Dienstag, 8. Oktober 2019

LUZERN: GEWÖHNT EUCH AN LEICHENSÄCKE

es kann kein zufall sein. drei theateraufführungen, in drei wochen, in drei ländern, und immer liegt ein leichensack auf der bühne. bei "how to get rid of a body" in münchen performt sich der tänzer léonard engel in einen leichensack (weiss) und wieder raus, beim "besuch der alten dame" in luzern liegt der leichensack (weiss) mit dem ermordeten alfred ill schon zur begrüssung vor dem publikum, bei "guillaume tell" in lyon wird der alte melchtal, brutal geblendet und erstochen, im leichensack (schwarz) von der bühne geschleppt. dann lese ich heute die kritik zu "geschichten aus dem wiener wald" am momentan sehr angesagten schauspielhaus bochum, und natürlich: "am anfang muss sie wie alle figuren (...) aus einem leichensack herausgeschält werden." der leichensack ist das requisit der stunde. wie zuvor, nicht für stunden, sondern für gefühlte 15 jahre, der monoblockstapelstuhl altea. ob euripides oder shakespeare oder sarah kane, ob castorf regie führte oder viebrock das bühnenbild entwarf - immer wurde so ein weisses unding, das wir zuvor nur aus nachbars wintergarten kannten, zuerst aggressiv herumgeschleudert und dann irgendwann publikumswirksam zerfetzt. immer! altea kostet fr. 5.35 bei lipo, für die theater war das eine budgetschonende investition. der hässliche plastiksessel ist endlich out, jetzt erobert der leichensack die bühnen, auch günstig, gibt's schon ab fr. 14.30. da müssen wir leidenschaftlichen theatergänger und -innen jetzt durch. leichensäcke werden unsere theaterabende pflastern. wetten? für monate? für jahre? und irgendwann in fernen tagen wird auch dieses requisit im leichensack der theatergeschichte entsorgt, ausser jener für rigolettos tochter gilda, der war bei verdi 1851 tatsächlich fester bestandteil der story, zu himmlischer musik.

Sonntag, 6. Oktober 2019

LYON: GUILLAUME TELL

die eigernordwand, so hoch wie die bühne und teilweise im nebel, davor ein grosses weisses podest - voilà, la suisse. auf dem podest tanzt ein junges paar zur hirtenidylle in rossinis ouverture einen eleganten pas de deux, eine cellistin begleitet die beiden. da taucht plötzlich ein droog aus "clockwork orange" auf, stört die tänzer, bedroht sie dann immer direkter und hackt schliesslich das cello mit dem baseballschläger zu kleinholz. angst, gewalt, entsetzen - darum geht es tobias kratzer in seiner inszenierung von "guillaume tell" an der opéra national in lyon. schwarze farbe rinnt über die eigernordwand, das volk ist irritiert und verunsichert, noch so ein zeichen. die andere geschichte, die er uns erzählen will, ist jene von der revolutionären kraft der musik (rossinis tell war eine der ersten risorgimento-opern): zum rütlischwur kommen streicher (unterwalden), holzbläser (schwyz) und blechbläser (uri) auf die bühne, instrumente statt mistgabeln und waffen, ein eindrückliches, ein utopisches bild. schade, dass dirigent daniele rustioni da nicht mithalten kann. zwischentöne sind seine sache nicht, er dirigiert routiniert-plakativ und (zu) oft galoppiert ihm der verzwickte rossini irgendwo zwischen orchestergraben und bühne davon. das schmälert nicht die leistung des hochkarätigen sängerensembles: vor allem nicola alaimo (tell), john osborn (arnold) und jane archibald (mathilde) zeichnen figuren von tiefer zerrissenheit, von tiefer menschlichkeit und formen aus dem gründungsmythos der schweiz eine zeitlose politische parabel. jemmy (walterli) verkriecht sich beim finalen freiheitsrausch unter den tisch, traumatisiert, er hat zu viel erlebt, er traut der sache nicht. begeisterter applaus für diese stringente lesart.

