein, wird plötzlich
hörbar, dass dieser erotische rausch nicht von einer klangmasse, sondern von 80
einzelnen instrumenten begleitet und befeuert wird. am schluss begeisterter
applaus – was vor allem eines beweist: dass wagners wahnsinnswerk wunder wirkt,
dass auch defekte notenständer und schlecht sitzende hosen diesem ekstatischen
und schier endlosen ringen um liebe und tod nichts anhaben können.
Mittwoch, 4. September 2019
LUZERN: KUNST AM XUND-BAU
eine elefantenhaut empfängt die studentinnen und studenten in der eingangshalle des neuen bildungszentrums von xund an der
spitalstrasse in luzern. eine elefantenhaut, raumhoch und entsprechend
dominant, ein holzrelief des stanser künstlers rochus lussi. wer hier studiert,
braucht eine elefantenhaut, könnte die botschaft lauten. doch das ist nicht
lussis absicht. mit der elefantenhaut und auch der ebenso grossen menschenhaut
und der baumrinde in den oberen etagen will er hier, im umfeld der
gesundheitsberufe, sensibilität und verletzlichkeit thematisieren, den mal
groben, mal feinen austausch zwischen aussen und innen, zärtlichkeit und
abwehr. es sind wuchtige werke, die zu differenzierten überlegungen einladen
wollen. einen verspielteren, leiseren zugang hat die zweite künstlerin gewählt,
die in zürich wirkende obwaldnerin judith albert. ihre zeichnungen, in den
treppenhäusern und im veloraum, wirken wie mit weisser kreide auf den
sichtbeton gekritzelt, fröhlich-helle graffitis in den eher abweisend-dunklen räumen
des sonst lichtdurchfluteten, grosszügigen, eleganten baus von antti rüegg
(metron). doch es sind keine wandmalereien, sondern beamer-projektionen, die zu
leben beginnen, sobald ein mensch sie quert; dann wandern die striche über haut
und kleider. „streiflichter“ nennt judith albert sie sinnigerweise. sie setzte
sich dafür in den xund-unterricht und zeichnete: blutbahnen, katheter,
röntgenaufnahmen, messgeräte. nicht sie zieren jetzt aber die wände, sondern
davon inspirierte abstrakte spielereien, die den medizinischen hintergrund nur
noch ab und zu erahnen lassen. der bezug zum ort ist da, ganz fein schwingt er noch
mit.
Montag, 26. August 2019
LUZERN: IGOR LEVIT GEHT AUFS GANZE
alle mögen
igor levit. weil er erstens ein sympathischer kerl ist, dem die leicht
diabolischen züge der anderen jungen russischstämmigen piano-berserker abgehen.
und weil er zweitens eine meinung hat, eine haltung, weil er nicht schweigt zu
dingen jenseits der kunst. auch deshalb passt levit bestens zum diesjährigen
lucerne festival mit dem generalthema „macht“. frage im programmheft: „könnten
sie sich vorstellen, eine politische bewegung mit allen ihnen zur verfügung
stehenden mitteln zu unterstützen?“ antwort levit: „auf jeden fall. zum teufel
mit der künstlerischen neutralität! (…) doch natürlich muss ich die möglichkeit
haben, auch wieder abstand zu nehmen, wenn mir das gebaren der mächtigen
missfällt.“ als zugabe nach seinem zweiten rezital in luzern spielt levit paul
dessaus „guernica“, eine bedrückende meditation über sinnlose zerstörung,
inspiriert durch picassos gemälde, mit dem sich dieser gegen künstlerische
gleichgültigkeit wehrte, wenn die höchsten werte der humanität und zivilisation
auf dem spiel stehen. das ist ein signal, das ist levit. der mann geht aufs
ganze, auch künstlerisch: alle 32 klaviersonaten von ludwig van beethoven
spielt er dieses und nächstes jahr in luzern, ein kraftakt. doch es geht levit
nicht um den effekt, er nimmt die töne in sich auf, hört ihnen nach, bringt den
ganzen reichtum dieser klavierwerke zum klingen: verspieltes, verzehrendes,
versehrtes, verwundertes, verklärtes. fünf sonaten sind‘s diesmal, von der
aufmüpfigen in fis-dur (op. 78) bis zur melancholischen in es-dur („les adieux“,
op. 81a). levits interpretation erbringt den beweis, wie viel intimität der
grosse konzertsaal im kkl durchaus auch bieten kann, wie viel zartheit hier
möglich ist. man wähnt sich bei igor im salon.