Dienstag, 1. Oktober 2019

ASCONA: DIE BRÜSTE DER WAHRHEIT

intensiv duften die feigenbäume und der jasmin, in der ferne ertönt fein der monotone gesang der kirchenglocken, zuerst von ascona her, dann von losone. idylle am sonntagmorgen. und dann, zwischen zengarten und teepavillon, rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrmm rrrrrrrrrrrrmm, ein laubbläser. hier, in diesem stillen, verwunschenen park. ein laubbläser. das ist die stunde der wahrheit auf dem monte verità. doch die ganzen magnetischen anomalien, die strahlungen der ultrabasischen gesteine, die in dieser zone vorherrschen und die anziehungskraft dieses ortes wesentlich ausmachen („diorite, gabbros, peridotite, amphibolite“ – im guide eindruckheischend aufgelistet), sie alle kommen dem laubbläser nicht bei. ein spezieller ort. und jetzt die gelegenheit, endlich harald szeemanns legendäre ausstellung „le mammelle della verità“ (die brüste der wahrheit) zu besichtigen, die 1978 hier startete, dann in halb europa zu sehen war und seit zwei jahren, restauriert, wieder zugänglich ist. in der casa anatta lässt eine geradezu berauschende fülle von exponaten die geschichte des monte verità ab 1900 lebendig werden: wie sich zunächst die vegetarierinnen und nudisten hier tummelten, dann immer mehr künstlerinnen, anarchisten, intellektuelle (aus platzgründen hier kein namedropping). man taucht ein und glaubt zu spüren, wie die magische atmosphäre sie alle in aufbruchstimmung versetzte und zu alternativen lebensentwürfen inspirierte. ein ort als droge, ein faszinierender hügel der utopien. 600 personen mit 600 verschiedenen paradiesvorstellungen machte szeemann aus. wo trifft sich die europäische intelligenz eigentlich heute?

Samstag, 28. September 2019

LUZERN: DER BESUCH DER ALTEN DAME

der leichensack mit dem toten alfred ill liegt gleich am anfang schon vor uns. claire zachanassian, der dürrenmattsche racheengel, hat ihr ziel erreicht. sie lässt das ergebnis noch filmisch dokumentieren, und dann weg mit ihm. "der besuch der alten dame" beginnt am luzerner theater mit seinem ende: güllen bekommt seine milliarde, die alte ihren toten peiniger. das griechische regie-duo angeliki papoulia und christos passalis hat in der vergangenen saison mit einer wunderbar geheimnisvollen und bildstarken "alkestis" sein flair für schwere stoffe, für menschliche abgründe bewiesen. na dann lassen wir die zwei doch aus der güllen-komödie eine griechische tragödie basteln, mag man sich im theater gesagt haben. das war keine gute idee. die griechen erzählen die geschichte retour, inspiriert vom film noir, rückblende auf rückblende, was dem spannungsbogen nur abträglich ist, vieles gerät lähmend langatmig. güllen ist hier eine art treib- und triebhaus, hinter plastikfolien wird intrigiert, hinter plastikfolien wird gemetzelt, hinter plastikfolien wird das intrigieren und das metzeln gefilmt - und ja, zwischendurch verirren sich auch mal ein paar nach vorne auf die bühne, wo sie dann viel in megaphone brüllen, lärm, chaos. die verführbarkeit der masse bleibt so reine behauptung, nachvollziehbar ist sie nicht. flach auch die hauptfiguren: tatort-kommissarin delia mayer geht als zachanassian jede durchtriebenheit und kälte ab, christian baus als bürgermeister kommt über klischees kaum hinaus. da wird zum glück noch der echte luzerner stadtpräsident eingeblendet, der über den zunehmenden gemeinschaftshemmenden individualismus sinnieren darf. auch kein hammer, aber wenigstens authentisch.

Montag, 23. September 2019

MÜNCHEN: HOW TO GET RID OF A BODY

cool sieht er aus. a touch of spiderman. léonard engel hat sich ein ganzkörpertrikot mit zebramuster übergezogen. jetzt wälzt sich der choreograf und performer, der früher acht jahre im bayerischen staatsballett tanzte, auf dem boden, streckt arme und beine von sich, zieht sich zusammen, verknotet sich und bewegt sich robbend auf eine ecke der bühne hin, wo ein teppich mit zebramuster liegt. zebra auf zebra: solange er sich nicht bewegt, wird der tänzer jetzt quasi unsichtbar, sobald er sich bewegt, setzen die irritationen beim zuschauer ein. wölbt sich jetzt der teppich? oder der tänzer drauf? ist er überhaupt noch da? strategien der täuschung und verfremdung sind léonard engels leidenschaft. „how to get rid of a body. a magic manual“ heisst der abend im theater hochx in der münchner au. engel versucht sich – das warum bleibt er uns schuldig – auch noch in einem leichensack zum verschwinden zu bringen und in einem wurzelgestrüpp. alles sehr experimentierfreudig und langsam und beschaulich, alles auch ein wenig selbstverliebt. fürs publikum ist diese sehschule mal amüsante, mal anstrengende herausforderung. anstrengend vor allem dann, wenn nicht nur die sehnerven gefordert sind, sondern der komponist korhan erel von der hinterbühne aus mit arg krassen live electronics auch noch die hörnerven attackiert. dann wird einem die erklärte botschaft des abends doppelt bewusst: man kann seinem eigenen körper nicht entkommen. er bleibt uns, hartnäckig, allen attacken und transformationen zum trotz.

Sonntag, 22. September 2019

MÜNCHEN: MY FAIR LADY

was leichtes, beschwingtes zum oktoberfest-auftakt. das war die idee. vorglühen mit musical-melodien. also ab ins staatstheater am gärtnerplatz, zu „my fair lady“. das musical von alan jay lerner und frederick loewe hat es in sich: „es grünt so grün, wenn spaniens blüten blüh’n“, „ich hätt‘ getanzt heut‘ nacht“, „mit ‚nem kleinen stückchen glück“ – das sind nicht einfach hits, das sind ziemlich geniale ohrwürmer. oleg ptashnikov dirigiert sie mit viel witz und charme und tempo. dass der sänger stefan bischoff alle englischen unterschicht-dialektpassagen zudem ins hardcore-bayrische übertragen hat, ist ein vergnügen für sich, a mordsgaudi. ziel also schon fast erreicht. die inszenierung von gärtnerplatz-intendant josef e. köpplinger allerdings hat etwas derart hausbackenes, dass man trotzdem nicht wirklich froh werden mag. mit viel schmissiger choreografie wird der mangel an neuen ideen nur dürftig verdeckt. der strassenmarkt vor der covent garden opera; das haus, wo professor higgins dem blumenmädchen eliza sprache und stil beizubringen versucht; die pferderennbahn in ascot – auch diese bühnenbilder von rainer sinell sehen genau so bieder-spiessig aus wie in inszenierungen von 1962 oder 1974 oder 1993. und was für die dekoration gilt, gilt leider auch für den humor: kübelweise verstaubte und plumpe pointen aus dem letzten jahrtausend, die zudem die grenzen zum frauenfeindlichen teilweise massiv überschreiten. herr köpplinger, über die bücher, wir haben 2019!

Mittwoch, 18. September 2019

NÜRNBERG: JOANA MALLWITZ PROBT DON CARLOS

durchs band euphorisch wird joana mallwitz von leuten beschrieben, die mit ihr zusammenarbeiten oder schon eines ihrer dirigate erlebt haben. superlative noch und noch. und bereits auch vergleiche mit karajan oder petrenko. dabei ist die generalmusikdirektorin am staatstheater nürnberg gerade mal 33 jahre alt. man darf also gespannt sein – und nutzt deshalb gerne die gelegenheit, im rahmen einer öffentlichen probe im opernhaus zu besichtigen, wie frau mallwitz arbeitet. was als erstes auffällt: sie fällt zunächst gar nicht auf, keine allüren, nix, die schlanke frau mit den kurzen blonden haaren und den langen armen könnte auch die violinistin aus der dritten reihe sein. was als zweites auffällt, wenn sie dann loslegt: ihr körpereinsatz, voller körpereinsatz, totaler körpereinsatz. sie dirigiert nicht nur mit den händen, den armen, den augen, sie ist dermassen in bewegung, tanzend, springend, dass das podest beinahe zu klein wird. auch dieser körpereinsatz ist weder allüre noch show, nein, joana mallwitz nimmt das orchester und die solisten auf diese weise mit, hinein in einen strudel, das ist kein musiktheoretischer ansatz, das ist ihre form von kommunikation, das ist physische aktion, das ist energie pur, die funken schlägt. wir sind bei verdi, „don carlos“, vierter akt, ein dunkler moment: zwei bässe sind auf der bühne, der einsame spanische könig philipp (nicolai karnolsky) und der eiskalte grossinquisitor (taras konoshchenko), der ihm rät, seinen sohn carlos aus dem weg zu räumen. was bei anderen dirigenten oft zu wohligem schaudern führt, gestaltet die mallwitz mit ihrer körpersprache zu einem ebenso düsteren wie explosiven polit-krimi. atemberaubend.