Freitag, 16. August 2019
AVIGNON: UN AUTRE MONDE
was für ein zauber, was für eine
eleganz, was für eine sinnlichkeit. im fensterlosen dachboden der collection
lambert in avignon trifft der besucher auf eine rote neonröhre. sie windet sich
durch mehrere hintereinanderliegende kammern, wirkt schwebend, weil sie auf
fast unsichtbaren plexiröhrchen ruht, wirkt endlos, weil eine nebelmaschine die
konturen des langen raumes verschwinden lässt, wirkt magisch, weil gedimmte
bassklänge durch den nebel wummern. eine rote, gewundene neonröhre. ist es eine
grenze, eine flüchtlingsroute, eine lebenslinie, eine börsenkurve, die da im nichts verschwindet?
ist dieses nichts der anfang oder das ziel? was verbindet diese linie, was trennt
sie? «j’ai rêvé d’un autre monde» nennt der künstler claude lévêque das werk,
das er für diesen ort geschaffen hat. eine rote neonröhre, die auf anhieb
gefangen nimmt, fasziniert und zur kontemplation nicht nur einlädt, sondern geradezu verführt. man steht oder sitzt gebannt vor dieser schönheit und dieser
schlichtheit und kann sich nicht sattsehen. un autre monde ist auch das museum
an und für sich: die private collection lambert durfte sich mit staatlicher
unterstützung in zwei prächtigen stadtpalästen einrichten, im innenhof ein von
platanen beschattetes museumscafé. eine seitengasse nur von den grossen strömen
der papstpalast-pilgerer entfernt findet sich hier eine ruhige insel der kunst,
ein kraftort für geist und seele, un autre monde.
Samstag, 20. Juli 2019
MÜNCHEN: FRAU KULJIĆ IST HERR SUBUTEX
„ich
entschuldige mich für nichts und ich werde nicht jammern.“ klare ansage. was
virginie despentes ihrer „king kong theorie“ vorangestellt hat, gilt auch für
„das leben des vernon subutex“, ihr gigantisches gesellschaftspanorama, das sie
rund um den bankrott gegangenen plattenhändler subutex entwickelt. einen mann
als hauptfigur hat sich die radikalfeministin ausgedacht, damit der roman
ernster genommen wird. diese taktik ist hundertprozentig aufgegangen. die
münchner kammerspiele drehen das nun noch eine runde weiter und lassen den mann
von einer frau spielen: jelena kuljić, ursprünglich jazzsängerin, ist eine
top-besetzung für diesen subutex. mit ihrer dunklen stimme liefert sie den
perfekten sound für diese milieustudie. die bühne, ihre bühne ist eine
überdimensionierte vinylplatte, die all die randexistenzen ins zentrum spielt.
rattenscharfe dialoge und witzig-abgründige soloeinlagen, düstere filmsequenzen
und immer wieder musik schaffen eine dichte atmosphäre, die dieses leben
zwischen gewalt und pornographie, zwischen xenophobie und cybermobbing verdaut
und verarbeitet. szenenapplaus gibt´s für annette paulmann, die als clochard im
motörhead-t-shirt und springmilbengilet herzergreifend adeles bond-song „let the
sky fall“ schmettert. in diesem hervorragenden ensemble, das sie stützt und
trägt, bleibt jelena kuljić das epizentrum, die starke figur, die bei allen
existenzängsten nie die selbstachtung verliert. genau so ein mensch muss der
autorin vorgeschwebt haben, als sie subutex im dritten band zum guru einer
friedlichen weltverbesserersekte aufsteigen lässt. was für ein jahrmarkt der
hoffnungen und abgründe. regisseur stefan pucher gelingt hier ein sehr
vielschichtiger abend, musikalisch, poetisch, melancholisch, deprimierend. eine
gefühlsgranate, fast wie in der oper.