(einen tag nach diesem post wurde joana mallwitz in der kritikerumfrage des fachmagazins "opernwelt" zur DIRIGENTIN DES JAHRES gewählt)

Montag, 16. September 2019

MÜNCHEN: AIDA IM ÄGYPTISCHEN MUSEUM

am ende, nach ihrem liebestod im felsengrab, stehen aida und radamès je in einer vitrine, einbandagiert und konserviert für die ewigkeit. opera incognita zeigt giuseppe verdis „aida“ im staatlichen museum ägyptischer kunst in münchen. in der kühlen sichtbetonhalle, die sonst für wechselausstellungen verwendet wird, sind diese gläsernen schaukästen die einzigen bühnenelemente. auch verdi selbst wird mal in einer vitrine vorbeigerollt, oder eine altägyptische sitzgelegenheit, oder ein dolch aus dem italienischen risorgimento (der entstehungszeit der oper), oder die legendäre schaufel aus hans neuenfels´ skandal-inszenierung von „aida“ 1981 in frankfurt, die als grundstein moderner musiktheaterregie gilt. mit viel augenzwinkern also verfolgt regisseur andreas wiedermann hier william faulkners berühmten ansatz: „es ereignet sich nichts neues. es sind immer dieselben alten geschichten, die von immer neuen menschen erlebt werden.“ was eignet sich da besser als die geschichte der äthiopischen sklavin und des ägyptischen feldherrn, deren liebe alle grenzen, schichten und konventionen hinter sich lässt? mit zweidimensionalen gebärden bewegen sich protagonisten und chöre – originell und überzeugend – der endlosen betonwand entlang, wie auf alten vasen oder steinernen vliesen. ganz schön mehrdimensional dafür die musik: der musikalische leiter ernst bartmann hat für das bloss 13köpfige orchester eine fassung geschrieben, die weder die triumphale wucht noch die feinheiten des originals vermissen lässt. was auch für die solisten gilt: kristin ebner (aida), anton klotzner (radamès), robson bueno tavares (ramfis) und torsten petsch (amonasro) verfügen alle über phantastisches stimmmaterial. grosse oper im museum – die alten geschichten, immer wieder neu.

Freitag, 6. September 2019

LUZERN: TRISTAN UND ISOLDE, FRAGMENT

das war nun nicht wirklich festival-würdig: die amerikanische sopranistin christine goerke kämpft mit dem permanent runterrutschenden notenständer, im zwei-minuten-takt hebt sie ihn wieder hoch; der australische tenor stuart skelton kämpft mit einer – kein witz – runterrutschenden hose, im zwei-minuten-takt klammert sich seine linke hand daran fest, um ein malheur zu vermeiden. das ist erstens ärgerlich und zweitens weder der konzentration des publikums noch jener der protagonisten förderlich. und die sollten hier beim lucerne festival doch immerhin den zweiten aufzug von richard wagners „tristan und isolde“ stemmen, ein musikalischer und stimmlicher kraftakt sondergleichen, gerade wenn er nur konzertant dargeboten wird. die ersten rund 30 minuten kämpfen tristan und isolde zudem auch noch mit dem royal concertgebouw orchestra, das von daniel harding zu nicht eben sängerfreundlicher lautstärke hochgepeitscht wird, und da die solisten hinter dem orchester platziert sind, bleiben sie oft schlicht chancenlos. erst zum „o sink hernieder, nacht der liebe“ pegelt sich das alles ein, wird plötzlich hörbar, dass dieser erotische rausch nicht von einer klangmasse, sondern von 80 einzelnen instrumenten begleitet und befeuert wird. am schluss begeisterter applaus – was vor allem eines beweist: dass wagners wahnsinnswerk wunder wirkt, dass auch defekte notenständer und schlecht sitzende hosen diesem ekstatischen und schier endlosen ringen um liebe und tod nichts anhaben können.   