Mittwoch, 17. Juli 2019
MÜNCHEN: WOLKEN.HEIM.
elfriede
jelinek schrieb diesen text 1988. „wolken.heim.“ beschäftigt sich mit der
deutschen romantik und damit, wie der deutsche idealismus ungebremst zum
deutschen nationalismus führt. die deutsche seele leidet und kommt nicht zur
ruhe. 1988 liegt 31 jahre zurück, würde man allzu gerne denken, doch dieses
zeitzeugnis ist unvermindert aktuell, jelinek könnte dieses stück auch 2019
geschrieben haben. das macht den abend so beklemmend. regisseur matthias
rippert, so alt wie der text, verteilt diesen im marstall des münchner
residenztheaters auf fünf personen. in einem sterilen grauen und grell
ausgeleuchteten wartesaal arbeiten sich die fünf ausschliesslich grau
gekleideten an jelineks wortmonster ab. ab und zu öffnen sie hinten zwei türen,
dort glüht und lodert es. die hölle? die zukunft? der deutsche wald? angesichts
dieser ungewissheiten versuchen sich die grauen mäuse ihrer identität zu
vergewissern, sehr viel „wir“ lässt da sehr wenig platz für die anderen. „wir
brauchen nur uns.“ oder: „wir haben nicht die einheit ausser uns, wir haben sie
gefunden.“ oder: „der geist ist das bei sich selbst sein. wie wir. wie wir.“
hölderlin und kleist, heidegger und die raf-terroristen haben jelinek material
geliefert – material für all die dummen, all die geifernden, all die
gefährlichen. ob sie einen schuhplattler hinlegen oder blutverschmiert aus dem
krieg heimtorkeln, immer dampft alles von überlegenheit und überheblichkeit.
auch wenn oder gerade weil es, das gelingt der regie und den fünf schauspielern
ganz ausgezeichnet, so beiläufig daherkommt. die dummen biedern sich bei den
geifernden an, die gefährlichen bei den dummen. und ja, es bleibt kein
deutsches phänomen, dieses falsch verstandene wir-gefühl.
Freitag, 5. Juli 2019
GISWIL: GROSSE REINIGUNG
ganz knapp haben wir’s unter das
grosse zelt im gsang bei giswil geschafft. dann entlädt sich ein mordsgewitter.
es prasselt aufs zeltdach, dass man kaum sein gegenüber versteht. mehr prasseln
geht gar nicht. mehr hält das zelt nicht aus. denkt man. und dann knallt wieder
ein donner und es prasselt noch mehr. ein apokalyptischer einstieg in die 14.
ausgabe des volkskulturfests „obwald“.
nach dem aperoplättli ist die atmosphäre rund um den sarnersee keimfrei
gereinigt und pünktlich zum konzertbeginn scheint die sonne in die bäume hinter
der bühne. jetzt beginnt das mazaher ensemble aus ägypten mit der spirituellen
reinigung. wie eine hohepriesterin steht die 68jährige sängerin om sameh auf
der bühne, setzt mit ihrer tiefen stimme, sterotypen tanzschritten und
tranceartigem trommeln zur veränderung unseres bewusstseinszustandes an. die
traditionelle zar-musik will uns mit den geistern und mit uns selbst versöhnen.
wäre da nicht ab und zu ihr schelmisches augenzwinkern in die vordersten
reihen, könnte einen glatt die angst packen vor dieser dunkel-diabolischen
ägypterin. so aber sind wir der inneren harmonie schon wieder einige takte näher
– und bereit für den ersten naturjuiz mit einer obwaldner formation, die genau
so tönt wie sie heisst: heiterluft. das absolute highlight des abends ergibt
sich dann aus der kombination der appenzeller streichmusik vielseitig (fünf
junge mädels) mit dem ägyptischen tarab quintett (fünf ältere herren), die sich
tags zuvor erstmals begegnet sind. beide mit einem hackbrett im zentrum,
beginnen sich die zehn musikalisch subtil zu umgarnen, mal dominiert
nordafrika, mal die ostschweiz, pure spiellust führt zu faszinierenden
klangwelten und einer rasenden standing ovation. gewitter, gesänge,
glücksgefühle – reinigung komplett gelungen.
Abonnieren
Posts (Atom)