Mittwoch, 4. September 2019

LUZERN: KUNST AM XUND-BAU

eine elefantenhaut empfängt die studentinnen und studenten in der eingangshalle des neuen bildungszentrums von xund an der spitalstrasse in luzern. eine elefantenhaut, raumhoch und entsprechend dominant, ein holzrelief des stanser künstlers rochus lussi. wer hier studiert, braucht eine elefantenhaut, könnte die botschaft lauten. doch das ist nicht lussis absicht. mit der elefantenhaut und auch der ebenso grossen menschenhaut und der baumrinde in den oberen etagen will er hier, im umfeld der gesundheitsberufe, sensibilität und verletzlichkeit thematisieren, den mal groben, mal feinen austausch zwischen aussen und innen, zärtlichkeit und abwehr. es sind wuchtige werke, die zu differenzierten überlegungen einladen wollen. einen verspielteren, leiseren zugang hat die zweite künstlerin gewählt, die in zürich wirkende obwaldnerin judith albert. ihre zeichnungen, in den treppenhäusern und im veloraum, wirken wie mit weisser kreide auf den sichtbeton gekritzelt, fröhlich-helle graffitis in den eher abweisend-dunklen räumen des sonst lichtdurchfluteten, grosszügigen, eleganten baus von antti rüegg (metron). doch es sind keine wandmalereien, sondern beamer-projektionen, die zu leben beginnen, sobald ein mensch sie quert; dann wandern die striche über haut und kleider. „streiflichter“ nennt judith albert sie sinnigerweise. sie setzte sich dafür in den xund-unterricht und zeichnete: blutbahnen, katheter, röntgenaufnahmen, messgeräte. nicht sie zieren jetzt aber die wände, sondern davon inspirierte abstrakte spielereien, die den medizinischen hintergrund nur noch ab und zu erahnen lassen. der bezug zum ort ist da, ganz fein schwingt er noch mit.    

Montag, 26. August 2019

LUZERN: IGOR LEVIT GEHT AUFS GANZE

alle mögen igor levit. weil er erstens ein sympathischer kerl ist, dem die leicht diabolischen züge der anderen jungen russischstämmigen piano-berserker abgehen. und weil er zweitens eine meinung hat, eine haltung, weil er nicht schweigt zu dingen jenseits der kunst. auch deshalb passt levit bestens zum diesjährigen lucerne festival mit dem generalthema „macht“. frage im programmheft: „könnten sie sich vorstellen, eine politische bewegung mit allen ihnen zur verfügung stehenden mitteln zu unterstützen?“ antwort levit: „auf jeden fall. zum teufel mit der künstlerischen neutralität! (…) doch natürlich muss ich die möglichkeit haben, auch wieder abstand zu nehmen, wenn mir das gebaren der mächtigen missfällt.“ als zugabe nach seinem zweiten rezital in luzern spielt levit paul dessaus „guernica“, eine bedrückende meditation über sinnlose zerstörung, inspiriert durch picassos gemälde, mit dem sich dieser gegen künstlerische gleichgültigkeit wehrte, wenn die höchsten werte der humanität und zivilisation auf dem spiel stehen. das ist ein signal, das ist levit. der mann geht aufs ganze, auch künstlerisch: alle 32 klaviersonaten von ludwig van beethoven spielt er dieses und nächstes jahr in luzern, ein kraftakt. doch es geht levit nicht um den effekt, er nimmt die töne in sich auf, hört ihnen nach, bringt den ganzen reichtum dieser klavierwerke zum klingen: verspieltes, verzehrendes, versehrtes, verwundertes, verklärtes. fünf sonaten sind‘s diesmal, von der aufmüpfigen in fis-dur (op. 78) bis zur melancholischen in es-dur („les adieux“, op. 81a). levits interpretation erbringt den beweis, wie viel intimität der grosse konzertsaal im kkl durchaus auch bieten kann, wie viel zartheit hier möglich ist. man wähnt sich bei igor im salon.

Freitag, 16. August 2019

AVIGNON: UN AUTRE MONDE

was für ein zauber, was für eine eleganz, was für eine sinnlichkeit. im fensterlosen dachboden der collection lambert in avignon trifft der besucher auf eine rote neonröhre. sie windet sich durch mehrere hintereinanderliegende kammern, wirkt schwebend, weil sie auf fast unsichtbaren plexiröhrchen ruht, wirkt endlos, weil eine nebelmaschine die konturen des langen raumes verschwinden lässt, wirkt magisch, weil gedimmte bassklänge durch den nebel wummern. eine rote, gewundene neonröhre. ist es eine grenze, eine flüchtlingsroute, eine lebenslinie, eine börsenkurve, die da im nichts verschwindet? ist dieses nichts der anfang oder das ziel? was verbindet diese linie, was trennt sie? «j’ai rêvé d’un autre monde» nennt der künstler claude lévêque das werk, das er für diesen ort geschaffen hat. eine rote neonröhre, die auf anhieb gefangen nimmt, fasziniert und zur kontemplation nicht nur einlädt, sondern geradezu verführt. man steht oder sitzt gebannt vor dieser schönheit und dieser schlichtheit und kann sich nicht sattsehen. un autre monde ist auch das museum an und für sich: die private collection lambert durfte sich mit staatlicher unterstützung in zwei prächtigen stadtpalästen einrichten, im innenhof ein von platanen beschattetes museumscafé. eine seitengasse nur von den grossen strömen der papstpalast-pilgerer entfernt findet sich hier eine ruhige insel der kunst, ein kraftort für geist und seele, un autre monde.    

Samstag, 20. Juli 2019

MÜNCHEN: FRAU KULJIĆ IST HERR SUBUTEX

„ich entschuldige mich für nichts und ich werde nicht jammern.“ klare ansage. was virginie despentes ihrer „king kong theorie“ vorangestellt hat, gilt auch für „das leben des vernon subutex“, ihr gigantisches gesellschaftspanorama, das sie rund um den bankrott gegangenen plattenhändler subutex entwickelt. einen mann als hauptfigur hat sich die radikalfeministin ausgedacht, damit der roman ernster genommen wird. diese taktik ist hundertprozentig aufgegangen. die münchner kammerspiele drehen das nun noch eine runde weiter und lassen den mann von einer frau spielen: jelena kuljić, ursprünglich jazzsängerin, ist eine top-besetzung für diesen subutex. mit ihrer dunklen stimme liefert sie den perfekten sound für diese milieustudie. die bühne, ihre bühne ist eine überdimensionierte vinylplatte, die all die randexistenzen ins zentrum spielt. rattenscharfe dialoge und witzig-abgründige soloeinlagen, düstere filmsequenzen und immer wieder musik schaffen eine dichte atmosphäre, die dieses leben zwischen gewalt und pornographie, zwischen xenophobie und cybermobbing verdaut und verarbeitet. szenenapplaus gibt´s für annette paulmann, die als clochard im motörhead-t-shirt und springmilbengilet herzergreifend adeles bond-song „let the sky fall“ schmettert. in diesem hervorragenden ensemble, das sie stützt und trägt, bleibt jelena kuljić das epizentrum, die starke figur, die bei allen existenzängsten nie die selbstachtung verliert. genau so ein mensch muss der autorin vorgeschwebt haben, als sie subutex im dritten band zum guru einer friedlichen weltverbesserersekte aufsteigen lässt. was für ein jahrmarkt der hoffnungen und abgründe. regisseur stefan pucher gelingt hier ein sehr vielschichtiger abend, musikalisch, poetisch, melancholisch, deprimierend. eine gefühlsgranate, fast wie in der oper.

Mittwoch, 17. Juli 2019

MÜNCHEN: WOLKEN.HEIM.

elfriede jelinek schrieb diesen text 1988. „wolken.heim.“ beschäftigt sich mit der deutschen romantik und damit, wie der deutsche idealismus ungebremst zum deutschen nationalismus führt. die deutsche seele leidet und kommt nicht zur ruhe. 1988 liegt 31 jahre zurück, würde man allzu gerne denken, doch dieses zeitzeugnis ist unvermindert aktuell, jelinek könnte dieses stück auch 2019 geschrieben haben. das macht den abend so beklemmend. regisseur matthias rippert, so alt wie der text, verteilt diesen im marstall des münchner residenztheaters auf fünf personen. in einem sterilen grauen und grell ausgeleuchteten wartesaal arbeiten sich die fünf ausschliesslich grau gekleideten an jelineks wortmonster ab. ab und zu öffnen sie hinten zwei türen, dort glüht und lodert es. die hölle? die zukunft? der deutsche wald? angesichts dieser ungewissheiten versuchen sich die grauen mäuse ihrer identität zu vergewissern, sehr viel „wir“ lässt da sehr wenig platz für die anderen. „wir brauchen nur uns.“ oder: „wir haben nicht die einheit ausser uns, wir haben sie gefunden.“ oder: „der geist ist das bei sich selbst sein. wie wir. wie wir.“ hölderlin und kleist, heidegger und die raf-terroristen haben jelinek material geliefert – material für all die dummen, all die geifernden, all die gefährlichen. ob sie einen schuhplattler hinlegen oder blutverschmiert aus dem krieg heimtorkeln, immer dampft alles von überlegenheit und überheblichkeit. auch wenn oder gerade weil es, das gelingt der regie und den fünf schauspielern ganz ausgezeichnet, so beiläufig daherkommt. die dummen biedern sich bei den geifernden an, die gefährlichen bei den dummen. und ja, es bleibt kein deutsches phänomen, dieses falsch verstandene wir-gefühl.

Freitag, 5. Juli 2019

GISWIL: GROSSE REINIGUNG

ganz knapp haben wir’s unter das grosse zelt im gsang bei giswil geschafft. dann entlädt sich ein mordsgewitter. es prasselt aufs zeltdach, dass man kaum sein gegenüber versteht. mehr prasseln geht gar nicht. mehr hält das zelt nicht aus. denkt man. und dann knallt wieder ein donner und es prasselt noch mehr. ein apokalyptischer einstieg in die 14. ausgabe des volkskulturfests „obwald“.  nach dem aperoplättli ist die atmosphäre rund um den sarnersee keimfrei gereinigt und pünktlich zum konzertbeginn scheint die sonne in die bäume hinter der bühne. jetzt beginnt das mazaher ensemble aus ägypten mit der spirituellen reinigung. wie eine hohepriesterin steht die 68jährige sängerin om sameh auf der bühne, setzt mit ihrer tiefen stimme, sterotypen tanzschritten und tranceartigem trommeln zur veränderung unseres bewusstseinszustandes an. die traditionelle zar-musik will uns mit den geistern und mit uns selbst versöhnen. wäre da nicht ab und zu ihr schelmisches augenzwinkern in die vordersten reihen, könnte einen glatt die angst packen vor dieser dunkel-diabolischen ägypterin. so aber sind wir der inneren harmonie schon wieder einige takte näher – und bereit für den ersten naturjuiz mit einer obwaldner formation, die genau so tönt wie sie heisst: heiterluft. das absolute highlight des abends ergibt sich dann aus der kombination der appenzeller streichmusik vielseitig (fünf junge mädels) mit dem ägyptischen tarab quintett (fünf ältere herren), die sich tags zuvor erstmals begegnet sind. beide mit einem hackbrett im zentrum, beginnen sich die zehn musikalisch subtil zu umgarnen, mal dominiert nordafrika, mal die ostschweiz, pure spiellust führt zu faszinierenden klangwelten und einer rasenden standing ovation. gewitter, gesänge, glücksgefühle – reinigung komplett gelungen.